# taz.de -- Klaus Baltruschat gestorben: Der Buchhändler und der Neonazi
       
       > Ein Berliner Neonazi wollte 1997 den Buchhändler Klaus Baltruschat
       > erschießen. Der überlebte und demonstrierte gegen Rechte. Nun ist er mit
       > 90 gestorben.
       
 (IMG) Bild: Hat 1997 einen Nazi-Angriff überlebt: Klaus Baltruschat
       
       Dieser Text über den Berliner Buchhändler Klaus Baltruschat ist erstmals im
       Jahr 2012 erschienen. Nun ist Baltruschat kurz vor seinem 91. Geburtstag
       gestorben, [1][teilte der Berliner Landesverband der Linkspartei mit]. Wir
       veröffentlichen aus diesem Anlass den Text erneut. 
       
       Berlin taz | Der November war nicht gut, sagt Käthe Baltruschat. Als sie in
       der Zeitung von den [2][drei Neonazis las, die jahrelang mit einer
       Kleinfeuerwaffe durchs Land gezogen waren und am Ende neun Migranten und
       eine Polizistin getötet hatten], ist es in ihrem Wohnzimmer ganz still
       geworden.
       
       „Wie Diesner“, hätten sie und Klaus sofort gedacht, sagt die Frau mit der
       kurz geschnittenen Dauerwelle. Zwei Wochen lang herrschte viel Schweigen.
       „Stimmt’s, Klaus?“ Käthe Baltruschat, die zwischen Wohnzimmer und Küche
       pendelt, bleibt kurz stehen. „Da hat man gemerkt, dass uns die Sache doch
       noch ganz schön bewegt.“
       
       Klaus Baltruschat nickt. „Stimmt schon.“ Der 77-Jährige mit den weißen
       Haaren ist kein Mann ausschweifender Worte. Ruhig folgen seine Blicke
       seiner Frau, die wieder in der Küche verschwindet. Baltruschat lehnt sich
       in ein Kissen seines Ecksofas. Vor ihm die helle Schrankwand, rechts ein
       Aquarium, links die tickende Wanduhr. Eine Neubauwohnung wie viele im Osten
       Berlins, Köpenick.
       
       Eigentlich, sagt Baltruschat, denke er täglich an Diesner. „Das wirste
       nicht los.“ Baltruschat hebt seine linke Schulter, an der sein Hemdärmel
       schlaff herunterhängt. „Wie auch?“
       
       ## Prall gefüllter Aktenordner
       
       Es war kurz nach neun Uhr am 19. Februar 1997, ein Mittwochmorgen. Klaus
       Baltruschat hat soeben seinen kleinen Buchladen in Berlin-Marzahn
       aufgeschlossen, der vor allem linke politische Literatur verkauft.
       Baltruschat ist der Erste im Haus, in dem auch der PDS-Abgeordnete Gregor
       Gysi sein Büro hat. Eine dörfliche Ecke, hinter der sich Plattenbauten
       erheben. Plötzlich steht ein Mann im Türrahmen zu Baltruschats kleinem
       Büroraum, in der Hand eine Schrotflinte.
       
       Baltruschat reißt noch die Arme hoch, dann beginnt der Mann zu schießen.
       Der damals 62-Jährige fällt zu Boden, sein linker Arm ist zerfetzt, die
       rechte Hand blutet. Der Unbekannte verschwindet. Baltruschat schleppt sich
       noch auf die Straße.
       
       Er wird überleben. Sein linker Arm und der kleine Finger der rechten Hand
       aber sind nicht mehr zu retten.
       
       Der Schütze wohnt nicht weit vom Buchladen entfernt, in einem der
       Hochhäuser: [3][Kay Diesner. Ein Berliner Rechtsextremist], kurze dunkle
       Haare, stoppeliger Bart, 24 Jahre alt. Vier Tage wird Diesner mit seinem
       Mazda-Kombi nach der Tat durch Norddeutschland irren, mit schusssicherer
       Weste, im Kofferraum ein Waffenlager. Pistolen, Macheten, Schlagstöcke.
       
       ## Blood and Honor prophezeit einen Bürgerkrieg
       
       Als Diesner auf einem Rastplatz bei Hamburg in eine Polizeikontrolle gerät,
       schießt er unvermittelt. Der 34-jährige Beamte Stefan Grage wird tödlich
       getroffen, sein Kollege schwer am Bein und im Gesicht verletzt. Diesner
       flüchtet mit seinem Mazda, beschießt alarmierte Polizeiwagen. Dann gibt er
       auf. Einen Polizisten blafft er an, warum man ihn nicht gleich erschossen
       habe?
       
       Diesners Tat fällt in eine Zeit, in der sich die rechte Szene Ende der 90er
       Jahre militant radikalisiert. Das Neonazi-Netzwerk Blood and Honor
       prophezeit einen Bürgerkrieg. [4][In Saarbrücken explodiert vor der
       Wehrmachtsausstellung ein Sprengsatz], in Berlin wird [5][der Grabstein des
       früheren Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, Heinz Galinski,
       gesprengt].
       
       Die Polizei beschlagnahmt bei Neonazis in Ingolstadt, Bocholt, Göttingen,
       Berlin und Bochum Rohrbomben, Gewehre oder Granaten. Im Januar 1998 auch in
       Jena. [6][Die drei Bombenbauer tauchen daraufhin unter. Beate Zschäpe, Uwe
       Mundlos, Uwe Böhnhardt.]
       
       Auf dem Wohnzimmertisch vor Klaus Baltruschat liegt ein Aktenordner, so
       prall gefüllt, dass die Deckel kaum schließen. Baltruschat hat alles über
       seinen Beinahmörder gesammelt. Artikel, Gerichtsdokumente, Propaganda von
       Rechtsextremen. Zwei weitere Ordner enthalten Briefe an Baltruschat nach
       dem Attentat. Während er im Krankenhaus liegt, betreiben Bekannte seinen
       Laden weiter, ehrenamtlich. „Das war schon eine starke Solidarität“, sagt
       Baltruschat.
       
       Solidarität, Baltruschat ist dieser Wert wichtig. Der Ostberliner war schon
       in der PDS, als diese noch SED hieß. Bis heute besucht er die Sitzungen
       seines Ortsverbands, am 1. Mai heftet er sich rote Nelken ans Revers.
       
       Die Polizei weiß anfangs nicht, dass ein Neonazi auf Baltruschat schoss.
       Sie ermittelt in alle Richtungen, prüft auch eine angebliche Liaison des
       Buchhändlers mit einer Frau – die Baltruschat, wie er später sagt, gar
       nicht kennt. Erst als die Beamten Diesner auf der Autobahn festnehmen,
       wissen sie, wer der Schütze von Marzahn war.
       
       ## Neugier statt Hass
       
       Als Kay Diesner im August 1997 vor dem Landgericht Lübeck der Prozess
       gemacht wird, reisen Klaus und Käthe Baltruschat zu jeder Verhandlung. Mal
       mimt der Neonazi den Abwesenden, mal den Provokateur. Er habe die PDS als
       „undeutsche Partei“ bestrafen und sich für einen Angriff von Autonomen auf
       eine NPD-Demo rächen wollen, sagt Diesner aus. Den „Bolschewisten“ habe er
       „nur anschießen“ wollen. Und was ist mit dem Polizisten, fragt der Richter.
       „Bullen“, sagt Diesner, könne man „in den Rücken, in den Kopf schießen, wo
       man sie trifft“.
       
       Klaus Baltruschat sagt, er habe keinen Hass auf Diesner empfinden können.
       „Da war einfach Neugier, warum so ein junger Mann zum Mörder wird.“
       Mehrfach hat Baltruschat versucht, Diesner zu treffen. Der lehnte ab,
       Baltruschat musste selbst nach Antworten suchen. „Diesner hat sich in
       seinen Hass total reingesteigert. Er war völlig fanatisiert von der rechten
       Ideologie.“
       
       [7][Im Dezember 1997 wird Diesner zu lebenslanger Haft verurteilt], mit
       besonderer Schwere der Schuld. Er landet in der JVA Lübeck, wo er heute
       noch einsitzt*. Seine erste Haftprüfung ist in zwei Jahren, 2014. Die
       Chancen auf Entlassung stehen schlecht.
       
       Baltruschat überlegt nach dem Urteil, einen Zivilprozess wegen
       Schmerzensgeld anzustrengen. Sein Anwalt rät ab: Vom verschuldeten Diesner
       sei nichts zu holen. Vom Staat, von der Polizei hört Baltruschat nichts
       mehr.
       
       Baltruschat hat dies verbittert, bis heute. Er legt ein Papier auf den
       Wohnzimmertisch, ein Volkskammergesetz. Die DDR, sagt er, habe jedes
       Gewaltopfer sofort entschädigt. Er will nicht gierig klingen. Sagt, es gehe
       ihm „ums Generelle“. Der Staat interessiere sich heute einfach nicht für
       die Opfer rechter Gewalt, für die 135 Toten seit der Wende. Aber gab es
       nicht jüngst für die zehn NSU-Opfer einen Staatsakt? „Ein Versuch,
       immerhin“, grummelt Baltruschat.
       
       ## Baltruschat will stark wirken, stärker als Diesner
       
       Petra Pau, Bundestagsvizepräsidentin der Linkspartei, rauscht im grünen
       Jackett in ihr Bundestagsbüro, lässt sich auf einen schwarzen Sessel
       fallen. Als Pau von der NSU erfuhr, rief sie noch am gleichen Abend die
       Baltruschats an. „Natürlich ging mir Diesner sofort durch den Kopf.“
       
       Pau war 1997 Berliner PDS-Vorsitzende, seit dem Attentat ist sie mit den
       Baltruschats befreundet. Die Tat, sagt sie mit leiser, rauer Stimme, sei
       ein Schlüsselereignis gewesen. „Danach war klar, welchem Themengebiet ich
       mich im Bundestag widme.“ Heute sitzt Pau für die Linke im
       Untersuchungsausschuss des Bundestags zu den NSU-Morden.
       
       Manchmal treffen sich Pau und Baltruschat auf Demonstrationen gegen
       Neonazis. „Er sieht das als seine Pflicht“, sagt Pau. Es ist auch ein Stück
       Selbstbehauptung. Als die NPD ihre Bundeszentrale nur wenige Straßen von
       Bultraschats Wohnung eröffnet, protestiert das Ehepaar davor für ein Verbot
       der Partei.
       
       Nach dem Attentat geht Baltruschat in Schulklassen, erzählte von seinem
       Schicksal. Trainiert weiter die Mädchen-Handballmannschaft von Ajax
       Köpenick. Geht zurück in den Buchladen, arbeitet noch fünf Jahre, bis zur
       Rente. „Klein beigeben“, sagt Klaus Baltruschat, „den Erfolg wollten wir
       Diesner nicht gönnen.“
       
       Baltruschat will stark wirken, stärker als Diesner. Doch manchmal ist die
       Angst wieder da. Der 77-Jährige spricht nicht gerne darüber, Ehefrau Käthe
       berichtet davon. „Wenn du ehrlich bist, gehst du bis heute nicht gern zur
       Tür, wenn’s klingelt.“
       
       Klagen aber wollen die Baltruschats nicht. Ursula von Seitzberg, die Mutter
       des getöteten Polizisten, habe „wirklich lebenslänglich“. Die Tat habe die
       72-Jährige gebrochen, berichten die Baltuschats. Bis heute gehe sie jeden
       zweiten Tag zum Grab ihres Sohnes. Von Seitzberg und Baltruschats haben
       sich angefreundet. „Wenn es ganz schlecht geht, besuchen wir uns.“
       
       ## „Eben Pech gehabt“
       
       Kay Diesner ließ im Prozess keine Reue erkennen, er tut es bis heute nicht.
       Briefe von Journalisten lässt er unbeantwortet. Für das rechtsextreme
       Knastheft JVA Report schrieb er 2009: Der „bolschewistische Funktionär
       hatte eben Pech, dass ich den da antraf“. In der Szene ist er bis heute
       nicht vergessen. Als sich Berliner Neonazis im Februar treffen,
       dokumentieren sie dies auf Fotos. Auf einem sieht man ein Banner: „Freiheit
       für K. Diesner“. 15 Jahre nach der Tat.
       
       Auch Diesner ist Ostberliner. 1989 flieht er in den Westen, später geht der
       gelernte Feinmechaniker in den Osten der Stadt zurück, verkehrt in einem
       von Rechtsextremen besetzten Haus in Lichtenberg. Er trifft den Landeschef
       der „Deutschen Alternative“, [8][Arnulf Priem], der sich als langhaariger
       Rocker gibt. Diesner wird zu Wehrsportübungen eingeladen. Bereits 1991
       steht er wegen einer Messerstecherei vor Gericht. Fünf Jahre später
       verhaftet man ihn wegen „Bildung eines bewaffneten Haufens“ um Arnulf
       Priem. Bei seiner Festnahme nach den Todesschüssen sagt Diesner, er kämpfe
       für den „Weißen Arischen Widerstand“.
       
       Baltruschat kennt die Biografie Diesners, er hat sie in seinem Ordner
       abgeheftet. Noch mehr als die Sache mit dem Schadensersatz hat ihn die
       Einschätzung der Ermittler enttäuscht, Diesner sei ein „Einzeltäter“. „Das
       war er nicht“, sagt Baltruschat. Diesner habe mitten in der rechten Szene
       gestanden. „Und seine Tat ist doch gewachsen aus dieser Gesellschaft.“
       
       Richter Fritz Vilmar ließ im Dezember 1997 die Frage der Einzeltäterschaft
       offen. Der Neonazi sei „alleiniges Subjekt“ der Verhandlung gewesen, heißt
       es im Urteil. Besessen von „einem Vernichtungswillen“ und einer
       „hemmungslosen Rachsucht gegenüber Andersdenkenden“.
       
       Auch Petra Pau zieht die Einzeltäterschaft infrage. „Diese Leute sind doch
       nicht vom Himmel gefallen.“ Die Parallelen, Diesner und die NSU, seien
       erschreckend. Die 48-Jährige beugt sich aus ihrem Sessel, blickt noch
       angestrengter. Ob sie denn selbst bis letzten November solch eine
       rechtsextreme Mordserie für möglich gehalten habe? Petra Pau stockt kurz,
       kneift die Augen zusammen. „Nein.“ Auch in Klaus Baltruschats Wohnzimmer
       liegt nach dieser Frage kurz Stille. Dann verneint er. „In diesem Umfang?
       Nein.“ So weit habe die Fantasie nicht gereicht, auch nach Diesner nicht.
       
       *Diesner wurde [9][im Jahr 2016 nach 19 Jahren Haft freigelassen].
       
       4 Jun 2012
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://dielinke.berlin/presse/detail/wir-trauern-um-klaus-baltruschat/
 (DIR) [2] /Nationalsozialistischer-Untergrund-NSU/!t5020499
 (DIR) [3] /Ultimativer-Maennlichkeitsbeweis/!1410854/
 (DIR) [4] /Die-CDU-hat-nicht-gesprengt/!1297980/
 (DIR) [5] /Die-Marmorplatte-zerriss-wie-Papier/!1098824/
 (DIR) [6] /10-Jahre-nach-dem-Auffliegen-des-NSU/!5808645
 (DIR) [7] /Kann-ich-nicht-rausgebracht-werden/!1370616/
 (DIR) [8] /Der-rechte-Pate-als-Freigaenger/!1388522/
 (DIR) [9] https://www.tagesspiegel.de/berlin/polizei-justiz/berliner-polizistenmorder-wieder-frei-3805441.html
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Konrad Litschko
       
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