# taz.de -- Duma-Wahl in Russland: Medwedjew ist der neue Sündenbock
       
       > Wladimir Putin gibt seinem Ziehsohn die Schuld für die Wahlniederlage –
       > er braucht ihn nicht mehr. Damit dürfte er sich aber noch unbeliebter
       > machen.
       
 (IMG) Bild: Und tschüss: Putin lässt Medwedjew stehen.
       
       MOSKAU taz | In Moskau hält der Frühling Einzug. Die Sonne scheint bei
       Temperaturen um die sechs Grad plus. Ein laues Lüftchen weht. Zu schwach
       allerdings, um die Abgaswolken zu vertreiben, die die Armeefahrzeuge
       hinterlassen, die Spezialeinheiten des Innenministeriums ins Zentrum
       bringen. Es sind Einheiten des Dzierzynski-Bataillons, benannt nach dem
       KGB-Gründervater.
       
       Das System holt Verstärkung, es ist nach den gefälschten Wahlen
       angeschlagen. Mehr als 5.000 Menschen demonstrierten am Montagabend im
       Zentrum. Es war die größte Protestveranstaltung seit Jahren.
       
       300 Oppositionelle wurden von der Polizei festgenommen, darunter auch
       Prominenten der Opposition. Fast einen Tag lang gab es keine Informationen
       über ihren Verbleib. Anwälte wurden nicht - wie es das Gesetz vorsieht - zu
       ihnen gelassen. Die erste Haftstrafe von 15 Tagen erhielt der Kopf der
       Bewegung Solidarnost, Ilja Jaschin, in einem Schnellgerichtsverfahren.
       
       Die politischen Rahmenbedingungen verschieben sich. Das Parlament solle nun
       wieder zu einem Ort der Diskussion werden, geloben eiligst Funktionäre der
       Staatspartei Vereinigtes Russland (VR). Sie sehen ihre Felle
       davonschwimmen. Als erster macht sich Wladimir Putin aus dem Staub. Über
       seinen Adjutanten ließ er am Dienstag der BBC mitteilen, dass er als
       unabhängiger Politiker nicht mit VR gleichgesetzt werden könne. Putin sei
       zwar Vorsitzender, aber nicht deren Mitglied. Partei und Premier Putin
       seien zwei unterschiedliche paar Schuhe.
       
       ## Demontage der Regierungspartei beginnt
       
       Für die Niederlage und den stümperhaften Wahlbetrug will der Premier keine
       Haftung übernehmen. Denn für seine Wiederwahl ins Präsidentenamt im März
       2012 ist die Nähe zu VR, die von Oppositionellen vor der Wahl in "Partei
       der Diebe und Gauner" umbenannt wurde, zu einer faulen Hypothek geworden.
       
       Zum Sündenbock wurde Wahlkampf- und Kremlchef Dmitri Medwedjew, den Putin
       im September mit der Führung beauftragte. Medwedjew ist endgültig erledigt.
       Als Kremlchef braucht Putin das Tandem nicht mehr. Als Schirmherr der
       schmutzigsten Wahlen und der schlimmsten Niederlage wird Medwedjew zur
       Belastung. Das Land verlangt neue Köpfe, mit einem Premier Medwedjew kann
       Putin den Neuanfang dem Volk nicht mehr verkaufen.
       
       Putin hat damit die Demontage der Regierungspartei eingeleitet. Der Zerfall
       wird unweigerlich auch die "Vertikale der Macht", Putins
       Lenkungsmechanismus der "souveränen Demokratie", zum Einsturz bringen.
       Viele Regionalchefs müssen sich vorm Kreml rechtfertigen, warum sie die
       bestellten Wahlergebnisse nicht liefern konnten. Den Versagern droht
       unehrenhafte Entlassung.
       
       Der Kreml sägt damit am Fundament der Vertikale. Sie war zwar ineffektiv
       bei der konkreten Politikgestaltung, sicherte aber bedingungslose
       Loyalität. Da es ohnehin in den Kreisen der regionalen Elite rumorte, die
       unter der Geringschätzung der Kremlclique litt, wird sich bald ein noch
       tieferer Graben auftun. Amtsträger werden in Scharen das sinkende Schiff
       verlassen und eine neue politische Heimstatt suchen.
       
       Putin hat sich durch die Distanzierung von der Partei auch im Volk noch
       unglaubwürdiger gemacht. Erst letzte Woche ließ er sich vom Parteikongress
       nach nordkoreanischer Regie krönen. Verräter stehen auch in Russland nicht
       hoch im Kurs.
       
       6 Dec 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Klaus-Helge Donath
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Blogger Alexei Nawalny: Die neue Kultfigur der Opposition
       
       Er ist der unerschrockene Herausforderer des Kremls. Alexei Nawalny
       prangert im Netz die Korruption in Putins Reich an. Auch wenn er dafür ins
       Gefängnis muss.
       
 (DIR) Proteste in Russland: "Wer steht gern als Vollidiot da?"
       
       Junge Menschen in Russland sind orientierungslos und meinen nichts
       erreichen zu können, sagt Autorin Alissa Ganijewa. Rechte Kräfte könnten
       das ausnutzen.
       
 (DIR) Demonstrationen in Russland: Clinton ist schuld
       
       Putin macht die US-Außenministerin für die Proteste gegen die Duma-Wahl
       verantwortlich. Medwedew kündigte eine Überprüfung der Betrugsvorwürfe nach
       der Wahl an.
       
 (DIR) Proteste in Russland: Druck der Straße lässt nicht nach
       
       Erneut demonstrieren in Moskau, Sankt Petersburg und in der Provinz
       Tausende gegen die gefälschten Wahlen. Expräsident Gorbatschow fordert
       Neuwahlen.
       
 (DIR) Musikkritker zu Wahlen in Russland: "Ich gebe Putin weniger als ein Jahr"
       
       Junge Leute tragen den Protest gegen die Duma-Wahlen, sagt Artemij
       Troizkij, einer der einflussreichsten Musikkritiker Russlands. Der Kreml
       werde weiterknüppeln.
       
 (DIR) Weitere Demonstrationen in Russland: Putins neue Gegner weichen nicht
       
       Truppen des Innenministeriums sollen neue Kundgebungen verhindern, doch die
       Proteste in Russland gegen den Wahlausgang gehen weiter. Hunderte
       Aktivisten wurden festgenommen.
       
 (DIR) Kommentar Russland nach der Wahl: Was tun mit diesem Land?
       
       Diejenigen, die gegen Russlands Obere aufbegehren, müssen unterstützt
       werden. Doch bislang war das nicht der Fall, weil die wirtschaftlichen
       Interessen wichtiger waren.
       
 (DIR) Duma-Wahl in Russland: Hacker-Angriffe auf liberale Medien
       
       Mehrere Medien und eine Wahlbeobachtergruppe glauben, von Putin-Anhängern
       gehackt worden zu sein. Online mehren sich Berichte über Unregelmäßigkeiten
       bei der Wahl.
       
 (DIR) Osteuropa-Experte über Wahl in Russland: "Viele Wähler haben die Nase voll"
       
       Putin hat den Unmut des Volkes völlig unterschätzt, sagt Osteuropa-Experte
       Cornelius Ochmann. Ausbaden muss es jetzt Medwedjew – und Sündenbock wird
       die Partei sein.
       
 (DIR) Dumawahl in Russland: Gefälschte Zustimmung
       
       Die Kremlpartei Vereinigtes Russland verliert kräftig und kommt nur durch
       Manipulationen zur absoluten Mehrheit. Wladimir Putin findet, damit sei der
       eingeschlagene Kurs bestätigt.
       
 (DIR) Kommentar Putins Wahlschlappe: Zu früh zum Frohlocken
       
       Das Wahlergebnis zeigt: Russland ist der selbstherrlichen und inkompetenten
       Selbstdarsteller überdrüssig. Ein demokratischer Aufbruch ist aber noch
       nicht in Sicht.