# taz.de -- Proteste in Syrien: Jugend auf der Flucht
       
       > Bassam, Omar, Reema und Rami sind gut ausgebildet und ohne Arbeit. Wer
       > kann, geht weg aus Syrien. Wer bleibt und rebelliert, riskiert sein
       > Leben.
       
 (IMG) Bild: Omar geht mit seiner Freundin Hanna nach der Hochzeit nach Schweden – alles sei besser als Syrien, sagt er.
       
       DAMASKUS taz | Vorsichtig, fast lautlos zieht Rami* die Rollläden seiner
       kleinen Werkstatt herunter. In den letzten Tagen wurden hier in al-Jarmuk,
       dem etwas außerhalb von Damaskus gelegenen palästinensischen
       Flüchtlingsviertel, wahllos Menschen verhaftet. Es ist also besser, nicht
       aufzufallen. "Sie kommen immer so gegen 16 Uhr, also genau um diese
       Uhrzeit", sagt Rami und setzt sich auf eine alte Holzkiste.
       
       Nach seinem Studium als IT-Berater konnte der 24-Jährige keinen Job finden.
       Wie so viele in seinem Alter. Knapp die Hälfte der syrischen Bevölkerung
       ist unter 25 Jahre alt. Einen guten Job bekommt man nur über Beziehungen.
       Die hat Rami nicht. Er lebt, der günstigen Miete wegen, zusammen mit seiner
       Mutter und dem kleinen Bruder im Palästinenserviertel. Hier befindet sich
       auch seine Werkstatt, in der er Einzelteile für die benachbarte
       Autowerkstatt anfertigt.
       
       Gemeinsam mit Freunden reimt er in der wohl berühmtesten syrischen
       Rap-Formation Laji'i al-Rap. Zwei Syrer, zwei Palästinenser. Alle aus
       al-Jarmuk. "Laji'i al-Rap" heißt "Flüchtlings-Rap". Das arabische Wort
       Laji'i bedeutet Flüchtling - aber ebenso Zuflucht.
       
       Mit seinem langen T-Shirt, den tief sitzenden Jeans, den hellen Haaren und
       grünen Augen erinnert Rami stark an Eminen aus dem Film "8 Mile". Anfangs
       habe er sich tatsächlich an amerikanischen Vorbildern orientiert, erzählt
       er. Doch bald war klar, dass Laji'i al-Rap ihren eigenen Weg gehen mussten.
       Weil sie ihre eigenen Geschichten haben, ihre eigene Sprache und ihre
       eigenen Probleme. Er bläst die Backen auf und fängt an zu beatboxen. Dann
       rappt er. Über sein Leben, das Viertel, die Verantwortung, die er für
       seinen kleinen Bruder trägt, nachdem der Vater früh verstorben ist. "Der
       Rap ist für mich eine Flucht in eine andere Welt", sagt er.
       
       Langsam wird es dunkel. Die meisten der umliegenden Werkstätten sind
       mittlerweile geschlossen. Rami beschleunigt seinen Schritt Richtung
       Hauptstraße. Dort stoppt er einen kleinen Mikrobus in die Altstadt. Oft
       fährt er nicht ins Zentrum von Damaskus, doch heute heiratet sein Freund
       Omar*.
       
       ## Rausheiraten
       
       Der Palästinenser Omar lernte seine schwedische Freundin Hanna vor einem
       halben Jahr kennen. Sie sagt: "Es war Liebe auf den ersten Blick." Ihre
       Eltern ließen sich entschuldigen, der Vater ist krank. Dafür ist Omars
       gesamter Clan angetreten. Sie sitzen an den langen Tischen eines
       Altstadtlokals. Als ein Sänger arabische Gassenhauer anstimmt, hält es
       niemanden auf den Stühlen. Die ganze Hochzeitsgesellschaft tanzt, stampft
       und hüpft um das Paar herum.
       
       Nebenan findet das obligatorische Fotoshooting statt. Omar beobachtet
       amüsiert, wie Hanna von der Fotografin herumkommandiert wird. "Ich kann
       nicht glauben, dass wir das alles mitmachen", sagt er lachend.
       Normalerweise hätte er gegen solche Traditionen opponiert. Wie er gegen
       alles opponierte.
       
       Sein Vater, ein Architekt, wurde mit dem Alter immer religiöser. Vor zwei
       Jahren verordnete er seiner mittlerweile 50-jährigen Frau das Kopftuch und
       verbot den Töchtern, abends aus dem Haus zu gehen. Auch Omars Vorstellungen
       vom Leben passten dem 60-Jährigen nicht. Er schmiss ihn raus.
       
       Nun ist der Streit begraben. Der verlorene Sohn geht nach Europa. Das war
       schon immer Omars Traum. "Ich habe so viele Freunde aus Europa, die hier
       Arabisch studieren", sagt er. "Mir gefällt, was sie mir vorleben."
       Inzwischen steht die Verwandtschaft Schlange, um mit dem Brautpaar
       abgelichtet zu werden. Wenn diese Bilder in ein paar Wochen bei Omars
       Eltern an der Wand hängen, wird das Paar schon in Schweden sein.
       
       "Eigentlich kann ich mir vorstellen, überall zu leben", sagt Omar.
       "Überall, bloß nicht in Syrien." So denken viel junge Syrer. Trotz
       Universitätsabschluss arbeiten sie in schlechtbezahlten Jobs ohne
       berufliche Perspektive. Viele haben erst gar keinen Job. Verlässliche
       Zahlen gibt es nicht. Das Amt für Statistik behauptet, dass die
       Arbeitslosenquote bei 8 Prozent liegt. Die inoffizielle Schätzung rangiert
       bei 40 Prozent.
       
       Da es kein offizielles Netz sozialer Sicherheiten gibt, müssen viele
       Jugendliche auf das informelle System zurückgreifen: auf die Familie, die
       lokale Gemeinschaft oder religiöse Einrichtungen. Will beispielsweise ein
       junger Mann heiraten und eine Familie gründen, so muss er ein dem Stand
       seiner zukünftigen Frau angemessenes Brautgeld hinlegen. Durchschnittlich
       100.000 Syrische Pfund (SYP), knapp 1.500 Euro. Bei einem
       durchschnittlichen Einkommen von 150 Euro ist es für die Mehrzahl der
       jungen Syrer unmöglich, diese Summe aufzubringen.
       
       Syriens Gesellschaftssystem basiert auf Korruption, mit Auswirkungen auf
       Wirtschaft, Armee, Justiz und Verwaltung. Das hat auch Omar zu spüren
       bekommen, als er sich vor einem Jahr für einen gutbezahlten Posten bei der
       UN-Organisation UNHCR beworben hat. Ganze 3.000 Dollar, drei komplette
       Monatsgehälter, verlangte die syrische Angestellte in der Personalabteilung
       von ihm, damit er den Job bekommt. Er lehnte ab.
       
       ## Ohne Know-how
       
       Wer kann, geht weg. In den benachbarten Libanon, nach Jordanien, in die
       Vereinigten Arabischen Emirate. Manche versuchen über einen Studium nach
       Europa zu gelangen. Andere heiraten, so wie Omar. Der hatte anfangs sogar
       auf Präsident Baschar al-Assad gesetzt. Jetzt hofft Omar auf ein baldiges
       Ende des Regimes: "Jemand muss denen mal sagen, dass sie nur Angestellte
       sind und keine Monarchen."
       
       Während seine Braut Hanna sich in Zeichensprache mit ihrem Schwiegervater
       verständigt, sitzt nur einen Steinwurf weit entfernt die junge Reema* in
       einem Straßencafé. Sie wartet auf ihren Freund Bassam*.
       
       Reema sieht müde aus und wippt mit ihren langen Beinen unruhig auf und ab.
       Ihre Hose ist kurz. Die Männer schauen sie an. Doch sie beachtet sie nicht.
       Die 26-jährige Mitarbeiterin einer internationalen Organisation passt nicht
       in das westliche Klischee von arabischen Frauen. Zudem ist sie eine
       Alawitin. Die schiitische Minderheit in dem Vielvölkerstaat, die die
       Machtelite stellt. Letzte Woche wurde Reemas Freundin Yara* verhaftet.
       Keiner hat sie gesehen, keiner hat etwas gehört.
       
       Dann kommt endlich Bassam. Reema scheint erleichtert. Die beiden sprechen
       so leise, dass sie Mühe haben, einander bei der Geräuschkulisse zu
       verstehen. Es ist kurz vor Mitternacht, aber um sie herum sind noch alle
       Tische belegt. Das ist an sich nichts Besonderes im Ramadan. Nach dem
       gemeinsamen Fastenbrechen am Abend zieht es die jungen Leute raus in die
       belebten Viertel von Damaskus.
       
       "What if I disappear? Will you look for me?" Das hat Reemas Freundin Yara
       sie neulich gefragt. Einfach so, aus dem Nichts heraus. Reema und Bassam
       sind aktiv im Untergrund und organisieren seit Monaten den zivilen
       Widerstand gegen das Regime. Der Dokumentarfilm "Bringing down a Dictator"
       hat sie inspiriert. Nicht große Demonstrationen, kleine ausgeklügelte
       Aktionen zivilen Ungehorsams sind ihre Strategie.
       
       ## Bloggen, twittern und posten
       
       Der Kontakt zu den anderen Mitgliedern ihrer Gruppe entstand über Facebook.
       Kaum Privates voneinander wissend, haben sie sich in mehrere kleine Gruppen
       aufgeteilt. Jede Gruppe mit einem anderen Schwerpunkt. Reema leitet die
       Mediengruppe. Sie drucken Flugblätter und Plakate, sprühen Parolen, basteln
       Buttons, sie bloggen, twittern und posten.
       
       Reema dreht sich verstohlen um. "Der Mukhabrat ist überall", sagt sie und
       spricht auf Englisch weiter. Englisch können die meisten Spitzel des
       berüchtigten Geheimdienstes nicht. Auch die Medien der syrischen Jugend
       sind ihnen fremd. Als Reema neulich einen Freund in Douma, einem der
       Unruheviertel von Damaskus, besuchen wollte, geriet sie in eine
       Straßensperre. "Was ist das?", fragte ein Soldat. "Ein Laptop", antwortete
       Reema. "Hat er auch Facebook?", fragte der Soldat weiter. "Nee", entgegnet
       Reema und wurde promt durchgelassen. "Eigentlich tun die Soldaten mir
       leid", sagt sie. Denn in der Armee landet nur, wer entweder keine
       Beziehungen hat oder kein Geld.
       
       Bassam hat gerade einen VPN-Server aufgesetzt, einen sicheren Tunnel zu
       einem europäischen Server. Im April gingen noch Gerüchte um, dass der
       Geheimdienst, mit iranischer Hilfe, massiv die Internetüberwachung
       aufrüsten würde. Aus Berichten von vorübergehend Verhafteten und
       Mitarbeitern von Internetprovidern wurde schnell klar, dass dem
       Geheimdienst das Know-how fehlt.
       
       Zu dieser Hilflosigkeit passt, dass das Regime wahllos Menschen verhaftete,
       um sie einzuschüchtern. Seit einigen Wochen verschwinden nun auch gezielt
       Aktivisten. Reemas Freundin Yara wurde verhaftet, als sie in der
       Morgendämmerung stoßweise Flugblätter gegen das Regime verteilte. Viele
       Aktivisten sind untergetaucht. Sie gehen nicht mehr arbeiten und wechseln
       wöchentlich die Wohnung.
       
       Auch Reema ist schon einmal verhaftet worden. Nach fünf Tagen wurde sie
       wieder freigelassen. Die Erinnerungen an die Haft lassen sie nicht los.
       Manchmal muss ihr Bruder kommen, damit sie einschlafen kann. Und dann
       schläft sie doch nur drei Stunden.
       
       Bisher hinderte Reema ein Travel Ban daran, ins Ausland zu gehen. Kürzlich
       erhielt sie von ihrem Arbeitgeber ein lukratives Angebot für eine Position
       in der Türkei. Aber jetzt sagt Reema: "Revolutionen passieren nur einmal im
       Leben." Und fügt hinzu: "Ich kann jetzt nicht einfach abhauen. Alles, was
       kommt, ist besser als das, was wir jetzt haben."
       
       * Alle Namen geändert
       
       1 Jan 1970
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Anja Pietsch
       
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