# taz.de -- 300.000 Israelis bei Sozialprotesten: "Marschiert wie die Ägypter"
       
       > Israel in Aufruhr: In Tel Aviv hat die größte Kundgebung gegen soziale
       > Missstände in der Geschichte des Landes stattgefunden. Ministerpräsident
       > Netanjahu zeigt sich kompromissbereit.
       
 (IMG) Bild: Massendemonstration gegen soziale Misstände im Zentrum Tel Avivs.
       
       TEL AVIV dpa/afp | Seit Wochen wächst in Israel die Zahl der Menschen, die
       gegen hohe Mieten und andere Missstände auf die Straße gehen. Tel Aviv
       erlebte nun am Samstag die bislang größte Kundgebung gegen soziale Probleme
       in Israel. "Das Volk will soziale Gerechtigkeit" und "Schluss mit dem
       Raubtier-Kapitalismus", skandierten etwa 250.000 Teilnehmer. Auch in
       anderen Orten gab es Demos, 300.000 Menschen sollen sich insgesamt
       beteiligt haben - immerhin jeder 25. der 7,8 Millionen Israelis. Zunächst
       hatten Medien sogar von 350.000 Teinehmern berichtet.
       
       Oft ist vom "arabischen Frühling" die Rede, der einen "israelischen Sommer"
       ausgelöst habe. Und vereinzelt waren bei der Großkundgebung am Samstag in
       Tel Aviv Plakate wie "Marschiert wie die Ägypter" oder - an die Adresse des
       konservativen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu gerichtet - "Tritt
       zurück, Ägypten ist da" zu sehen.
       
       Netanjahu gab sich am Sonntag im staatlichen Rundfunk kompromissbereit:
       "Wir können das Ausmaß der sozialen Proteste nicht ignorieren. Wir wissen,
       dass wir Änderungen vornehmen müssen." Er kündigte die Bildung einer
       Sonderkommission an, die sich unter der Leitung des Ökonomen Manuel
       Trachtenberg mit den Forderungen der Protestbewegung auseinandersetzen
       solle. "Wir wollen einen richtigen Dialog aufbauen und jeden zu Wort kommen
       lassen, der Lösungen vorzutragen hat - auch wenn wir nicht alle Forderungen
       erfüllen können."
       
       ## Volksfeststimmung mit Streifenpolizisten
       
       Aber anders als im Nachbarland Ägypten oder gar in Libyen oder Syrien geht
       es in Israel nicht um den Sturz der Regierung. Und niemand muss sein Leben
       riskieren, nur weil er gegen die Regierung demonstriert. Die Atmosphäre
       gleicht eher einem Volksfest, wo sich Eltern mit Kinderwagen durch die
       Massen drängeln, gesungen und gelacht wird und höchstens ab und an ein paar
       verloren wirkende Streifenpolizisten zu sehen sind. Keine
       Bereitschaftspolizei, keine Wasserwerfer, von Soldaten oder Panzern ganz zu
       Schweigen.
       
       "Es ist gut, dass die Israelis endlich aus ihrer Lethargie erwacht sind",
       sagt der 65-jährige Ben. Er ist mit seiner Schwiegertochter zur Demo in Tel
       Aviv gegangen. "Mir selbst geht es gut, dieses Land ist wundervoll. Aber
       die Jungen haben es schwer, und deshalb unterstütze ich sie, indem ich hier
       demonstriere", fügt er hinzu. Die Protestbewegung sei nicht politisch in
       dem Sinne, dass sie einen Sturz Netanjahus wolle. Das sei eher eine
       Minderheit, ist er überzeugt.
       
       Am besten fasst vielleicht der Vorsitzende der Studentenunion, Itzik
       Schmueli, die Stimmung zusammen. "Wir, die Studenten, die Jugend, sind
       hier, um deutlich zu machen: wir haben die Kraft zur Veränderung". Es gehe
       nicht um den Sturz der gewählten Regierung, sondern um das Ende des
       "grausamen Wirtschaftssystems". "Wir fordern eine menschliche statt eine
       Raubtierwirtschaft", sagt er unter tosendem Beifall der Teilnehmer der
       Großkundgebung in Tel Aviv. Das Land bedürfe einer gemeinsamen
       Kraftanstrengung, um soziale Lücken zu schließen und die Grundbedürfnisse
       der Bürger zu befriedigen.
       
       ## Breites Spektrum an Forderungen
       
       Auslöser der Proteste waren fehlende Wohnungen und die immens hohen Mieten
       in Tel Aviv, die sich viele Menschen nicht mehr leisten können. Inzwischen
       sind die Forderungen vielfältiger geworden, die einen fordern eine bessere
       Gesundheitsversorgung, andere wollen das Bildungssystem reformieren oder
       Steuern senken.
       
       Obwohl viele Demonstranten Netanjahu kritisieren, könnten ihm die sozialen
       Proteste nützen, schrieb die liberale Zeitung Haaretz. Bis zu den nächsten
       Wahlen 2013 bleibe ihm noch genügend Zeit, auf die sozialen Forderungen
       einzugehen. "Viel mehr Wohnungen, dann geht der Preis runter, richtig?
       Dieses Gesetz wird das Land in den nächsten eineinhalb Jahren mit Wohnungen
       überschwemmen", zitierte ihn das Blatt nach der Verabschiedung eines
       Gesetzes für Wohnungsbau. Und sollte sich der Konflikt mit den
       Palästinensern wieder verschärfen, würden die sozialen Probleme ohnehin
       schnell wieder in den Hintergrund geraten. Und aus Israel wieder die
       "normalen" Schlagzeilen kommen
       
       7 Aug 2011
       
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