# taz.de -- Konfliktforscher über die britischen Riots: Verkehrsregeln der Randale
       
       > Wie lassen sich Krawalle von Massakern unterscheiden? Was ist ihre
       > Vorgeschichte? Und wieso sind ähnliche Vorkommnisse in Deutschland
       > unwahrscheinlich?
       
 (IMG) Bild: Die Plünderphase dauert normalerweise vier bis fünf Nächte.
       
       Angesichts der Bilder aus den englischen Städten fragt man sich, ob es
       solche Randale mit Toten und Verletzten schon früher gab. Schließlich
       verstört uns auch, dass wir "ganz normale Leute" sehen, die sich an den
       Krawallen und auch am Plündern beteiligen. Und dabei ganz entspannt
       lächeln.
       
       In der Gewaltforschung unterscheidet ethnisch bedingte Massakern von
       Krawallen (riots). Letztere Gewalt geht häufig von benachteiligten
       Minderheiten aus. Massaker ereignen sich, weil aufs höchste gesteigerter
       Hass die Opfer "entmenschlichen" (Fachausdruck: dehumanisieren) kann und
       diese sich nicht wehren wollen oder können. Der Holocaust, die türkischen
       Verbrechen an den Armeniern, das Massaker von Nanking im
       Japanisch-Chinesischen Krieg, die ethnischen Säuberungen und
       Kriegsverbrechen auf dem Balkan oder in afrikanischen Regionen sind
       grauenhafte Mahnmale einer entgrenzten menschlichen Destruktivität.
       
       "Rassenkrawalle" beginnen fast immer damit, dass Polizisten Menschen aus
       sozial schlecht gestellten Minderheiten misshandeln oder töten, also durch
       eine deutliche Wahrnehmung von Polizeibrutalität auf Seiten der
       Minderheiten. So wie im Fall von Rodney King, als Polizisten in Los Angeles
       auf einen am Boden liegenden Afroamerikaner einprügeln und vor Gericht
       freigesprochen werden. Auch bei der Randale in den französischen Vorstädten
       im letzten Jahrzehnt, hier ist der Tod von Jugendlichen durch polizeiliche
       Ignoranz der Anlass.
       
       Nach dem auslösenden Vorfall werden Brände gelegt, manchmal Barrikaden
       gebaut und Polizisten, je nach Land auch die Nationalgarde, werden
       angegriffen. Es gibt Tote und Schwerverletzte. Am Rande der Ereignisse
       beginnen Gruppen, dann auch Individuen, zu plündern.
       
       Plünderungen, anders als Brandstiftungen, geschehen im Rahmen der
       Ausschreitungen auf massenhafter Basis. Plündern ist ein Akt der
       verbreiteten Missachtung von Obrigkeit, es ist eine relativ risiko- und
       konfrontationsarme kriminelle Tätigkeit, und dadurch, dass Eigentum bereits
       beschädigt ist, sinkt die Hemmschwelle, so der Soziologe Randall Collins in
       seinem lesenswerten Buch "Dynamik der Gewalt" (2011).
       
       ## Plünderungen in Partyatmosphäre
       
       Die Plünderphase – häufig in Kombination mit gelegten Bränden – dauert vier
       bis fünf Nächte. Danach kann aufgeräumt, der Schaden kann geschätzt und
       Programme für die Geschädigten können aufgelegt werden. Die Toten werden
       beerdigt, Verletzte werden behandelt.
       
       Massaker kosten Zehntausenden das Leben, es wird auf Routinebasis gemordet
       und vergewaltigt. Plünderungen hingegen geschehen in der Nachfolge von
       Krawallen in Partyatmosphäre, sind eine Rausch- und Bereicherungschance und
       eine moralische Auszeit. Besitzverhältnisse und das Sanktionsvermögen der
       Kontrollkräfte haben Pause.
       
       Sind erst einmal die Sicherungsgitter zerstört und die Scheiben
       eingeschlagen, dann geht das Plündern einigermaßen geordnet vor sich. Man
       greift die Mitplünderer nicht an, stellt sich brav in die Reihe, wartet bis
       man dran ist, und greift ab, was man kann. Man hält sich also untereinander
       an zivile "Verkehrsregeln". Es gibt keine sexuellen Übergriffe. Viele
       erwischte Plünderer sind unbescholtene Mitbürger, sie stammen nicht aus den
       benachteiligten Minderheiten, haben keinen Anlass für Wut auf die
       Obrigkeit. Und sie nehmen häufig Sachen an sich, die sie gar nicht
       gebrauchen können.
       
       Das Beispiel des New Yorker Blackout (1977) zeigte, dass sich beim Plündern
       und Brandschatzen nach einem Stromausfall ähnliche Muster abbilden wie bei
       den "Rassenkrawallen". Erst treten professionelle Kriminelle auf die Szene,
       dann Jugendgangs, dann Bürgerinnen wie du und ich. Vor dem Fernseher
       wundert man sich. 550 Polizisten werden verletzt, 4.500 Plünderer werden
       festgenommen.
       
       In den englischen Städten gab es jetzt ähnliche Muster, es starben fünf
       Menschen. Bei den Aufständen in Detroit (1967), die gleichfalls vier bis
       fünf Tage dauerten, starben 43 Menschen, es gab fast 1.200 Verletzte. In
       Newark (auch 1967) wurden 23 Menschen getötet und 725 verletzt. Die
       schweren Ausschreitungen in L.A. (1992) forderten 53 Menschenleben und
       Tausende Verletzte.
       
       Es sind die bewegten Bilder vom Geschehen, die uns Flammen, Zerstörung und
       Plündern als Partyatmosphäre vorführen, und das muss uns selbstverständlich
       verstören. Solche Bilder gab es 1967 und auch 1977 noch nicht. Schon gar
       nicht auf YouTube, beliebig abrufbar auf dem Notebook oder iPad.
       
       Die englische Oberklasse und konservative Machtallianz beunruhigt das Ganze
       natürlich noch mehr. England unter Cameron kann wie Frankreich unter
       Sarkozy nach wie vor als Klassengesellschaft bezeichnet werden: Man gehört
       vor allem dann nicht dazu, wenn man die falsche Hautfarbe oder den falschen
       Familiennamen hat, denn bei der Jobsuche oder der Polizeikontrolle nützt
       auch der richtige Pass nicht viel. Man ist Staatsbürger dritter Klasse.
       Junge Männer und Frauen finden keine Arbeit.
       
       ## Das brutale Erbe der Kolonialzeit
       
       Das ist das Antlitz des Rassismus, das Erbe der kolonialen Grandiosität,
       der Überlegenheit der weißen "Rasse", ihres Militärs und ihrer Polizei. Es
       sitzt im französischen, englischen wie – sklavereibedingt – im
       amerikanischen Nationalbewusstsein wie Karies in einem faulen Gebiss. Nicht
       sichtbar, aber laufend Zerstörung hinterlassend.
       
       Wir haben in unserem Land diskriminierte Minderheiten, jede Menge sogar,
       Benachteiligung im Bildungssystem, auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt. Auf
       die Frage, ob solche Krawalle mit Brandstiftung und Plünderorgien "auch bei
       uns" passieren könnten, reagieren Experten wie Politiker eher besonnen.
       Ausnahme in den Interviews dieser Tage ist ein Polizeigewerkschaftler, für
       den das alles bereits deutsche Realität ist. Er sollte künftig bei
       Interviews zerrissene Schutzkleidung tragen und sich mit brandgeschwärztem
       Gesicht zeigen, um seine Glaubwürdigkeit wenigstens minimal zu steigern.
       
       Wer in Köln-Nippes oder den entsprechenden Einwanderervierteln in Mannheim
       oder Berlin an türkischen Läden Feuer legt, wird mit Ladenbesitzern und
       ihrer auch deutschstämmigen Kundschaft aneinandergeraten, vielleicht sogar
       bevor die Polizei eintrifft. Wir haben viele Integrationsprobleme, aber sie
       sind anders als die der Briten und Franzosen. Und momentan tut sich die
       deutsche Politik weder durch "Dirty Harry"-Gehabe noch durch Vorschläge vom
       "Auskärchern" der Problemzonen hervor.
       
       Nicolas Sarkozy, der als Innenminister die bevölkerungsnahe Polizeiarbeit
       in den Vorstädten abgeschafft hat, wird vermutlich nicht als der große
       Dampfreiniger der sozialen Probleme, sondern – was die Vorstädte angeht –
       als erfolgloser Dampfplauderer in die Geschichte eingehen. Der britische
       Premierminister David Cameron folgt in seinen Fußstapfen, wenn er die in
       Großbritannien ohnehin hohe Strafbegeisterung weiterhin anstachelt.
       
       14 Aug 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Joachim Kersten
       
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