# taz.de -- Debatte Einsamkeit: Mit Würde allein sein
       
       > Dauerhafte Kontaktlosigkeit gilt heute als individuelles Scheitern. Als
       > privates Schicksal. Diese Deutung zementiert die Isolation. Dabei gibt es
       > Alternativen.
       
 (IMG) Bild: Vereinsamung ist eher selten individuell bedingt.
       
       Vereinsamen gilt als privates Schicksal. Es erfasst einen, weil man Pech
       hat, weil man auf die falschen Strategien in seinen Beziehungen setzt, weil
       man psychisch dazu prädisponiert ist, oder einfach, weil man Menschen nicht
       leiden kann. Das stimmt so nicht. Unsere Gesellschaft verteilt
       Kontaktchancen – wie Reichtum – ungleich. Es ist an der Zeit der
       Vereinsamung wieder kollektiv zu begreifen. Aber wie ist das möglich? Die
       Reflexion auf die Frage, wie Vereinsamung in unserer Gesellschaft
       eigentlich erzeugt wird, kann bei dieser Überlegung helfen.
       
       Vereinsamung ist nicht nur ein gesellschaftliches Problem, weil Menschen an
       ihr leiden. Sie ist auch ein gesellschaftliches Problem, weil sie
       gesellschaftlich erzeugt wird. Je fortgeschrittener eine Gesellschaft in
       ihrer institutionellen und wirtschaftlichen Entwicklung ist, umso weniger
       Kontaktchancen zu Familie und Verwandten bietet sie. Die Nachbarschaften
       sind auf Grund der Berufsmobilität nur noch selten der Ort enger
       Freundschaften. Der soziale Kontakt findet immer häufiger vermittels
       technischer Hilfen statt. Prinzipiell hat unsere Gesellschaft die Tendenz,
       Kontaktchancen zu Nahpersonen zu verringern.
       
       In der Nachkriegszeit traf die Einsamkeit diejenigen, die ihre
       Familienangehörigen und Freunde in den Konzentrationslagern, auf den
       Schlachtfeldern, im Bombenhagel oder in den Nachkriegswirren verloren
       hatten: also potenziell alle. Vereinsamung gehörte zum kollektiven
       Schicksal einer gescheiterten Gesellschaft.
       
       ## Die einsamen Zurückgebliebenen
       
       Das Wirtschaftswunder und die darauf folgenden Wohlstandsjahre brachten
       hingegen eine prädestinierte Trägergruppe der Einsamkeit hervor: die
       Aufsteiger und ihre Familien. Man vereinsamte, weil man auszog, um es zu
       etwas zu bringen, oder aber man vereinsamte, weil man zurückblieb. Auch die
       Erfahrung der Einsamkeit durch Aufstieg in der Bonner Republik war folglich
       ein Los, das sich noch kollektiv begreifen ließ.
       
       Im Übergang von der Wachstumsgesellschaft zur Nullwachstumsgesellschaft
       verschwindet jedoch zusehends die Möglichkeit, das Vereinsamen als
       kollektives Schicksal zu verstehen. Auf Grund sozialstatistischer
       Erhebungen ist zu vermuten, dass Vereinsamung heute vornehmlich durch den
       Ausschluss von Arbeits- und Beziehungsmärkten erzeugt wird. Das Gefühl des
       Einsamseins häuft sich mittlerweile in einer disparaten Gruppe von
       Menschen, die sich nicht so recht zusammenbringen lassen: bei den Alten,
       Erwerbslosen und Alleinstehenden.
       
       Vereinsamung ist, wenn sie kollektiv gedeutet werden kann, nicht
       zwangsläufig ein schmerzlicher Makel. Die Jungen, die in einer Zeit des
       Wachstums von der Provinz in die Ballungszentren ziehen, leiden zwar auch
       an ihrer Vereinsamung. Das Gefühl der Einsamkeit birgt aber auch eine große
       Chance. Das Abweisende der neuen Stadt schürt den Ehrgeiz.
       Sozialpsychologische Studien belegen: Noch in den 1950er und 1960er Jahren
       war das Wort „einsam“ positiv besetzt. Es verhieß, Gefahren und
       Widrigkeiten die Stirn zu bieten. Tatsächlich förderte die Zurückweisung
       durch die Etablierten häufig die Kreativität der Aufsteiger. Viele
       sogenannte 68er haben das vorgeführt.
       
       ## Die Alten und die Jungen
       
       Die Alten hingegen, die die jungen Aufsteiger zurücklassen, können sich als
       Generation begreifen, die sich für die Chancen der Jungen geopfert hat.
       Ihre Isolation ist der Preis, den sie für die Zukunft ihrer Kinder zahlen.
       Auch in diesem Los liegt Würde.
       
       Das Modell aus dem Opfer der Vereinsamung Kraft für den sozialen Aufstieg
       zu gewinnen, kann in einer alternden, wirtschaftlich-dynamisch immobilen
       Gesellschaft nicht mehr kollektiv wirken. Im hyperrationalisierten Betrieb
       der deutschen Wirtschaft ist schon heute kaum Raum für den geregelten
       Aufstieg der Jungen. Im Regelfall ist es ungewiss, ob und wann man seine
       Chance bekommt. Sich auf Jahrzehnte in einen verbitterten Aufstiegskampf zu
       verbeißen, dabei in tausend Volten die eigene Innerlichkeit stets neu zu
       arrangieren und die eigenen Fertigkeiten neu zu justieren, führt schnell
       von der positiven Erfahrung der trotzigen Selbstschöpfung zur Erfahrung des
       Selbstverlusts.
       
       Für diejenigen, die bereits vom Arbeitsleben oder den Partnermärkten
       ausgeschlossen sind, ergibt das Modell obendrein von vornherein keinen
       Sinn. Vereinsamung wird so mehr und mehr zur Erfahrung eines individuellen
       Stigmas und hört auf, das Bewusstsein eines kollektiven Opfers zu sein.
       Aber wie kann aus der neuen Situation Würde gezogen werden, wie kann die
       Vereinsamung wieder als Chance für das Ganze begriffen werden?
       
       ## Neue Deutungsmuster
       
       Es wäre vermessen, Patentrezepte liefern zu wollen. Wichtig erscheint aus
       soziologischer Warte die Einsicht, dass das würdevolle Erleben der
       Einsamkeit in den Bonner Jahren auf einem bestimmten Verhältnis der Jungen
       zu den Alten gegründet war. Klar ist jedoch: Das Selbstverständnis von der
       geopferten Generation trägt in den Jahrgängen geringer Geburtenzahlen und
       kleiner Aussichten nicht mehr weit. Dass dies nicht das einzige sinnvolle
       Modell ist, durch das sich die Alten auf die Jungen in einer Gesellschaft
       beziehen können, halte ich für ausgemacht.
       
       Auch ist klar: Wir dürfen die Herausforderung einer alternden Gesellschaft
       nicht durch funktionale Arbeitsteilung lösen, weil sich dann weder das Los
       der Vereinzelung der Alten noch das der Jungen kollektiv begreifen lässt.
       Wir müssen neue kollektive Deutungsmuster finden, die es unseren
       Vereinsamten gestatten, sich dem Stigma des privaten Scheiterns zu
       entledigen. Dies würde den Vereinsamten wieder erlauben, würdig über ihren
       Alltag zu sprechen, weil es die Allgemeinheit beträfe und in dieser
       Entlastung läge schon eine enorme Befreiung.
       
       Es wäre daher schon viel gewonnen, wenn die Vereinsamten unter den Alten,
       Alleinstehenden und Erwerbslosen begriffen, dass ihre Schicksale durch sehr
       ähnliche Exklusionsprozesse bedingt werden.
       
       13 Apr 2012
       
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