# taz.de -- Proteste in Russland: "Wer steht gern als Vollidiot da?"
       
       > Junge Menschen in Russland sind orientierungslos und meinen nichts
       > erreichen zu können, sagt Autorin Alissa Ganijewa. Rechte Kräfte könnten
       > das ausnutzen.
       
 (IMG) Bild: Keine Angst mehr: Junge Russinnen mit einem Putin-Gegner in St. Petersburg.
       
       taz: Frau Ganijewa, kam der massenhafte Protest gegen die Wahlfälschung
       unerwartet? 
       
       Alissa Ganijewa: Vorhersehbar war das nicht. 300 Demonstranten wurden
       erwartet, und 5.000 kamen. Das spricht für sich. Ich bin aber gespalten.
       Natürlich bin ich glücklich, dass das politische Bewusstsein im Volk
       erwacht. Doch besteht die Gefahr, dass Proteste von
       nationalistisch-rassistischen Kräften benutzt werden. Ich möchte einen
       evolutionären Weg zur Demokratie und fürchte die zerstörerische Kraft der
       Rechten, die sehr viel Zuspruch finden.
       
       Noch sind die Rechten aber nicht in Erscheinung getreten. 
       
       Nein. Wenn aber so populäre und ehemals liberale Figuren wie der Blogger
       und Antikorruptionskämpfer Alexej Nawalni an nationalistischen Aufmärschen
       teilnimmt, diskreditiert ihn das.
       
       Was halten Sie von Nawalni, der gerade zu zwei Wochen Haft verurteilt
       wurde? Er gilt als neuer Hoffnungsträger. 
       
       Hinter seiner Anbiederung an die Rechten steckt Kalkül. Er will in die
       Politik und schielt nach den nationalistisch gestimmten Wählern. Dafür
       schreibt er uns Kaukasier gern ab. Das hat etwas Heuchlerisches.
       
       Wie geht es jetzt weiter? 
       
       Die nächsten zwölf Jahre sind von Putin schon verplant. Wer wo sitzen wird,
       ist klar.
       
       Das glaubt die Regierungspartei Vereinigtes Russland. 
       
       Der Kreml wird bei den nächsten Wahlen Zugeständnisse machen müssen.
       Hauptsache, wir driften nicht in Anarchie ab.
       
       Klingt pessimistisch. Hat die Gesellschaft nichts gelernt? 
       
       Es gibt viele junge Leute, die keine Angst mehr haben. Und die
       Auseinandersetzung über Moral und Werte kehrt zurück. Früher gaben junge
       Mittelschichtler den Ton an, für die nur Materielles zählte. Das Pendel
       schlägt jetzt zurück. Meine Kollegen verklären das Landleben, lehnen
       kleinbürgerliche Sehnsüchte ab und spüren dem verloren gegangenen Gewissen
       nach. Eine Idealisierung der Sowjetunion greift um sich, kommunistische
       Werte zählen wieder, ohne dass man sich mit der Geschichte vertraut gemacht
       hätte. Linke Bewegungen haben unter Jugendlichen großen Zulauf. Das lässt
       sich nur zum Teil mit jugendlichem Infantilismus erklären.
       
       Steckt hinter dem Protest auch ein Generationenkonflikt? 
       
       Die jungen Leute sind orientierungslos. Sie haben das Gefühl, in einer Welt
       zu leben, in der sie nichts erreichen. Den Älteren werfen sie vor: Was habt
       ihr für uns getan, wenn ihr uns das Land in diesem Zustand hinterlasst?
       
       Spüren Sie bei einfachen Leuten einen Stimmungswandel? 
       
       Sie sind nicht mehr so apathisch. Zunächst waren sie von Putin begeistert.
       Weil sich nichts bewegte, verloren sie das Interesse. Doch als Medwedjew
       und Putin im September grinsend bekannt gaben, dass sie die Rollen tauschen
       und dies alles schon vor Jahren ausgekungelt wurde, war auch für sie das
       Maß voll. Wer steht schon gern als Vollidiot da? Sonst hätte Putin noch so
       weitermachen können.
       
       Russland hat die OSZE-Resolution gegen Internetzensur blockiert. Ein
       schlechtes Omen? 
       
       Ich habe Angst vor einer Zensur des Internets. Ich spüre keinen direkten
       Druck. Die Atmosphäre ist aber bleiern, moralischer Druck lastet auf dir,
       weil du weißt, dass du nichts zählst.
       
       Werden Sie ein weißes Bändchen, das Erkennungszeichen der Wahlprotestler,
       anstecken? 
       
       Vielleicht überzeugt mich noch jemand. Aber ich bin gegen Pathos und
       überflüssige Symbole. Was vermieden werden soll, sind politische Häftlinge
       und Märtyrer. Damit der Westen Ruhe gibt.
       
       9 Dec 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Klaus-Helge Donath
       
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