# taz.de -- Taktikblogger über die EM: „Die falsche Neun ist gar nicht falsch“
       
       > Tobias Escher erklärt, mit welcher Strategie Portugal gegen Spanien
       > gewinnen kann. Auch kennt er die Stärken der Defensivreihen und weiß, ob
       > man heute noch einen Mittelstürmer braucht.
       
 (IMG) Bild: Auch eine Möglichkeit: Kroatien versucht es mit der „Alle gegen einen“-Taktik gegen Spaniens Iniesta.
       
       taz: Herr Escher, langweilt Sie das spanische Spiel auch schon wie so viele
       Kommentatoren? 
       
       Tobias Escher: Nein, mich langweilt das nie. Aber ich mag es im
       Zweifelsfall auch, wenn ein Team gut kontern kann.
       
       Den Spaniern wird vorgeworfen, zu langsam und zu wenig abschlussorientiert
       zu spielen. 
       
       Das Problem ist, dass sie zwar ein sehr starkes Passspiel haben, aber
       niemanden, der dieses Spiel umsetzen kann. Bei Barcelona gibt es ja noch
       David Villa, der auch mal in den Ball reingeht oder Läufe in die Spitze
       macht. Der fehlt bei den Spaniern, deswegen wirkt ihr Spiel noch stärker
       als sonst auf Ballbesitz statt auf Effektivität bedacht. Aber ich sehe das
       nicht so kritisch wie andere – die Spanier haben nicht allzu viele
       Gegentreffer bekommen, und ich hatte nie das Gefühl, dass sie gefährdet
       sind.
       
       Was macht die spanische Defensive so gut? 
       
       Na ja, wer den Ball hat, kann schlecht ein Gegentor einfangen. Die Spanier
       attackieren früh, wobei ihr Pressing bei dieser EM nicht so stark ist wie
       bei den letzten Turnieren, da haben sie ein bisschen abgebaut. Es wird für
       sie auf jeden Fall schwer gegen die Portugiesen. Denn die haben bei der EM
       das System gespielt, das eigentlich am besten auf Spanien eingestellt ist.
       
       Warum? 
       
       Sie haben ebenfalls ein sehr eng gestaffeltes Zentrum. Auf den Flanken
       arbeitet Nani sehr gut mit. Das heißt, Ronaldo wird relativ weit vorne
       bleiben können, ohne dass es großen Schaden macht. Und wenn eine Mannschaft
       schnell spielen kann und schnell auf die Flügel kommen kann, dann wird
       Spanien Probleme bekommen – das ist zum Beispiel gegen Frankreich
       aufgefallen. Italien hat das noch am besten hinbekommen. Und Portugal kann
       gerade das besonders gut, deswegen kann das sehr gefährlich werden.
       
       Wie werden die Spanier Ronaldo in Schach halten? 
       
       Wahrscheinlich werden sie mit ihrem Pressing versuchen, die Pässe gar nicht
       erst nach vorne kommen zu lassen. Ronaldo ist ja immer dann gefährlich,
       wenn er Platz hat. Und wenn er den auf den Flügeln nicht bekommt, dann
       sucht er ihn sich halt im Zentrum.
       
       Wie könnte Spanien das verhindern? 
       
       Zum Beispiel mit Navas, der bis jetzt immer von der Bank gekommen ist. Er
       könnte auf rechts außen kommen und dann hinter Ronaldo ein bisschen für
       Wirbel sorgen. Da könnte er auch Portugals Linksverteidiger Coentrão in
       Schach halten. Eventuell sollte noch Llorente vorne rein, als Abnehmer für
       Flanken.
       
       Sollten die Spanier wie gegen Kroatien und Frankreich mit einer falschen
       Neun oder wie gegen Irland mit Torres antreten? 
       
       Torres hat noch nicht viel gebracht bisher. Ich finde die falsche Neun gar
       nicht so falsch, auch wenn das jetzt blöd klingt. Gerade Portugal hat im
       Zentrum sehr gute Spieler, da sollten die Spanier versuchen, noch weiter in
       die Tiefe zu gehen und trotzdem Überzahl herzustellen. Spektakulär war,
       dass die Spanier gegen Italien und Kroatien durch die Mitte kommunizierten,
       obwohl beide Gegner mit jeweils sechs Leuten im Zentrum standen.
       
       Die portugiesische Abwehr gilt als eine der besten des Turniers. Was macht
       sie richtig? 
       
       Die stehen sehr gut. Veloso, der mir sehr gut gefällt, steht direkt vor der
       Viererkette, und sobald sich eine Lücke auftut, hilft er da aus. Er hat
       eine ganz tolle Antizipation. Das hat man vor allen Dingen gegen
       Deutschland gesehen. Wenn zum Beispiel einer von den Außen mal nach vorne
       geht, dann sichert Veloso ab, so können gar keine Lücken entstehen.
       
       Die Spanier spielen oft ganz ohne Stürmer, viele Teams stellen nur noch
       einen auf. Stirbt der klassische Stoßstürmer aus? 
       
       Nein, das glaube ich nicht. Es kommt immer darauf an, was eine Mannschaft
       möchte. Wenn man wie Spanien viel auf Ballbesitz geht und es darum geht,
       durchzukombinieren, anstatt eine Flanke reinzuschlagen, dann ist das kein
       falsches Rezept. Aber es gibt auch Mannschaften, die mit zwei Stürmern
       relativ erfolgreich sind. Wenn ich einen Stürmer habe, bin ich vorne von
       dem abhängig, habe aber dahinter mehr Kombinationsstärke. Ich finde immer
       diese Diskussion, wie viele Stürmer man haben sollte, eher überflüssig. Es
       kommt darauf an, was man erreichen möchte.
       
       Haben Sie ein Lieblingsspielsystem? 
       
       Es gibt nicht das perfekte Spielsystem. Das ist immer eine Antwort auf die
       Zeit und entwickelt sich. Wir sehen heute auch vieles wieder, was in den
       Fünfzigern im Fußball aktuell war.
       
       Zum Beispiel? 
       
       Raumdeckung war ja lange ganz normal, und dann kam erst die Manndeckung.
       Heute ist die Raumdeckung wieder total im Trend, das ist immer so eine Art
       Spirale.
       
       Auf [1][spielverlagerung.de] schreiben Sie lange Vorberichte und Analysen
       zu einzelnen Spielen – die Vorschauen auf Deutschlandspiele umfassen
       ausgedruckt oft sechs Seiten. Wofür der ganze unbezahlte Aufwand? 
       
       Aus Spaß an der Freude. Nach der WM 2010 haben wir fünf uns zusammengetan,
       vorher hat jeder für sich gebloggt. Es hat mit einem Freizeitprojekt
       begonnen, aber mittlerweile relativ große Ausmaße angenommen.
       
       Für wen schreiben Sie? 
       
       Wir sind natürlich Freaks, und unser Angebot ist nicht für den Massenmarkt.
       Das ist wirklich nur für Leute, die sich sehr für die Mechanismen
       interessieren, die hinter den einzelnen Mannschaften stecken.
       
       Man kann als Laie kaum überprüfen, ob das, was Sie schreiben, auch stimmt. 
       
       Das, was wir schreiben, ist nicht der Kelch der Wahrheit oder so. Es ist
       viel Interpretation. Wir schreiben zwar, ein Trainer habe eine taktische
       Variante aus den und den Gründen gewählt, aber er kann natürlich auch eine
       ganz andere Idee gehabt haben.
       
       Wie finden Sie die EM-Berichterstattung in Fernsehen und Presse? 
       
       Ich kann verstehen, dass bei einer EM nicht allzu detailliert und komplex
       darüber debattiert wird, was auf dem Spielfeld passiert ist, dafür sind es
       zu viele Zuschauer, die sonst nie Fußball schauen. Was mich aber ärgert,
       ist, dass bei Spielen mit viel weniger, aber fachkundigeren Zuschauern
       genauso berichtet wird. Und noch mehr ärgern mich die Zeitungen, da ist
       viel zu wenig Analyse. Einen Spielverlauf braucht man am nächsten Tag nicht
       noch mal. Stattdessen würde mir mehr Tiefgang gefallen.
       
       Freuen Sie sich denn über allgemeine Fußballbegeisterung? 
       
       Natürlich.
       
       Wer wäre der bessere Gegner für Deutschland: Spanien oder Portugal? 
       
       Portugal haben wir schon einmal bei diesem Turnier geschlagen, also wäre es
       natürlich Portugal.
       
       Und aus taktischer Sicht? 
       
       Auch da. Deutschland spielt erfolgreich auf Ballbesitz, und gegen Spanien
       wird das sehr schwer. Und dann kommt es darauf an, wie gut die Verteidigung
       ist. Da sehe ich noch ein paar Probleme bei den Deutschen.
       
       Welche? 
       
       Beim Zurückarbeiten und dem Nichtentstehenlassen von Lücken. Gegen
       Griechenland haben sie ja relativ risikoreich gespielt, und entsprechend
       gab es dann einige Lücken, die die Griechen nur ein einziges Mal gut
       ausgespielt haben beim 1:1. Das ist gegen Spanien nicht so gut.
       
       Wer wird Europameister? 
       
       Das wird ganz eng. Ich glaube sogar, dass Portugal im Halbfinale die
       Überraschung gegen Spanien schaffen kann. Im Finale wird dann aber der
       Sieger des Duells zwischen Deutschland und Italien das Rennen machen. Bei
       den beiden kann ich gar nicht absehen, wer gewinnt.
       
       27 Jun 2012
       
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