# taz.de -- Debatte Europa und seine Krise: Europa ist mehr als der Euro
       
       > Wenn die EU nur Nabelschau betreibt und sich im Krisenmanagement
       > verheddert, wird sie ihre Stimme in der Welt verlieren. Denn Aktionismus
       > löst keine Probleme.
       
 (IMG) Bild: Die große Europamüdigkeit macht sich breit.
       
       Wohltuend waren sie, die wenigen Minuten am vergangenen Freitag, als die in
       Brüssel versammelten Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union
       sich vom Krisentisch loseisten und den EU-Beitritt Kroatiens offiziell
       besiegelten. Festlich war die Stimmung da im Saal. Und irgendwie auch
       voller Hoffnung. Beides Attribute, die zurzeit selten sind bei
       Veranstaltungen in Brüssel.
       
       Denn die EU-Hauptstadt steckt ganz tief im Krisenschlamm. Und das ist
       mittlerweile nicht nur frustrierend für die Journalisten, sondern wird auch
       gefährlich für das gesamte europäische Projekt und die Rolle der
       Europäischen Union in der Welt. Die Erde hört schließlich nicht auf, sich
       zu drehen, nur weil ein paar Staaten in Europa zu hohe Schulden haben. Die
       Frage, wie viel Prozent Zinsen die Republik Griechenland oder das
       Königreich Spanien für ihre Staatsanleihen am Finanzmarkt bezahlen müssen,
       interessiert außerhalb des europäischen Kontinents herzlich wenig.
       
       Sicher: Die Banken-, Wirtschafts- und Schuldenkrise ist bedrohlich für die
       europäischen Länder. Es ist die Pflicht unserer Politiker, Auswege zu
       suchen und nicht die Hände in den Schoss zu legen und zuzuschauen, wie der
       Euro und die Europäische Union langsam, aber sicher untergehen. Das würde
       jedem beteiligten Kapitän später zur Last gelegt.
       
       ## Aktionismus statt Politik
       
       Der Aktionismus der vergangenen Wochen löst Europas Probleme jedoch auch
       nicht. Nach wie vor ist der Euro unter Beschuss - auch nach den Beschlüssen
       vom EU-Gipfel Ende vergangener Woche, bei dem die deutsche Kanzlerin Angela
       Merkel gegen den Widerstand des britischen Premiers David Cameron eine
       Änderung des EU-Vertrags durchgedrückt hat. In Zukunft wollen sich demnach
       alle Euro- und fast alle EU-Länder an strikte Haushaltsregeln halten und
       Brüssel eine strengere Kontrolle über die heimischen Finanzen einräumen.
       
       Aber weder die Börsen noch die Ratingagenturen zeigten sich davon
       beeindruckt. Die US-Ratingagentur Moody's bekräftigte gleich am Montag,
       dass sie die Eurostaaten demnächst einer genauen Prüfung unterziehen will
       und eventuell ihre Kreditwürdigkeit herabstufen wird - Vertragsänderung hin
       oder her.
       
       ## Europa verheddert sich und macht sich lächerlich
       
       Langsam, aber sicher macht sich die Europäische Union lächerlich. Ihre
       Politiker verbreiten einen andauernden Pessimismus. Und Europa verliert
       seine Stimme in der Welt, wenn es weiterhin nur Nabelschau betreibt und
       sich im Krisenmanagement verheddert. Die Krise ist längst zum Vorwand
       geworden, um sich nicht mit anderen, eigentlich genauso drängenden
       Problemen zu beschäftigen.
       
       Zwei Beispiele: Vor zwei Jahren haben sich die EU-Staaten dazu
       verpflichtet, dass ihre Regierungen bis zum kommenden Jahr ein gemeinsames
       europäisches Asylsystem erarbeiten müssen. Doch die zuständige
       EU-Kommissarin Cecilia Malmström kommt nicht vorwärts. Sie muss
       feststellen, dass es in der Krise unmöglich ist, Regierungschefs davon zu
       überzeugen, dass legale Einwanderung vereinfacht und Kriterien für
       politisches Asyl vereinheitlicht werden müssen.
       
       ## Krisenopfer Migrationspolitik
       
       Die Kommissarin ist verständlicherweise frustriert: Immer wieder wird ihr
       gesagt, die Arbeitslosigkeit sei zu hoch, um über Einwanderung zu sprechen.
       Aber dass das auch wieder anders werden wird, will keiner hören. Und das,
       obwohl die Zahlen eine klare Sprache sprechen: Im Gesundheitsbereich werden
       nach Schätzungen der Europäischen Kommission in ein paar Jahren 200.000
       Arbeitskräfte fehlen, Im IT-Sektor sogar 800.000.
       
       Auf diese Engpässe muss Europa sich vorbereiten. Jetzt. Trotz Krise. Sonst
       wird sich die Wirtschaft nie erholen können. Dazu kommt die humanitäre
       Dimension. In Syrien tobt nach wie vor der Kampf um den Machtwechsel. Und
       aus Nordafrika kommen noch immer Flüchtlinge übers Mittelmeer, die von
       einer Zukunft in der sicheren EU träumen. Das kann Europa nicht einfach
       ignorieren.
       
       ## Würdiger Umgang mit Flüchtlingen
       
       Wir haben eine Verantwortung, mit Flüchtlingen menschenwürdig umzugehen.
       Aber unsere Einwanderungspolitik ist das erste Opfer der Finanzkrise. Sie
       passt nicht in die Zeit. Also wird ihre eigentlich dringend anstehende
       Reform immer weiter verschoben - ungeachtet der Konsequenzen für
       Einwanderer und Wirtschaft.
       
       Das zweite Krisenopfer ist der Klimaschutz. Zwar haben gerade alle Länder
       in Durban erklärt, dass sie an einem Abkommen nach 2020 arbeiten wollen.
       Aber das war's dann auch schon. Umweltverbände und Klimaschützer
       bezweifeln, ob die Erklärung überhaupt etwas wert ist. Sicher ist, dass von
       Durban kein starkes Signal für mehr Klimaschutz ausgegangen ist. Und das
       liegt mit Sicherheit auch daran, dass die EU-Politiker, die einst als
       Vorkämpfer in Sachen CO2-Verminderung galten, zu Hause geblieben sind.
       
       ## Eurorettung geht vor Klimaschutz
       
       Angela Merkel, die sich noch vor wenigen Jahren als Klimakanzlerin feiern
       ließ, war die Eurorettung in Brüssel wichtiger. So wichtig, dass sie es
       auch vor und nach dem eineinhalbtägigen Gipfel in der EU-Hauptstadt nicht
       nach Südafrika geschafft hat. Sie schickte ihren Umweltminister. Die
       Konferenz und der Klimaschutz wurden damit auf den zweiten Rang verwiesen.
       So lassen sich weder Chinesen noch Amerikaner beeindrucken.
       
       Der Europäischen Kommission kann man in diesem Fall keinen Vorwurf machen.
       Sie versuchen einiges, was vor allem zwei engagierten Frauen, der
       Innenkommissarin Cecila Malmström und der Klimakommissarin Connie
       Hedegaard, zu verdanken ist. Aber die Mitgliedstaaten der Union ziehen
       nicht mit.
       
       ## Der Überblick geht verloren
       
       Die Krise ist zum Alibi geworden für Europas Politiker. Sie verstecken sich
       hinter Finanzproblemen, um unangenehmen Fragen auszuweichen. Sie drücken
       Sparprogramme durch, erfinden immer neue Rettungsschirme, Fonds und Regeln
       - und verlieren dabei den Blick fürs große Ganze.
       
       Derweil versinkt die Europäische Union in Hoffnungslosigkeit. Vom einstigen
       Projekt zur Einigung der Völker bleiben nur noch ein paar verbeulte
       Euromünzen übrig. Aber wer die Europäische Union auf den Euro reduziert,
       der gefährdet das gesamte europäische Projekt. Und das kann nicht mehr
       lange gut gehen.
       
       13 Dec 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ruth Reichstein
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Olympische Spiele 2024
       
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