# taz.de -- Gewalt nach Protesten in Ägypten: Déjà-vu auf dem Tahrir
       
       > Überraschend und brutal greift die Polizei die Menschenmenge an. Es gibt
       > Tote und Verletzte. Für die Demonstranten ist die Macht des alten Regimes
       > noch nicht gebrochen.
       
 (IMG) Bild: Siegesgewiss; Demonstrant auf dem umkämpften Tahrir-Platz am Sonntag.
       
       KAIRO taz | Jugendliche stürmen unerschrocken auf die Polizeiketten zu, die
       in den Seitenstraßen des Tahrirplatzes postiert wurden. Die Polizei
       antwortet mit Tränengasgranaten und Gummigeschossen. Immer wieder werden
       Verletzte aus den vorderen Reihen zurück auf den Platz getragen. Es ist ein
       Déjà-vu aus den Tagen des Aufstands gegen den ägyptischen Diktator Husni
       Mubarak.
       
       In einer schnell improvisierten Ambulanz, vor den Türen einer
       amerikanischen Fastfoodkette, kümmert sich eine Gruppe von Ärzten um die
       Erstversorgung der Verletzten. Einige, meist Jugendliche liegen lethargisch
       oder leblos auf dem Boden, andere schreien vor Schmerzen, während ein Arzt
       ihre Kleidungstücke aufschneidet, um an die Wunden zu kommen. Die Ärzte
       senden per Handy immer wieder neue Aufrufe für mehr Verbandsmaterial,
       Medikamente und Ärzte ins Internet, verschicken sie über den
       Kurznachrichtendienst Twitter oder das soziale Netzwerk Facebook.
       
       Manche Verwundete symbolisieren geradezu die Verbindung zwischen dem
       Aufstand im Januar gegen Expräsident Mubarak und den jetzigen
       Straßenkämpfen gegen die Militärführung, die kommissarisch das Land
       verwaltet. Den jungen Zahnarzt Ahmad Harara beispielsweise kennt jeder auf
       dem Tahrirplatz. Er trägt eine Augenklappe aus Aluminium über dem rechten
       Auge, dort ist das Datum 27. Januar eingraviert, der Tag, an dem er durch
       ein Gummigeschoss sein linkes Auge verloren hat. Jetzt traf ein weiteres
       Geschoss sein anderes Auge, und es ist unklar, ob nicht Harara sein
       Augenlicht völlig verlieren wird.
       
       ## Über 700 Verletzte, drei Tote
       
       Über 700 Verletzte und mindestens drei Tote haben die Auseinandersetzungen
       bisher gefordert, die nicht nur auf dem Tahrirplatz in Kairo, sondern auch
       in Alexandria und in Suez ausgebrochen sind. Es sind die schwersten
       Zusammenstöße seit Monaten. Damit hängen über dem Tahrirplatz nicht nur
       erneut die Tränengasschwaden in der Luft, sondern steht auch die Frage im
       Raum, ob die Parlamentswahlen wie vorgesehen ab 28. November stattfinden
       werden.
       
       Begonnen hatten die Straßenschlachten am Samstag. Eine Gruppe von mehreren
       hundert Demonstranten baute nach einer Großdemonstration am Freitag auf dem
       Tahrirplatz erneut ihre Zelte auf. Bei der Demonstration, der größten seit
       dem Sommer, hatten 50.000 Menschen verschiedener Gruppierungen, von
       Islamisten bis hin zu Liberalen und Säkularen, den Rückzug der
       Militärführung aus der Politik gefordert.
       
       Sie verlangten Präsidentschaftswahlen zum frühest möglichen Zeitpunkt,
       womit der Militärrat seine Exekutivmacht verlieren würde. Und sie wendeten
       sich gegen übergeordnete Verfassungstheorien, mithilfe deren das Militär
       sich das letzte Wort bei strategischen Entscheidungen festschreiben lassen
       will. Nachdem die Großdemonstration abgezogen war und nur noch ein paar
       hundert Menschen in der Zeltstadt übrig blieben, griff die Polizei
       überraschend an. Binnen Kurzem strömten so viele Menschen auf den Platz
       zurück, dass sich die Polizei am Samstagnachmittag zurückziehen musste.
       
       Die auf dem Platz meist diskutierte Frage ist, warum die Polizei
       ausgerechnet jetzt so scharf gegen die Demonstranten vorgeht und damit die
       Lage eine Woche vor den Wahlen bewusst eskalieren lässt. Noch ist unklar,
       ob die Wahlen am 28. dieses Monats planmäßig vonstatten gehen, aber mit der
       Eskalation hat sich die Militärführung zumindest die Option eröffnet, die
       Wahlen zu verschieben.
       
       ## Tränengaskanister "Made in the USA"
       
       Ministerpräsident Essam Scharaf rief die Aktivisten auf, den Platz zu
       räumen. "Was auf dem Tahrirplatz passiert, ist sehr gefährlich", warnte das
       Kabinett in einer Erklärung. Der Kurs der Nation und der Revolution werde
       gefährdet. Am Samstagabend tauchte dann Generalmajor Mohsen al-Fangari in
       Talkshows eines privaten Fernsehsenders auf und erklärte, die Demonstranten
       auf dem Tahrir hätten das Ziel, das Rückgrat des Staates, die Armee,
       anzugreifen. "Nicht die Armee, sondern wir, das Volk, sind das Rückgrat des
       Staates", kommentiert ein Demonstrant am nächsten Morgen aufgebracht.
       
       "Mit ihrem provozierenden Polizeieinsatz wollen sie mal wieder beweisen,
       wie chaotisch die Revolution ist", sagt Al-Muatasim Billah, der in einem
       Reisebüro arbeitet. "Wir bleiben hier, bis die Regierung und der Militärrat
       zurücktreten. Wir wollen einen zivilen Staat", fordert er. "Immer diese
       Prügeleien mit der Polizei, diese ständigen Demütigungen - es reicht
       einfach." Zum Beweis dafür, welche Mittel die Polizei zuletzt eingesetzt
       hat, zieht er zwei Tränengaskanister "Made in the USA" und eine Handvoll
       Gummigeschosse aus der Tasche.
       
       Auf die Frage, ob die Wahlen nun stattfinden werden, winkt die
       Tahriraktivistin Heba Hilimi ab. "Der eigentliche Kampf, das alte System zu
       brechen, wird nicht bei den Wahlen, sondern auf der Straße ausgetragen",
       sagt die Grafikdesignerin. "Letzten Freitag waren sich alle politischen
       Kräfte einig, dass man das Militär aus der Politik entfernen muss. Wir
       wollen alle eine zivilen demokratischen Staat, und diese Einigkeit wollen
       sie jetzt brechen", sagt sie. "Sie haben Panzer, während wir nichts als die
       Möglichkeit haben zu demonstrieren, und deswegen werden wir weitermachen.
       Denn wenn wir sie an der Macht lassen", prophezeit sie, "werden sie uns
       langfristig fertigmachen."
       
       20 Nov 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Karim Gawhary
 (DIR) Karim El-Gawhary
       
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