# taz.de -- Demenzkranke: „Ich habe ein Leben gehabt“
       
       > Zehn Demenzkranke in einer WG: Wenn Kathrin Pläcking alte Menschen
       > betreut, sieht sie Möglichkeiten, nicht Grenzen. So kam sie auf einen
       > schockierenden Zukunftsroman.
       
 (IMG) Bild: Vergessen. Zurückerinnern. Bei Demenzkranken sind Erinnerungen nicht austauschbar – sie kommen in Bewegung.
       
       FREIBURG taz | Der Bundeswehrpilot sitzt auf dem Bett im Zimmer der
       Schauspielerin. Mit ihr und neun anderen lebt er in einer Wohngemeinschaft
       für Demente. Soeben hat er die Wäscheschublade der Diva durchsucht und
       einen Kleiderbügel gefunden. Den dreht er wie einen Propeller. Ist es ein
       Hubschrauber? Ein Windrad? Irgendwas mit Luft? Der Oberstleutnant weiß es
       nicht.
       
       Kathrin Pläcking, eine Pflegerin, ist dem Piloten nachgegangen und
       versucht, den stattlichen Mann zu überreden, das Zimmer zu verlassen. Aber
       gerade ist es seines. Pläcking betreut die Dementen. Sie ist ein ruhiger
       Mensch, beobachtet scharf, guckt hinter das, was sie sieht.
       
       Auf einem Schränkchen im Zimmer der Schauspielerin stehen alte Fotos – eine
       schöne Frau zu Pferde. Ob die Reiterin die Frau ist, die im Zimmer wohnt?
       Da der Pilot oft durch die Räume der Wohngemeinschaft wandert, sie sich
       aneignet für einen Augenblick, Sachen mitnimmt – Fotos, Vasen, Wäsche – und
       diese mit sich herumträgt, ist unklar, ob am Ende die richtigen Dinge
       wieder in den Zimmern landen, aus denen er sie genommen hat. So wird
       Erinnerung austauschbar.
       
       „Nein“, widerspricht Kathrin Pläcking, „die Erinnerung kommt in Bewegung,
       wird modifizierbar, wird weich.“ Die Schauspielerin bemerkt von all dem
       nichts. Sie sitzt im Rollstuhl am Esstisch in der Wohngemeinschaft. Eine
       Pflegerin führt eine Gabel mit Kuchen an ihren Mund und wartet, bis sie ihn
       öffnet.
       
       ## WG für Demenzkranke
       
       Zehn Demenzkranke zwischen 73 und 92 Jahren leben in der Lise-Meitner-Str.
       8 in Freiburg. Sie gehen, sprechen und erinnern sich später daran – oder
       auch nicht. Sie summen, singen, gießen Blumen – oder auch nicht. Sie
       waschen ab, lesen Zeitung, putzen sich die Zähne – oder auch nicht. Sie
       kaufen Toast und Eier ein – nicht allein. Die meisten wissen noch ihren
       Namen. Sie waren früher Logopädin, Pastor, Lehrerin, Hausfrau, Mutter. Der
       Pilot ist der Jüngste – mehr blond als grau, schneidig, aufrecht, schlank.
       Ein schöner Mann. Ein ruheloser Geist.
       
       Aus Kathrin Pläckings Aufzeichnungen: Der Pilot ist zwei Meter groß. Er
       steht auf dem Tisch. Vorsichtig steigt er zwischen der Vase mit den Blumen,
       der Milch und Marmeladen herum. „Eine total zerpflichtete Besorgung,
       Besargung“, erklärt er. Ich steige auch auf den Tisch. „Willst du
       spitzeln?“, fragt er. 
       
       Die Demenz-WG, „Woge“ heißt sie, ist im Vauban – dem neuen Freiburger
       Stadtteil, wo die Stadtplaner damit experimentieren, Ökologisches, Soziales
       und gutes Leben zusammenzubringen. Ein Haus mit Holz isoliert, freundliche
       Räume, ein großer Garten. Blumen blühen. Erdbeeren werden reif. Unweit des
       Hauses sind Bahngleise: Hamburg–Zürich, Berlin–Interlaken. Vorbeifahrende
       Züge sind zu hören, wie Musik.
       
       Miete, Essen, Betreuung in der WG kosten zweitausend Euro pro Person. „Es
       ist nicht wie Urlaub. Wenn es hier zu Ende ist, ist es zu Ende, also nicht
       mit mir zu Ende“, sagt eine, die früher viel gereist ist als Gattin eines
       Diplomaten. Und eine andere, die sich an eine Fluchtgeschichte aus
       Schlesien am Ende des Zweiten Weltkriegs erinnert, nur dass die Erinnerung
       jetzt weich und versöhnlich klingt, wie aus einer anderen Welt, sagt: „Ich
       werde hier gut versorgt.“ Warum sie aber hier sei, das wisse sie nicht. Sie
       habe ein Leben gehabt.
       
       ## Sind die Alten eine Last?
       
       Demografie ist so ein großes Wort. Es schlägt in Richtung der Alten. Von
       denen gebe es immer mehr. Dieser Umstand hat Echos – negative. Es heißt:
       Weniger Junge müssen für mehr Alte bezahlen. Die Solidargemeinschaft
       funktioniere so nicht. Es heißt: Weil die Leute immer älter werden, gebe es
       immer mehr Demente. Die Alten seien eine Last. Altenpflege sei eine
       Dienstleistung ohne Rendite. Es drohe ein Pflegenotstand. Jung sein wird
       wie ein Traum gehandelt, alt sein wie eine Wirklichkeit.
       
       Immer mehr Alte gibt es also: und deshalb auch immer mehr Menschen, die
       sich „zurückerinnern“, wie eine der Bewohnerinnen sagt. Wer Geld hat und
       Glück, weil es einen freien Platz gibt, darf als Zurückerinnernde in einer
       Wohngemeinschaft wie der Woge leben.
       
       Aus Pläckings Aufzeichnungen: Gestern sagte Frau B., die ganz Alte, die
       Logopädin: „Ich möchte mich etwas hinlegen. Neben einen Konjunktiv.“ 
       
       Kathrin Pläcking ist 53 Jahre alt. Sie arbeitet Teilzeit in der
       Wohngemeinschaft, eine Viertelstelle hat sie. Dazu ein paar Einnahmen als
       Fußpflegerin. Mehr Stunden als Pflegerin würde sie ungern machen – der
       Zeitdruck, den sie in Alteneinrichtungen zuletzt erlebt hat, die
       Arbeitsbelastung, jeden Schritt wolle der Träger quantifiziert haben, sagt
       sie. Sie kann nicht sehen, wie in der Quantifizierung der Arbeit eine
       Qualität liegen soll.
       
       In einer Einrichtung wie der Wohngemeinschaft im Vauban könne man als
       Altenpflegerin noch Mensch sein, nicht nur Maschine. Ursprünglich hat sie
       Landwirtschaft studiert und Mathematik – nicht zu Ende.
       
       ## „Erinnerungen sind das einzige, was bleibt“
       
       Pläcking wohnt fünf Kilometer von der Woge entfernt in einer spartanisch
       eingerichteten Wohnung in Littenweiler, jenem Stadtteil von Freiburg, der
       direkt in den Schwarzwald führt. Die zwei Zimmer, die Küche mit ihren
       Gebrauchsmöbeln – Tisch, Stuhl, Bett, roter Überwurf, ein paar Bücher im
       Regal, ein paar Postkarten an den Wänden – wirkt, als könnte Pläcking
       jederzeit die Koffer packen und gehen. In ihrer Küche hat sie Fotos ihrer
       Großmütter hängen. Eine, ihre Lieblingsoma, die Bäckersfrau, wurde 92
       Jahre. Im Ersten Weltkrieg verlor sie ihr Geld, im Zweiten ihr Haus, habe
       sie immer erzählt. Und sie mahnte. „Schafft euch Erinnerungen.“ Das sei das
       Einzige, was bleibt.
       
       Pläcking wohnt gerne hier. Hinter dem Haus hat sie ein Stück Rasen gekapert
       und Blumen gesät. „Ich bin in dem Alter, wo ich mich daran gewöhnen möchte,
       am Fenster zu sitzen und hinauszuschauen“, sagt sie.
       
       Aus Pläckings Aufzeichnungen: Frau R. im Bad, endlos schrubbt sie abends an
       ihrem Gebiss. Ich sitze auf dem Klodeckel, gar nicht verberge ich meine
       Ungeduld, vernehmlich seufze ich. Da dreht sie sich zu mir um, schaut mich
       an. Sagt sie: „Ist es nicht schön, dass ich dir so viel Zeit schenke?“
       
       ## Science-Fiction-Roman
       
       Pläcking hat einen Roman geschrieben. Er ist Science-Fiction,
       Gesellschaftskritik und Krimi in einem. „Erste Wahl“ heißt er und spielt in
       einer Zeit, in der die Partei namens „der Fortschritt“ regiert. Die hat
       einige Probleme – nicht nur mit Demokratie und Meinungsfreiheit, auch mit
       Demografie.
       
       Um die Kosten für die Alten zu beschneiden, beschließt die
       Fortschrittspartei Folgendes: Volle Rente bekommen Leute ab 70 Jahren. Mit
       75 müssen sie sich entscheiden. Entweder sie bekommen, bis sie 85 sind, nur
       noch die Hälfte und fliegen dann raus aus allen sozialen
       Sicherungssystemen. Oder: Sie entscheiden sich für ein Szenario namens
       „Erste Wahl“: Der Verzicht auf Rente und Krankenversicherung wird mit einer
       einmaligen, hohen Abfindung honoriert. Ist die Summe aufgebraucht, können
       sie sich umbringen, dabei wird gerne assistiert.
       
       Auf diesem Tableau entwickelt Pläcking eine Familiengeschichte, die
       zwischen fünf Geschwistern spielt. Die Älteste, Susanne, bald 75, wird
       dement. Der Jüngste, 67 hat sich von der Familie abgesetzt, will ständig
       sein Glück machen und scheitert. Die drei anderen Geschwister lehnen,
       obwohl sie nicht wohlhabend sind, die „Erste Wahl“ ab und versuchen,
       Susannes Leben irgendwie zu organisieren. Als der jüngste Bruder doch
       wieder in die Familie einbezogen wird, manipuliert er die demente Susanne
       so, dass sie sich für die „Erste Wahl“ entscheidet. Das Geld geht auf sein
       Konto.
       
       Pläcking entwickelt Szenarien, wie die immer älter werdenden Menschen im
       Roman mit immer weniger Geld überleben, wie sich zaghafter Protest gegen
       „die Fortschrittspartei“ aufbaut, wie Demenz die Persönlichkeit der älteren
       Schwester verändert, aber nicht ihren Willen, wie der jüngste Bruder,
       nachdem er Susannes Geld verprasst hat, wieder auftaucht. Im Roman wird
       eine böse gesellschaftliche Vision entwickelt, die – und das macht die
       Spannung aus – denkbar ist, wenn Altsein, so wie bisher, als Makel gesehen
       wird. Am Ende gelingt es der Autorin im Roman aber doch, eine positive
       Utopie Wirklichkeit werden zu lassen.
       
       ## Diplomatengattin liebt Piloten
       
       Zurück in der Woge: Die Logopädin sitzt am Tisch und beobachtet alle. Die
       Dolmetscherin, geboren in Casablanca, läuft summend durch die Räume.
       Bonjour Madame, ça va? Sie lächelt. Die Hausfrau sitzt mit Handtasche auf
       ihrem Schoß in einer Ecke und wartet. Die Diplomatengattin, ganz in Grün
       gekleidet, hat sich verliebt und umarmt den Piloten, der einen unreifen
       Pfirsich aus seiner Tasche zieht. „Grün, grün, grün sind alle meine
       Kleider“, singt die Diplomatengattin, „grün, grün, grün ist alles, was ich
       hab.“ Die Sekretärin stimmt mit ein. „Darum lieb ich alles, was so grün
       ist, weil mein Schatz ein Jäger, Jäger ist.“
       
       Die Alten in der Demenz-WG sind wie Durchreisende. Als stünden sie schon
       halb im Unbewussten. Sie zu fragen, was sie uns noch sagen wollen, wäre
       irrelevant, meint Pläcking. „Sie wollen uns nichts sagen, aber wir sollen
       ihnen zuhören.“ Nicht für sie, sondern für uns.
       
       Aus Pläckings Aufzeichnungen: Frau O. fragt: „Was ist der Plural von zwei?“
       Langes Nachdenken: Ein Pflegerin antwortet: „Zweifel?“ Frau O. lacht. Eine
       andere Pflegerin sagt: „Zwölf?“ Frau O. lacht. Ich sage: „Zwiebel?“ Fr. O.
       lacht. 
       
       ## Der Roman „Erste Wahl“ von ist im Mabuse Verlag erschienen, 184 S.,
       16,90 Euro
       
       15 Jun 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Waltraud Schwab
 (DIR) Waltraud Schwab
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Sterne
 (DIR) Altenpflege
 (DIR) G8-Gipfel
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Mechaniker wird Künstler: Onkel Ernst malt jetzt Sterne
       
       Der 90-jährige Ernst Schwab war Mechaniker. Lieber wäre er Künstler
       geworden. Was er sieht, bannt er auf Papier – auch mehr als 1000 Sterne.
       
 (DIR) Schweigsame Pflege: Heime sind gegen Transparenz
       
       Um die Altenpflege zu verbessern, will die Gesundheitsbehörde Bewohner und
       Beschäftigte befragen und das Ergebnis veröffentlichen. Heimbetreiber sind
       dagegen.
       
 (DIR) G-8-Gipfel zu Demenz in London: Eine weltweite Volkskrankheit
       
       Die G-8-Staaten wollen bei der Erforschung für Demenzkrankheiten stärker
       kooperieren. Bis 2025 wollen sie ein wirksames Medikament entwickeln.
       
 (DIR) Weltalzheimertag: Wenn die Worte verschwinden
       
       Demenz-WGs funktionieren nur mit genügend Personal. Denn einige Bewohner
       vergessen mitunter, dass man sich schon mal getroffen hat.
       
 (DIR) Debatte zu Pflegeversicherung: Die neuen Körperklassen
       
       Mit vollen Windeln zu lange im Bett: Die Pflegefrage berührt Tabuzonen in
       der Leistungsgesellschaft. Der „Pflege-Bahr" verstärkt die Schieflage.
       
 (DIR) Neue private Pflegeversicherungen: Für Frauen ist Unisex billiger
       
       Pflegeversicherungen für Frauen kosten mehr, Vorerkrankte werden gar nicht
       erst aufgenommen: Neue Reformen soll das ändern. Die Auswirkungen sind kaum
       zu berechnen.
       
 (DIR) Regisseurin über Filme für Demenzkranke: "Ich verliere langsam die Angst"
       
       Sophie Rosentreter zog sich für den Playboy aus und moderierte bei MTV.
       Nachdem ihre Großmutter an Alzheimer starb, begann sie, Filme für
       Demenzkranke zu drehen.
       
 (DIR) Frühe Diagnose bei Alzheimer möglich: Da war doch was?
       
       Immer noch unheilbar: Alzheimer. Nicht mal die Ursache für die Krankheit
       ist bekannt. Mit Hilfe von Biomarkern kann sie inzwischen aber früh
       diagnostiziert werden.
       
 (DIR) Pflege von Demenzkranken: Recht auf ein selbstständiges Leben
       
       Der Ethikrat fordert, die Wünsche von Menschen mit Demenz stärker zu
       berücksichtigen. Dafür sollten „mehr finanzielle Ressourcen als bisher
       aufgewendet werden“.
       
 (DIR) Kommentar Demografie: Willkommen im leeren Deutschland
       
       Durch die demografische Entwicklung läuft Deutschland auf eine
       Zweiklassenrepublik hinaus. Hier die vollen, lebendigen Städte, dort die
       menschenleere, abgeschriebene Provinz.
       
 (DIR) Museum für Demenzkranke: Kunst, die Erinnerungen weckt
       
       In Bremen finden nach amerikanischem Vorbild Kunstgespräche mit
       Demenzkranken und ihren Angehörigen statt. In der Auseinandersetzung mit
       den Bildern findet so mancher seine Vergangenheit wieder.