# taz.de -- Libyen erklärt sich für befreit: Bengasi im Jubeltaumel
       
       > Mit einem großen Festakt feiern Zehntausende das Ende der Herrschaft
       > Gaddafis. In Bengasi, wo der Aufstand begann, wurden die Kämpfer aus
       > Sirte empfangen.
       
 (IMG) Bild: Gefühlte Befreiung: In den libyschen Städten wird gefeiert, und in Bengasi wurde die Befreiung des Landes offiziell verkündet.
       
       BENGASI taz | „Hiermit erklären wir der ganzen Welt, dass wir unser
       geliebtes Land mit seinen Städten, Dörfern, Hügeln, Bergen, Wüsten und dem
       Himmel befreit haben“, erklärte am Sonntagabend Abdel Hafis Ghoga,
       Vizepräsident des Nationalen Übergangsrates, in Bengasi.
       
       Und Zehntausende jubelten begeistert. „Toleranz und Aussöhnung sind
       wesentlich für das Gelingen der Revolution, für die Zukunft Libyens“, sagte
       der Vorsitzende des Rates, Abdel Dschalil.
       
       „Libyen ist frei“, rief bereits am Freitagabend ein junger Mann aus seinem
       Auto, das gerade über die tunesisch-libysche Grenze fuhr. Aus dem Fenster
       schwenkte er eine riesige Fahne des Übergangsrats, die über die
       Windschutzscheibe wehte. Tunesische und libysche Grenzbeamte jubelten dem
       Mann zu: „Gaddafi ist tot!“
       
       Die tunesisch-libysche Grenze, die noch vor einigen Tagen geschlossen war,
       ist offen. Noch Anfang der Woche verzögerten strenge libysche
       Revolutionswächter die Einreise, weil der Besucher aus Deutschland kein
       Visum hat. „Nur Franzosen dürfen jederzeit ohne Visum nach Libyen“, wurde
       man über die neuen Einreisebestimmungen belehrt.
       
       Doch in dieser Nacht nach dem Fall Sirtes und dem Tode Gaddafis fragt
       niemand mehr nach einem Visum. An dem kleinen Grenzposten eintreffende
       Besucher werden umarmt. Es herrscht reger Verkehr, Flüchtlinge aus den
       Flüchtlingslagern nahe der tunesisch-libyschen Grenze und Exillibyer aus
       allen Teilen der Welt reisen über diese Grenze in ihr Heimatland zurück, um
       die „Befreiung“ des Landes zu feiern.
       
       ## Die Einreise ist nur auf dem Landweg möglich
       
       Dieser Landweg ist derzeit die einzige Möglichkeit der Einreise, denn der
       zivile Flughafen in Tripolis ist gesperrt: „Die Revolutionäre feuern
       ständig mit großem Kaliber in die Luft, da musste der Flughafen geschlossen
       werden“, meint eine Mitarbeiterin von Libyan Airlines am Flughafen in
       Tunis.
       
       Ihr Büro wird von verärgerten Reisenden belagert, die eines der wenigen
       teuren Tickets ergattert haben und nun doch nicht fliegen können. Wer einen
       Platz in den Sondermaschinen von Tunis nach Djerba bekommt, nimmt von
       Djerba aus das Taxi nach Tripolis.
       
       „Alle Plätze nach Djerba sind ausgebucht“, erklärt der Mann hinter dem
       Check-in-Schalter von Tunisair. „Wenn wir mehr Maschinen zur Verfügung
       hätten, würden wir sie auf dieser Strecke sofort einsetzen.“
       
       ## Mit der Iljuschin 76MD nach Bengasi
       
       In Tripolis ist die Party in der Nacht auf Samstag in vollem Gange. Männer
       tanzen auf den Straßen, ein Junge, um den sich schnell eine Menschentraube
       bildet, trommelt auf einer Darbuka, einer einfelligen Bechertrommel, und
       erzählt: „Ich bin einfach nur glücklich.
       
       Jetzt wird alles besser werden in Libyen.“ Eine weitaus größere Feier
       jedoch fand am Samstagnachmittag in Bengasi mit dem Eintreffen der Kämpfer
       von der Front statt. Am frühen Samstagmorgen startete von der verregneten
       Startbahn des Matiga-Militärflughafens eine
       Iljuschin-Il-76MD-Militärmaschine in den bewölkten Himmel von Tripolis.
       
       Der große Truppentransporter brachte 250 Kämpfer zu der Befreiungsfeier
       nach Bengasi. Dort wollten sie ihre aus Sirte heimkehrenden Kameraden, die
       am Samstagnachmittag am Stadttor von Bengasi erwartet werden, begrüßen.
       
       Die Männer in der Il-76MD erzählten während des Flugs, wie sie Anfang der
       Woche noch in Bani Walid oder Abu Salem gekämpft haben. Alle Rebellen in
       dieser Maschine waren an der Feuerlinie, viele von ihnen sind verwundet.
       Sie wurden vom Nationalen Übergangsrat ausgewählt, an der großen Feier in
       Bengasi teilzunehmen. Die Kämpfer befinden sich noch immer im Siegesrausch
       und feiern während des gesamten Flugs.
       
       ## Kämpfer fahren mit Pick-ups hupend durch die Stadt
       
       Einer von ihnen steht auf der hochgefahrenen Laderampe am im Heck und ruft
       ihnen allen immer wieder zu: „Takbir!“ Seine Kameraden erwidern: „Allahu
       akbar.“ Das geht den ganzen Flug über so. Die unübersetzbare Aufforderung
       „Takbir“ wird gerufen, wenn man als Antwort „Allahu akbar“ hören möchte.
       
       Der Schlachtruf „Allahu akbar“ spielte eine gewichtige Rolle während des
       Kampfs der Rebellen gegen die libyschen Streitkräfte. Die Parole war ihr
       Erkennungszeichen.
       
       An jedem Checkpoint zwischen Tunesien und Ägypten, zwischen der Sahara und
       dem Mittelmeer riefen alle Rebellen ihren Kameraden aus dem Jeep oder
       Pick-up „Allahu akbar“ zu. Auch bei der Ankunft in Bengasi rufen die
       Rebellen den sie begrüßenden Kameraden „Allahu akbar“ entgegen.
       
       Zuerst werden die Verwundeten, die nicht mehr gehen können, von der
       Flugzeugrampe auf die Ladefläche eines Pick-ups getragen. Dann springen die
       restlichen Kämpfer auf Fahrzeuge und rauschen hupend durch die ganze Stadt
       zum Stadttor in Gawarsha, wo die Kämpfer aus Sirte erwartet werden.
       
       Bengasi ist eine sehr großflächige und weitläufige Stadt, in der nur
       700.000 Menschen leben. „Eigentlich geht es hier am Stadtrand in Gawarsha
       sehr beschaulich zu“, meint Sanussi Kezza, ein Bauer, der hier seine Felder
       hat. „Normalerweise ist hier kein Mensch, und nur wenige Autos sind zu
       sehen.“
       
       Doch heute Nachmittag steht hier der Verkehr. Auf der zehn Kilometer langen
       vierspurigen Straße vom Stadtzentrum nach Gawarsha reiht sich ein Auto an
       das andere. Es sind Familien, Frauen, Kinder, Alte, die aus ihren Autos
       aussteigen und am Straßenrand stehen, winken, hüpfen, tanzen, um die aus
       Sirte eintreffenden Kämpfer zu begrüßen.
       
       Die Kämpfer werden mit Blumen beworfen, mit Rosenwasser bespritzt. Ein
       Kämpfer bekommt ein Baby, das in eine Fahne des Übergangsrats gehüllt ist,
       gereicht, um es zu küssen. Ein anderer Kämpfer bekommt einen Koran
       geschenkt, den er küsst. Dann klettert er mit dem Koran auf das Dach des
       Pick-ups, hält ihn in der einen Hand und feuert mit der anderen das Magazin
       seiner Automatikwaffe leer.
       
       Neben den obligatorischen Fahnen des Übergangsrats ragen aus der Menge der
       Jubelnden französische und qatarische Flaggen hervor. Auch halten viele
       Libyer gerahmte Bilder und Flaggen mit dem Gesicht von Umar al-Muchtar in
       die Luft. Al-Muchtar war ein libyscher Koranlehrer, der für die
       Unabhängigkeit seines Landes gegen die italienische Kolonialherrschaft
       kämpfte und am 16. September 1931 in Bengasi hingerichtet wurde.
       
       In der Masse der Feiernden sind auch viele Eltern, die Bilderrahmen mit den
       Fotos ihrer gefallenen Söhne in die Luft halten. „17. März 2011“ ist als
       Datum auf einem der Fotos der „Märtyrer“ zu erkennen.
       
       Besonders emotional an diesem überschwänglichen Tag verläuft das
       Wiedersehen einer Familie mit ihrem Sohn. Er kommt gerade auf einem Jeep,
       in und auf den sich ein Dutzend Kämpfer gequetscht haben, aus Sirte in die
       Stadt hereingefahren.
       
       Seine Mutter, die mit der versammelten Großfamilie am Straßenrand steht,
       entdeckt ihn und stürmt auf den Jeep zu. Der Junge springt vom fahrenden
       Jeep und fällt seiner Mutter in die Arme. Seine Geschwister, der Vater und
       Freunde umringen ihn.
       
       Die Mutter weint. Der Sohn erzählt, er habe einen Monat lang in Sirte
       gekämpft, wo es kein Handynetz gab. Seine Mutter war daher all die Zeit im
       Ungewissen, ob er noch lebt. Jetzt sehe er sie zum ersten Mal wieder. „Dies
       ist der glücklichste Tag in meinem Leben. Heute Nacht wird nicht
       geschlafen“, ruft er seiner Familie und seinen Freunden zu. „Es wird
       gefeiert bis morgen. Endlich ist ganz Libyen frei!“
       
       Tatsächlich lief an diesem Wochenende in Bengasi gar nichts wie gewöhnlich.
       Banken und Geschäfte hatten geschlossen. Es gab nirgendwo ein Taxi. Wer zu
       den Feierlichkeiten wollte, musste auf die Ladefläche eines Pick-ups
       springen. Keiner ging zur Arbeit, alle feierten im Zentrum oder schauten
       sich zu Hause die live im libyschen Fernsehen übertragenen Feste an.
       
       Bereits am Samstagabend hatten sich alle Mitglieder des Nationalen
       Übergangsrates im Tibesti-Hotel versammelt. Mohammed A. al-Montasser,
       Repräsentant der Stadt Misurata, erklärt im persönlichen Gespräch, dass in
       der Sitzung aller Mitglieder ein Komitee gebildet worden sei, das über den
       Wortlaut der Befreiungserklärung abgestimmt habe. Auch über die Aufteilung
       der Ministerposten zwischen den Städten Tripolis, Misurata und Bengasi sei
       erneut diskutiert worden.
       
       ## Bengasi muss Tripolis als offizielle Hauptstadt weichen
       
       Al-Montasser bestätigte, dass diese Regierung innerhalb eines Monats nach
       der Befreiungserklärung bekannt gegeben werde. „Dies kann theoretisch aber
       auch schon morgen geschehen, wir wollen uns damit so wenig Zeit wie nötig
       lassen.“
       
       Innerhalb von acht Monaten, so al-Montasser, werde es dann die ersten
       freien Wahlen geben. Ab Sonntagabend werde die Hauptstadt des Übergangsrats
       dann auch offiziell Tripolis und nicht mehr Bengasi sein.
       
       Dass die Befreiungserklärung dennoch in Bengasi verkündet wurde, habe damit
       zu tun, dass hier die „Bewegung 17. Februar“ ihren Anfang nahm. „Zwar haben
       wir in Misurata die meisten Verluste erlitten und die schwersten Kämpfe
       geführt“, erklärt der Repräsentant der Stadt, al-Montasser.
       
       „Doch Bengasi war nun einmal der Ort, der die Revolution vor neun Monaten
       anführte, wo die ersten Demonstrationen stattfanden und der Sturm auf die
       Baracken am 18. Februar dieses Jahres. Deshalb ist die Befreiungserklärung
       ein Zeichen des Respekts vor der Bevölkerung Bengasis.“
       
       23 Oct 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Martin Lejeune
       
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