# taz.de -- Als Rot-Grün Berlin regierte: Lehrjahre des Krötenschluckens
       
       > Die "Jahrhundertchance", die Christian Ströbele im ersten rot-grünen
       > Senat Berlins sah, währte gerade mal 22 Monate.
       
 (IMG) Bild: Hier endete das rot-grüne Regierungsexperiment 1990: Barrikade in der später geräumten Mainzer Straße in Berlin-Friedrichshain.
       
       Die Alternative Liste für Demokratie und Umweltschutz (AL) in Westberlin
       hielt sich im grünen Spektrum der 80er Jahre für etwas Besonderes und war
       es auch. Hier waren die radikaldemokratischen Impulse viel stärker als bei
       den Grünen in der Bundesrepublik. Die außerparlamentarische Opposition der
       60er Jahre in Westberlin hatte der AL eine kritische Distanz zu Parteien
       und zum Parteibetrieb vermacht, die Liste selbst war als lockeres Bündnis
       nach rätedemokratischen Prinzipien aufgebaut. Noch anlässlich der Wahlen
       1985 entschied sich die Mitgliedervollversammlung der AL, also ihr höchstes
       Entscheidungsgremium, für eine Opposition ohne Wenn und Aber.
       
       Niemand hatte vor den Wahlen im Januar 1989 mit der verheerenden Niederlage
       des CDU/FDP-Senats unter Eberhard Diepgen gerechnet. Aber das Wahlergebnis
       setzte das bisher Undenkbare auf die Tagesordnung: eine Koalition der SPD
       mit der AL, die ihr Spitzenkandidat Walter Momper wenige Tage zuvor als
       "nicht regierungsfähig" charakterisiert hatte.
       
       Wie konnte es geschehen, dass die tiefsitzende Abneigung in der AL gegen
       ein Bündnis mit der SPD ("Wer hat uns verraten …") einer geradezu
       enthusiastischen Erwartung wich? Zum einen sah sich die AL vor allem in
       Frontstellung zur CDU. Diepgen musste weg. Zum anderen glaubten viele ALer,
       dass die SPD sich ökologischen und demokratischen Forderungen nicht
       verschließen könne. Nüchterner sah Lilian-Astrid Geese, linkes AL-Mitglied
       der ersten Stunde und Mitglied des Geschäftsführenden Ausschusses (GA), die
       Chancen: "Versuchen, was durchzusetzen ist. Viel wird es nicht sein." Ihr
       linker Kollege im GA, Christian Ströbele, sah auch die Hindernisse. Dennoch
       sprach er von einer "Jahrhundertchance".
       
       ## Ökologische Kriterien
       
       Tatsächlich billigte die Vollversammlung mit geradezu realsozialistischen
       Mehrheiten den Koalitionsvertrag. Vieles dort las sich gut. Forderungen zur
       Migrations- und Asylpolitik, Einführung ökologischer Kriterien bei der
       Vergabe von Aufträgen, Demokratisierung der Schule, Kontrolle des
       Verfassungsschutzes. Der Stolperstein "Anerkennung des staatlichen
       Gewaltmonopols" wurde elegant umfahren. Man einigte sich auf eine
       Formulierung, die den Begriff "Gewaltmonopol" vermied, ihm aber in der
       Sache entsprach.
       
       Welche Ressorts sollten von wem besetzt werden? Die Vollversammlung
       entschied sich für drei Frauen, allesamt Nichtmitglieder der AL. Die
       Ökonomin Michaele Schreyer wurde für das Umwelt- und
       Stadtentwicklungsressort nominiert, die Juristin Anne Klein für das Ressort
       Familie, Frauen und Jugend, Sybille Volkholz, Vizechefin der Westberliner
       GEW, übernahm das Ressort Schule, Berufsbildung und Sport. Es gab heftige
       Auseinandersetzungen bei der Nominierung. So stieß Volkholz, wie sie sich
       heute noch erinnert, bei einer Reihe von gewerkschaftskritischen Spontis
       auf Kritik, die dank Ströbeles Intervention ausgeräumt wurde. Aber auch auf
       Gewerkschaftsseite gab es starke, von der Ablehnung der alternativen
       Politik- und Lebensformen genährte Vorbehalte.
       
       Von vornherein war die Arbeit der AL in der Koalition durch den
       AL-spezifischen politischen Entscheidungsprozess kompliziert. Die
       alternativen Mandatsträger waren an das imperative Mandat gebunden, also an
       Entscheidungen der Vollversammlung oder des Delegiertenrats, der sich aus
       Vertretern der politischen Bereiche und der Bezirke zusammensetzte. Vor
       allem aus dem Delegiertenrat kamen oft Beschlüsse, die nur partikuläre
       Interessen betrafen, aber, einmal beschlossen, zur verbindlichen
       Richtschnur wurden. Die Vollversammlungen fassten je nach der Zahl der
       Teilnehmer ganz unterschiedliche Beschlüsse. Waren es über 500, so
       dominierte eine realpolitische, am Erhalt von RotGrün orientierte Linie,
       waren es weniger als 500, war Konfrontation angesagt.
       
       ## An Hass grenzende Ablehnung
       
       Die AL und der rot-grüne Senat begegnete in der Springer-dominierten
       Öffentlichkeit Westberlins konzentrierter, an Hass grenzender Ablehnung.
       Mit der Einführung einer Geschwindigkeitsbegrenzung auf der Avus sahen die
       Rechten einen Anschlag auf die Freiheit der Berliner. Bei Prüfungen der
       Umweltverträglichkeit von Projekten glaubten sie an eine Ende der
       Investitionen. Furcht vor einer"Ausländerflut" bestimmte ihre Ablehnung der
       rot-grünen Migrationsprojekte. Die AL widerstand diesem Druck und hatte
       1989 als treibende Kraft der Koalition Erfolge aufzuweisen, so in der
       Bildungspolitik, bei den Rechten für Frauen, bei Ansätzen einer
       umweltfreundlichen Wirtschaftspolitik.
       
       Dominant aber war bei der Selbsteinschätzung der AL-Aktivisten das Gefühl,
       eine Serie von Niederlagen erlitten zu haben, faulen Kompromissen zustimmen
       zu müssen, eben den Kröten, die es zu schlucken galt. Es gelang nicht, die
       Stromversorgung Berlins auf eine neue dezentralisierte Linie umzupolen und
       das Monopol der Bewag anzukratzen. Der Verkauf eines Teils des Potsdamer
       Platzes an Daimler konnte nicht verhindert werden, obwohl gerade hier die
       AL viel Unterstützung aus der Bevölkerung erhielt. Die Einführung des
       kommunalen Wahlrechts für Ausländer wurde zuerst von Momper hinausgezögert,
       dann durch den negativen Entscheid des Bundesverfassungsgerichts im Fall
       Schleswig-Holsteins blockiert. Oftmals hieß es seitens des
       SPD-Koalitionspartners, im Koalitionsvertrag beschlossene Maßnahmen seien
       rechtlich problematisch und/oder der Bevölkerung nicht vermittelbar. Was im
       Koalitionsvertrag als Dissens festgeschrieben war und gemeinsam geprüft
       werden sollte, blieb häufig liegen. Die AL gewann dennoch viele neue
       Mitglieder, verlor aber fast ebenso viele alte. Darunter auch Lilian
       Kathrin, die nach 10-jähriger Kernerarbeit die AL verließ, weil sich in
       ihren Augen die AL parlamentarisierte und ihre ursprünglichen Ziele aus den
       Augen verlor.
       
       Für das Renommee der AL im Kreis ihrer linksalternativen Unterstützer
       erwies sich die Niederlage im Kita-Streik als besonders schwer und
       nachhaltig. Es war dies ein von 4.000 Erzieherinnen getragener Streik, der
       zudem von der Mehrzahl der Eltern unterstützt wurde. Dabei ging es um einen
       Zusatztarifvertrag, in dem die Mitsprache bei dem Personalschlüssel und die
       (Maximal-)Größe der Gruppen festgeschrieben werden sollten. Maßnahmen also,
       die der Verbesserung der gesellschaftlichen Erziehungsarbeit dienten. Die
       SPD lehnte den Zusatztarifvertrag ab, weil dieser in das Budgetrecht des
       Parlaments eingreife. Zu zögernd und zu spät schaltete sich die Senatorin
       Klein in die Auseinandersetzungen ein. Die AL im Ganzen unterstützte den
       Streik und forderte den Koalitionspartner im März 1990 ultimativ auf,
       binnen vierzehn Tagen Verhandlungen über den Zusatztarifvertrag
       aufzunehmen. Als nichts geschah, schluckte die AL auch diese Kröte. Der
       Arbeitskampf, der längste in der Berliner Nachkriegsgeschichte, wurde nach
       zehn Wochen ergebnislos abgebrochen. Erzieherinnen und Eltern hatten große
       Opfer gebracht. Der Frustrationspegel stieg, es schwand die Lust an der
       Fortführung der Koalition. Aber zum Bruch wollte man es nicht kommen
       lassen.
       
       ## "König Momper"
       
       Mit dem Fall der Mauer stieg Walter Momper von einem Provinzpolitiker zu
       einer der populärsten politischen Figuren auf. Jetzt war er "König Momper"
       mit dem roten Schal, bereiste die Hauptstädte der östlichen wie der
       westlichen Hemisphäre und regierte selbstherrlich mit Unterstützung seines
       Küchenkabinetts. Quasi im Vorgriff auf die deutsche Einheit verfolgte er
       eine Gesamtberliner Verwaltungs- und Verkehrspolitik, wollte sogar mehrere
       Westberliner Senatorinnen gleichzeitig als Stadträtinnen in Ostberlin
       residieren lassen. Momper fuhr Schlitten mit der AL. Er konnte das tun,
       weil die AL trotz massiver Erosionserscheinungen des SED-Regimes auf dessen
       Implosion überhaupt nicht gefasst gewesen war und den sich überschlagenden
       Ereignisse rat- und tatenlos gegenüberstand. Nicht wenige AL-Mitglieder
       hatten nicht nur Bedenken gegen Tempo und Form des Vereinigungsprozesses,
       sondern lehnten die deutsche Einheit prinzipiell ab. Der Realitätsverlust
       der AL ging so weit, dass die rasche Öffnung der Verkehrswege, die Ost und
       West verbanden, aus ökologischen Gründen abgelehnt wurde.
       
       Zum Bruch am 24. 1. 1991 kam es schließlich kurz vor den Neuwahlen zum
       Abgeordnetenhaus nach der Räumung einer Anzahl besetzter Häuser im
       Ostberliner Bezirk Friedrichshain mittels eines brachialen
       Polizeieinsatzes. Die AL war nicht informiert worden und hatte keine
       Chance, zu vermitteln. Christian Ströbele war für den Ausstieg, die drei
       Senatorinnen dagegen, sie traten aber loyal zurück. Bei der nachfolgenden
       Wahl wurde Rot-Grün abgewählt, die AL erlitt schwere Verluste. Das war, so
       Sybille Volkholz heute, die Quittung für ihre Realitätsverweigerung.
       
       14 Sep 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Christian Semler
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Wahlen in Berlin
 (DIR) Schwerpunkt Wahlen in Berlin
 (DIR) Schwerpunkt Wahlen in Berlin
 (DIR) Schwerpunkt Wahlen in Berlin
 (DIR) Schwerpunkt Wahlen in Berlin
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Kommentar Wahlen in Berlin: Hüter der Coolness
       
       Weil das grün-alternative Milieu die Stadt zu dem gemacht hat, was sie
       heute ist, gehören die Grünen auch in die Regierung – meint ein
       Alt-Berliner.
       
 (DIR) Berlin-Wahl und die A 100: Der Ausweg aus dem Dilemma
       
       Die Grünen wollen mit der SPD regieren, aber nicht den Weiterbau der A100
       unterschreiben. Die Lösung ist eine Volksbefragung nach CDU-Vorschlag.
       
 (DIR) Grüne Absage an die CDU: Renate entspannt
       
       Renate Künast will keine Koalition mit der CDU. Die schimpft heftig über
       die Absage. Der linke Flügel der Grünen hofft, schon verloren geglaubte
       Wähler zurückzugewinnen.
       
 (DIR) Kommentar Berlin-Wahl: Künasts letzter Dienst
       
       Nach dem TV-Duell mit einer schwachen Renate Künast kommen nun vielleicht
       die Stammwähler zurück. Also jene, denen es bei der Vorstellung von
       Grün-Schwarz gruselte.
       
 (DIR) TV-Duell Künast gegen Wowereit: "Die Zeit ist vertan"
       
       Beim Fernsehduell hätten die Berliner Spitzenkandidaten Künast und Wowereit
       fast für Klarheit in der Koalitionfrage gesorgt. Doch das wollten die
       Moderatoren doch nicht zulassen.
       
 (DIR) Befragung der Neu-Mitglieder: Grünen-Neulinge lieben Rot-Grün
       
       Die grüne Basis hält nichts von Regierungsbündnissen mit der Union - zu
       wenige Überschneidungen. Allerdings wollen künftig viele CDU-Fans grün
       wählen.