# taz.de -- Debatte Lumpenproletariat: Produkt des Sittenverfalls
       
       > Marx sprach vom "Lumpenproletariat". Die britische Elite spricht von
       > "Kriminellen", wenn sie die Randalierer in den Städten meint. Beide
       > machen es sich zu einfach.
       
 (IMG) Bild: Der "Lumpenmann" geht um in Hackney/London.
       
       Man glaubt sich unversehens ins 19. Jahrhundert zurückversetzt, in die Zeit
       der Angst vor der "ruchlosen Masse". Für David Cameron sind die Plünderer
       und Brandschatzer in Englands Großstädten einfach Pöbel. Nach Gründen
       suchen? Überflüssig. "Das ist", so Cameron, "schlicht und einfach Gewalt,
       der wir entgegentreten und der wir ein Ende bereiten müssen." Es geht um
       "pure Kriminalität".
       
       Artikulierter sozialer Protest war bei den Unruhen tatsächlich nicht
       sichtbar. Die Randalierer gehörten zur Unterschicht, entstammten aber
       keinem einheitlichen Milieu. Politische Motive sind nicht auffindbar.
       Vergeblich wird man nach der Spur von Ideen fahnden, die aus dem Umkreis
       des Anarchismus stammen und zur Umverteilung durch Go-ins in die
       Konsumpaläste der Reichen oder gar deren Brandschatzung aufrufen.
       
       Zwar war, wie häufig, der Anlass eine Polizeiaktion mit Todesfolge, aber
       die Randalierer gingen der Polizei förmlich aus dem Weg. Also doch nur
       "pure Kriminalität"? Der Erklärungsgrund für "pur" beruht auf der
       Tautologie, wonach die Kriminalität aus der Begehung von Straftaten
       resultiert.
       
       Um etwas tiefer zu schürfen, entfachen die britischen Konservativen jetzt
       eine Debatte über den Werteverfall in der Gesellschaft. Und einige der
       rechten Kritiker gehen sogar so weit, die britische Machtelite anzuklagen,
       weil sie es versäumt habe, der Bevölkerung ein Vorbild zu sein.
       
       Tatsächlich haben die Engländer gerade in den letzten Wochen mit dem
       Murdoch-Skandal ein Panorama des Sittenverfalls bei ihren Eliten miterleben
       können. Aber wie lässt sich außer allgemeinen Jeremiaden über die
       Herrschaft des Geldes die Kriminalität an der Spitze der Gesellschaft mit
       der an seiner Basis in Verbindung bringen?
       
       Traditionell werden von der Linken gesellschaftliche Gründe für Krawalle
       und Gewaltexzesse in Stellung gebracht. In linearer Ableitung versagen
       Erklärungsversuche, die die jüngsten Krawalle unmittelbar als sozialen
       Protest der Unterschichten sehen. Genauer verfahren Untersuchungen, die die
       sozialen Beziehungen innerhalb der "Unterschicht" in den Blick nehmen.
       
       Sie zeigen uns einen rapiden Verfall bislang allgemein akzeptierter
       Verhaltensweisen. Der normative Kitt, der die Gesellschaft über
       Klassengrenzen hinweg zusammenhält, bindet nicht mehr. Ein Leben nach
       festen moralischen Regeln würde voraussetzen, dass man es auf halbwegs
       funktionierende Weise bewältigen kann. Doch die Verhältnisse, sie sind
       nicht so.
       
       ## Die kriminelle Innovation
       
       Der amerikanische Soziologie Robert Merton hat diese um sich greifende
       Gesetzlosigkeit, diese "Anomie" im Hinblick auf die Kriminalität
       untersucht. In der von ihm entwickelten Typologie sieht er Kriminalität
       dort entstehen, "wo jemand, weil er die von ihm erstrebten Ziele mit
       legalen Mitteln unter den vorherrschenden gesellschaftlichen Bedingungen
       nicht erreichen kann, zu illegalen Mitteln greift, um zum Ziel zu kommen".
       
       Er nennt dies "Innovation". Die Innovatoren teilen mit den "Konformisten"
       bei Merton die Ziele: etwa den Wunsch nach einem guten Leben. Sie lehnen es
       aber ab, sich bei der Verfolgung dieser Ziele auf legale Mittel zu
       beschränken. Die Wirksamkeit der kriminellen "Innovatoren" bemisst sich
       nach ihrem Erfolg, die anomische Basis in der Bevölkerung zu erweitern,
       neue Anhänger gesetzlosen Handelns zu gewinnen.
       
       Dies geschieht umso leichter, wenn der Konformitätsdruck, sich "anständig"
       (so Camerons Forderung) zu verhalten, dadurch nachlässt, dass bei den
       Eliten selbst Kriminalität grassiert - und die Täter ungestraft
       davonkommen. Kriminelle aus der Elite dienen Plünderern und Brandschatzern
       zur Rechtfertigung, wenn nicht sogar zum Vorbild.
       
       Wie stabil ist die Gruppe der gesetzlosen "Inovatoren"? Für Marx und Engels
       wäre die Sache klar gewesen: Sie erfanden die Kategorie des
       "Lumpenproletariats" zu ihrer Charakterisierung - und die war drastisch.
       Lumpenproletariat war für sie der "Auswurf, Abfall, Abhub aller Klassen".
       
       Das sind nach Marx "Leute ohne bestimmten Arbeitszweig, Herumtreiber,
       dunkle Existenzen, nie den Tagesdiebcharakter verleugnend". Mag sein, sagt
       er, dass das Lumpenproletariat zum Teil "in die proletarische Bewegung
       hineingeschleudert wird, aber es wird bereitwilliger sein, sich zu
       reaktionären Umtrieben erkaufen zu lassen".
       
       ## Keine Unterschichtentruppe
       
       Dem Lumpenproletariat steht nach Marx und Engels eine disziplinierte
       kampfstarke Arbeiterbewegung gegenüber. Sie ist der Antagonist und
       Totengräber der Bourgeoisie. Die Arbeiterbewegung verkörpert die Zukunft,
       das Lumpenproletariat ist nur ein Fäulnisprodukt der niedergehenden
       bürgerlichen Ordnung.
       
       So stellte es sich den "Klassikern" dar, aber welchen Erklärungswert hat
       heute, nach dem Niedergang der organisierten Arbeiterbewegung, noch die
       Kategorie "Lumpenproletariat"?
       
       Bei Marx und Engels ist der Begriff polemisch gegen die Anarchisten
       zugespitzt: kein Bündnis mit den Lumpenproletariern, wie es Bakunin
       fordert. Marx zählt mit geradezu liebevoller Akribie die Gruppen von Lumpen
       auf, vom verkrachten Lebemann über Gaukler bis zu Scherenschleifern (nicht
       zu vergessen: die Literaten) und betont damit die Heterogenität des
       Lumpenproletariats, seine Distanz zur Arbeiterklasse.
       
       Deshalb ist er nicht willens, die engen Beziehungen zur Kenntnis zu nehmen,
       die zwischen der Arbeiterklasse und dem Lumpenproletariat bestanden. Seine
       Schlussfolgerung: Man muss sich diese Bande vom Hals halten. Den Rest wird
       die Revolution besorgen. Doch die ist leider ausgeblieben.
       
       So unrecht Marx und Engels mit ihrem generellen Verdammungsurteil hatten,
       so recht hatten sie, wenn sie die Vielfältigkeit, die "Buntheit" des
       lumpenproletarischen Milieus hervorzuheben. Das gilt auch heute. In London
       und anderen Großstädten hat keine Gang zugeschlagen, keine homogene
       Unterschichtentruppe.
       
       Viele der kriminell Gewordenen leben unter einem Dach mit Leuten, die eine
       geregelte Arbeit haben. Die grassierende Anomie ruft in den armen Vierteln
       individuelle wie kollektive Gegenwehr hervor. Anomie ist ansteckend. Aber
       Solidarität ist es auch.
       
       19 Aug 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Christian Semler
       
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