# taz.de -- Sachbuch über deutsche Kriege: Befreien Sie Libyen!
       
       > Dem deutschen Antikriegskonsens zum Trotz: Bernd Ulrich erklärt in seinem
       > neuen Buch, warum Deutschland Kriege führen muss. Aber er verschweigt die
       > Kosten.
       
 (IMG) Bild: Irgendwoher, irgendwohin - Soldaten der Bundeswehr im Einsatz.
       
       Die Debatte über Kriegseinsätze der Bundeswehr findet derzeit weitgehend
       jenseits des öffentlichen Interesses statt. Das Parlament beschließt
       routinemäßig die Verlängerung des Afghanistaneinsatzes.
       
       In Expertenrunden grübelt man ergebnislos über Abzugsszenarien. Auf den
       hinteren Seiten der Zeitungen erscheinen hin und wieder Meldungen über
       Grenzkonflikte im Kosovo. Die Älteren erinnern sich daran, dass
       Bundeswehr-Tornados wegen des Kosovos mal Serbien bombardiert haben.
       
       Das Affektniveau der Debatte ist gesunken. Man hat sich daran gewöhnt, dass
       die Bundeswehr im Ausland aktiv ist. Die Lage dort ist zu unübersichtlich,
       um für Identitätsdebatten zu taugen. Die Deutschen möchten mit den
       komplizierten Kriegen möglichst wenig zu tun haben.
       
       Auch der intellektuelle Diskurs wirkt diffus. Das ist bemerkenswert, wenn
       man sich an die mit viel emotionalem Aufwand geführten Debatten zwischen
       Menschenrechtsbellizisten und Antiinterventionisten erinnert, die über den
       Kosovo- und den Irakkrieg geführt wurden.
       
       ## Hitler- und Auschwitzvergleiche
       
       Es wurde mit Hitler- und Auschwitzvergleichen hantiert. Fast eineinhalb
       Jahrzehnte und zwei Kriege später steht diese Gesinnungsfront noch immer,
       aber sie wirkt verwittert. Interventionsgegner sind, von Ausnahmen
       abgesehen, immer noch Interventionsgegner, Menschenrechtsbellizisten immer
       noch Menschenrechtsbellizisten, nur leiser als früher.
       
       Enzensberger & Co. haben ihre Unterstützung des US-Kriegs gegen den Irak
       nie zurückgenommen, kein Pazifist hat den Kosovokrieg im Nachhinein in
       milderem Licht gesehen und dies begründet. Das verdeutlicht, dass die
       Kriegsdebatte in hohem Maße eine camouflierte deutsche
       Selbstverständigungsdebatte war, ein Konkurrenzstreit, wer die Lektionen
       der Geschichte besser gelernt hat. Seit dieser selbstbezügliche Anteil
       verblasst ist, läuft die Debatte eher in Fachzirkeln.
       
       Deshalb ist ein Resümee, eine Korrektur alter Positionen überfällig. Es ist
       verdienstvoll, dass der Zeit-Leitartikler und frühere Grünen-Mitarbeiter
       Bernd Ulrich sich an einer Revision versucht hat. Schade nur, dass es keine
       selbstkritische Überprüfung geworden ist. Das Buch heißt "Wofür Deutschland
       Krieg führen darf. Und muss." Wer so titelt, weiß, wo es zur Front geht.
       
       Nach einigen rhetorischen Kurven steuert Ulrich zielsicher das Lager des
       Menschenrechtsbellizismus an. Das ist nicht neu, nicht originell, aber es
       ist eine Position. Afghanistan und Irak waren demnach falsche Kriege, weil
       es dort keine Massaker an Zivilisten gab und keine brauchbare Opposition,
       die der Westen unterstützen konnte. Kosovo und Libyen waren hingegen
       richtige Kriege des Westens, weil Massaker verhindert wurden und Diktatoren
       gestürzt. So die großflächige These.
       
       ## "Völkerrechtlich grosso modo gut legitimiert"
       
       Die Mühe, faktisch zu belegen, dass diese Kriege richtig waren, erspart
       sich der Autor. Dass das Kosovo zwölf Jahre nach dem Krieg ein korruptes
       UN-EU-Protektorat mit Mafiastrukturen ist, ist keiner Erwähnung wert. Das
       Gleiche gilt für Libyen. Worauf stützt sich die selbstverständliche
       Gewissheit des Autors, dass Libyen nicht in Gewalt und Despotie endet? Man
       erfährt es nicht.
       
       Der Libyeneinsatz, heißt es forsch, war "ein völkerrechtlich grosso modo
       gut legitimierter Krieg". Grosso modo heißt über den Daumen gepeilt. Die
       ungenaue Art zu formulieren verrät das Schlüsselproblem des Buches: die
       Geringschätzung des Völkerrechts. Die UN hat nur der Einrichtung einer
       Flugverbotszone und dem Gewalteinsatz zum Schutz der Zivilisten zugestimmt,
       die Nato hat daraus eigenmächtig das Recht abgeleitet, Gaddafi zu stürzen.
       Wer das zur völkerrechtlichen Legitimation verbiegt, dem ist das Recht
       wurscht.
       
       In der Tat hält Ulrich das Völkerrecht für eine Art pathologisches
       Überbleibsel aus dem 20. Jahrhundert, das Russland, China und blutrünstige
       Diktatoren benutzen, um den Westen von seinen zumeist edlen Zielen
       abzubringen. Aber auch Interventionisten kommen nicht um die Frage herum,
       wer, wenn man die UN de facto beerdigt, über Gewalteinsatz befinden darf.
       
       Ulrichs Antwort: der Westen. Weil der Rest der Welt davon, vor allem seit
       dem von moralischen Fanfarenstößen begleiteten Irakkrieg, wenig begeistert
       ist, muss der "Westen seine Selbstermächtigung mit einer neuen
       Selbstbindung begrenzen, er muss ein neues Völkerrecht der Zukunft
       formulieren. Kriege würden dann aus einem Völkerrecht der Zukunft
       legitimiert, nicht aus der Vergangenheit."
       
       Will sagen: Die kommenden Interventionskriege sollen mit Gesetzen
       gerechtfertigt werden, die noch nicht existieren. Es darf demnach getötet
       werden im Namen eines Rechts, das nicht kodifiziert, nicht überprüfbar ist,
       das man sich offenbar als eine Art ständig wechselnden Text vorstellen
       muss.
       
       Es ist nicht einfach, zu sagen, was an dieser Idee abgründiger ist: die
       bestürzende Naivität, die Verachtung des Rechts oder die dröhnende
       westliche Hybris. Der vage Verweis auf eine einschränkende künftige
       "Selbstbindung" des Westens ist bloß Wortgeklingel. (Wer überwacht die
       denn? Die Chefredaktion der Zeit?) 
       
       ## "Responsibility zu protect"
       
       Intellektuell redlich wäre es, die Kosten der Selbstermächtigung des
       Westens aufzulisten und abzuwägen, ob sie diesen Preis wert ist. Denn diese
       Selbstermächtigung droht das existierende Völkerrecht zu zerstören. Warum
       sollen sich China, Brasilien oder Indien an Rechtsnormen halten, die der
       moralisch hochwertige Westen in den Mülleimer der Geschichte befördert hat?
       Am Ende dieses Prozesses wird die radikale Schwächung, wenn nicht die
       Zerstörung der UN stehen.
       
       Natürlich hat das in der UN-Charta fixierte Völkerrecht gravierende
       Konstruktionsmängel. Es basiert auf der Idee staatlicher Souveränität - und
       dies schließt ein, dass Despoten ihre Untertanen massakrieren können.
       Zerfallende Staaten waren im Konzept dieses Völkerrechts auch nicht
       vorgesehen. Dies zu verändern, ist kompliziert, langwierig, aber ohne
       sinnvolle Alternative.
       
       So ist die "responsibility zu protect", die Pflicht bei Massakern
       einzugreifen, auf dem Weg, geltendes Völkerrecht zu werden.
       Unverantwortlich hingegen ist es, die leuchtende Idee, dass das Recht und
       nicht Gewalt zwischen Staaten herrschen soll, im Vorübergehen zu beerdigen.
       
       ## 
       
       ## Krieg für die Liebe
       
       Einige US-Neokonservative, die Bushs Irakkrieg ausheckten, waren früher
       Trotzkisten. Ihre politischen Ziele hatten sie radikal gewechselt -
       geblieben war das stählerne Sendungsbewusstsein, immer auf der richtigen
       Seite der Weltgeschichte zu kämpfen. Ulrich ist kein Neocon und war kein
       Marxist, dafür früher mal grün-alternativ.
       
       Geblieben ist aus dieser Zeit eine Bedenkenlosigkeit gegenüber dem Recht
       und Institutionen, wenn es um die gute Sache geht. Legal, illegal,
       scheißegal. Früher gegen die Nato, heute mit ihr. Die Worte "zivile
       Konfliktvermeidung" kommen in seinem Buch nicht vor.
       
       Es gehört zum Genre des geostrategischen Textes, dass das Bedeutsame und
       das Anmaßende, Verhobene mitunter nah beieinander liegen. So huscht auch
       Ulrich als Weltendeuter mit dem Finger über den Globus. Da wird nahegelegt,
       dass es im Mittleren Osten gar nicht so übel aussieht, Russland ein Problem
       ist, während Nordafrika sich macht. Das Ganze erinnert mitunter an das
       Brettspiel Risiko, bei dem man mit Würfeln zur Weltherrschaft strebt:
       Befreien Sie Libyen! Erobern Sie Afghanistan!
       
       Kriegsbegeisterung ist Ulrich natürlich suspekt, ebenso
       Antikriegsbegeisterung. Deutschland drohe "in einem Antikriegskonsens zu
       verschwimmen", heißt es einmal sorgenvoll. Ulrich mahnt immer wieder zur
       Nüchternheit, allerdings ohne sich selbst immer daran zu halten. "Wenn wir
       das Leben unserer Söhne und Töchter aufs Spiel setzen, dann bitte für die
       Liebe und die Freiheit und sonst nichts", schreibt er. Krieg für die Liebe
       also. Klingt wie ein Zitat aus Orwells "1984".
       
       ## Dokument einer Selbstüberschätzung
       
       Das Buch ist nebenher das Dokument einer Selbstüberschätzung. Die
       Redaktionssitzungen der Zeit, bei denen wir uns den Autor als Gegenspieler
       von Helmut Schmidt vorstellen dürfen, sind, so steht es hier, "fast wie
       Regieren". Die außenpolitischen Debatten sind sogar "besser als
       Kabinettsitzungen". Das hat Helmut Schmidt gesagt, und Ulrich ist davon
       offenbar noch überzeugter als von der berechtigten Selbstermächtigung des
       Westens.
       
       Diese dampfende Selbstüberhebung des Leitartiklers zum besseren
       Kanzleramtsminister ist nur als Überkompensation zu verstehen. Denn der
       Leitartikler ist berufsbedingt unglücklich. In der Politik sind Wahlen und
       Lobbyinteressen die Hartwährung, Leitartikel nur Spielgeld. Der
       Leitartikler lebt daher im Zustand dauerhafter Kränkung.
       
       Stets weiß er es besser, fast nie hört jemand auf ihn. Angesichts dieser
       Misslichkeit liegt es nahe, die eigene Bedeutsamkeit um so mehr
       herauszustreichen. In diesem Metier hat Ulrich es zu einer Könnerschaft
       gebracht, die nicht frei von Komik ist.
       
       Dem Buch hätte es gut getan, wenn der Autor mal an einem Freitag darauf
       verzichtet hätte, Zeit-Herausgeber Helmut Schmidt mit seinem Scharfsinn zu
       beeindrucken. Und anstelle dessen in Prishtina das Ergebnis des
       Menschenrechtsbellizismus mit eigenen Augen begutachtet hätte.
       
       ## Bernd Ulrich: "Wofür Deutschland Krieg führen darf. Und muss. Eine
       Streitschrift". Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 2011. 192 Seiten, Euro
       14,95
       
       25 Oct 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Stefan Reinecke
       
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