# taz.de -- Gentrifizierung vor Olympia: Von New Labour zu New London
       
       > Ist der Londoner Olympia-Traum ein humaner Gegenentwurf zu Thatchers
       > unsozialer Docklands-Sanierung? Anspruch und Wirklichkeit einer
       > städtischen Metamorphose.
       
 (IMG) Bild: Das kann sich nicht jeder leisten: Die Shoppingmall „Westfield“ als Durchgang zum Olympiagelände
       
       Julian Cheyne hat derzeit viel zu tun: Interviews geben, einen alternativen
       Fackellauf organisieren, die Webseite GamesMonitor füllen. Der
       großgewachsene Mittsechziger ist kritischer Olympia-Beobachter, schon aus
       persönlichen Gründen: Die Siedlung Clays Lane in Ostlondons Lower Lea
       Valley, in der er Mieter eines kleinen Bungalows war, wurde vor fünf Jahren
       Opfer von Bulldozern. An ihrer Stelle stehen nun die
       Versorgungseinrichtungen für das olympische Dorf.
       
       Tausende AthletInnen haben inzwischen hier ihre Unterkünfte bezogen, in
       zumeist achtstöckigen Blöcken, die den sterilen Charme der Berliner
       Neubauten aus den 1990er Jahre verströmen. Am Freitagabend werden sie in
       das 80.000 Zuschauern Platz bietende Olympiastadion einziehen. Darum herum
       gruppieren sich temporäre Leichtbauhallen, aber auch das von
       Stararchitektin Zaha Hadid entworfene Schwimmstadion und die von der Kritik
       hochgelobte muschelförmige Gestalt des Velodrome.
       
       Und im Nordwesten des Olympiageländes an den Ufern des Lea River und seiner
       Nebenarme, zwischen den Bezirken Newham, Hackney, Tower Hamlets und Waltham
       Forest, stehen die klobigen Komplexe des Medienzentrums.
       
       An seinen Rändern gleicht das Olympiagelände einem schwer bewachten
       Flughafen. Ein elf Kilometer langer Zaun umgibt das Areal, streckenweise
       mit einer Ladung von 5.000 Volt geladen. An den Eingängen: Checkpoints mit
       Fahrzeugbarrieren, Personenscanner, Soldaten zur Taschenkontrolle. Von
       Weitem prägt der ArcelorMittal Orbit die Szenerie – eine 115 Meter hohe
       begehbare Riesenskulptur von Anish Kapoor, finanziert vom reichsten Mann
       Großbritanniens, Stahl-Tycoon Lakshmi Mittal. „Verbogene Spaghetti“ ist
       noch der neutralste Name, den ihr der Volksmund verliehen hat.
       
       ## Räumen für Olympia
       
       „Ende 2003 wurde uns zum ersten Mal mitgeteilt, dass man unsere Siedlung
       abreißen will“, erinnert sich Julian Cheyne. Und als London 2005 den
       Zuschlag für Olympia erhielt, bedeutete das das endgültige Aus für den
       Clays Lane Estate. Für die Mieter wurde ihre Räumung zum aufreibenden Kampf
       mit der lokalen Entwicklungsbehörde LDA. „Ein großer Teil von uns wollte
       gemeinschaftlich umziehen, die LDA hat das aber ins Leere laufen lassen“,
       so Cheyne. Rund 450 Personen wurden umgesetzt. Sie leben heute über
       Ostlondon verstreut. Preiswerte Mieten zahlt keiner mehr.
       
       Cheyne ärgert sich: „Die Olympia-Planer vermitteln der Öffentlichkeit das
       falsche Bild, sie hätten im Lower Lea Valley nur Brachland vorgefunden.“
       Das Gebiet war einst Kernland der Industrialisierung Londons. Eine
       extensive Chemieindustrie, die Ende des 20. Jahrhunderts der
       Deindustrialisierung zum Opfer fiel, hinterließ verseuchte Böden. Doch an
       ihrer Stelle eroberte sich die Natur Gelände zurück, es entstanden
       Schrebergärten und Fußballplätze.
       
       Das Lower Lea Valley blieb auch Gewerbegebiet. Es wurde zum Magen- und
       Darmtrakt der Weltmetropole London: Lebensmittelverarbeitung und
       Müllrecycling fanden hier Platz. In alten Lagerhallen gab es kleine
       Werkstätten und Künstlerateliers. Das olympische Zwangsenteignungsverfahren
       traf rund 208 Firmen mit etwa 5.000 Jobs. Nicht alle haben eine Umsiedlung
       geschafft.
       
       ## Glaspaläste für die City
       
       Noch in den 80er Jahren hatten die Labour-regierten Stadtbezirke versucht,
       im Widerstand gegen die konservative britische Thatcher-Regierung die
       industrielle Beschäftigung im Lower Lea Valley zu erhalten. Zugleich
       stellten sie die Natur entlang der Wasserläufe unter Schutz. Ihre Politik
       konnte damals als Gegenmodell zu den Docklands begriffen werden, weiter
       südlich. Dort sollte die Umwandlung des aufgegebenen Hafens und der Werften
       in einen Finanz- und Geschäftsdistrikt mit „schöner Wohnen“ an der
       Wasserkante in Londons Osten neuen Aufschwung bringen.
       
       Die Verwandlung der Docklands, realisiert in einer Sonderzone, in der
       normales Planungs- und Steuerrecht ausgehebelt war, geriet zur gebauten
       Manifestation der Thatcher-Politik. Es entstand ein gigantisches
       Büroviertel mit für damalige Verhältnisse kühnen Hochhausbauten. Die neue
       Zitadelle des Geldes prosperierte. Doch für den armen Rest des Ostens bot
       sie im besten Falle Jobs als Fensterputzer oder Tellerspüler.
       
       Die Glas- und Stahlpaläste der Docklands bilden bis heute einen scharfen
       Kontrast zu den vernachlässigten Sozialbausiedlungen der Umgebung. Und der
       unaufhaltsame Boom von Londons Finanzsektor ließ den Hunger nach neuen
       Flächen so groß werden, dass ab Mitte der 90er Jahre auch das Lower Lea
       Valley ins Blickfeld der Immobilienentwickler rückte.
       
       Nun attestierten ihm Planungsdokumente „Entwicklungsbedarf“, so auch der
       Gesamtplan für London, den Ken Livingstone als neugewählter parteiloser
       Bürgermeister der Themse-Metropole ab 2000 ausarbeitete, in der Zeit der
       New-Labour-Regierung von Tony Blair mit ihren Erneuerungsvisionen für
       Großbritannien im neuen Jahrtausend.
       
       ## Olympia-Projekt als soziale Alternative
       
       In den 1980er Jahren gab Livingstone, damals noch linkes Aushängeschild der
       Labour-Partei, als Vorsitzender der damaligen Stadtregierung GLC (Greater
       London Council) den linken Gegenspieler Thatchers mitten in der Hauptstadt.
       Er konterkarierte die neoliberale Wirtschaftspolitik mit einer Strategie
       des kommunalen Sozialismus und war Thatcher ein solcher Dorn im Auge, dass
       sie kurzerhand den ganzen Magistrat abschaffte. Schon damals schlugen
       konservative Lokalpolitiker vor, das Hafengelände zum Olympiastandort zu
       machen. „Red Ken“ verwarf dies als rechte Fantasie.
       
       Aber 2000, in seiner Reinkarnation als Londons Bürgermeister, begab sich
       Livingstone in friedliche Koexistenz mit der City, die zuvor für die
       Wiedereinführung einer Gesamtlondoner Stadtverwaltung plädiert hatte. Und
       als dann die damalige Labour-Sport- und -Kulturministerin Tessa Jowell mit
       der Idee einer Olympia-Bewerbung ankam, sagte Livingstone nicht Nein.
       
       Er machte sich das Olympia-Projekt zu eigen, als freundlichere Alternative
       zum spekulationsgetriebenen Docklands-Umbau und als Möglichkeit,
       Staatsgelder in den vernachlässigen Osten seiner Stadt zu lenken.
       
       ## Das Mantra der Sommerspiele 2012
       
       „Legacy“, „Vermächtnis“, wurde zum Mantra der Londoner Spiele 2012: Wichtig
       ist, was hinten rauskommt. Nicht nur sollten die neuen Wettkampfarenen das
       im Osten herrschende Defizit an Anlagen für den Breitensport mindern
       helfen. Aus dem Lower Lea Valley sollte nach den Spielen der größte Park
       Londons seit 150 Jahren werden. Das olympische Dorf würde ein Stadtviertel
       mit 50 Prozent „erschwinglichem“ Wohnraum, dazu kämen weitere neue
       Siedlungen und soziale Einrichtungen am Parkrand. Die Planung versprach
       auch 12.000 permanente neue Jobs im Olympiapark.
       
       „Verbitterung könnte ein Vermächtnis der Spiele werden“, stellt heute
       Amanda Bentham fest, eine Lehrerin aus dem Ostlondoner Bezirk Tower
       Hamlets. „Die Spiele haben dem Bezirk bisher überhaupt nichts gebracht. Er
       ist nichts weiter als der Durchgang für die Reichen aus Westlondon, die auf
       Extrafahrspuren ins Olympiagelände brausen.“ Sogar der Marathonlauf sei vom
       Osten in den Westen verlegt worden, „für schönere Fernsehbilder“, vermutet
       die kurzhaarige Dreißigjährige.
       
       Die Lehrer hätten sich bemüht, den Schülern die positive Botschaft
       olympischer Werte zu vermitteln. Diese könnten sich aber keine Tickets
       leisten und würden jetzt von Olympia nur Scharfschützen und Raketen auf den
       Dächern zu sehen kriegen.Mit ihrer Ansicht ist Bentham nicht allein. Zwar
       werden in den Olympia-Bezirken Menschenmengen auf Großbildleinwänden die
       Wettkämpfe mitverfolgen, auch beim Fackellauf waren die Straßen voll. Aber
       ansonsten fühlen sich viele außen vor.
       
       Der inklusive, soziale Anspruch des Olympia-Projekts, sagt Stadtforscher
       Gavin Poynter von der University of East London, erweist sich bisher als
       reine Rhetorik. Mit dem Wort „Legacy“ wird die breite Bevölkerungsmasse auf
       ein zukünftiges Datum vertröstet. Vorher profitieren erst mal die
       Investoren. Dass Ken Livingstone 2008 als Londoner Bürgermeister vom
       Konservativen Boris Johnson abgelöst wurde, ändert daran nichts.
       
       ## Gremien ohne Kontrolle
       
       Wie schon in früheren Gastgeberstädten der Sommerspiele wurde auch in
       London mit Hinweis auf den rigiden Zeitplan eine größere Teilhabe der
       Bevölkerung am Planungsprozess abgewehrt. Stattdessen erleichterte das
       Parlament durch Gesetzesänderungen Baugenehmigungen und Zwangsräumungen.
       
       Im Olympiagelände schalten und walten Agenturen und halbstaatliche Gremien,
       die sich demokratischer Kontrolle entziehen, nicht zuletzt das IOC. Nach
       der Geländeräumung durch die LDA übernahm die Olympic Delivery Authority
       (ODA) das Areal, um die Sportarenen zu errichten. Nach 2012 soll die London
       Legacy Development Corporation den Olympiapark betreiben. Die Parallelen zu
       den Docklands sind offensichtlich.
       
       Autorin Anna Minton macht den weltweit größten Shopping-Mall-Betreiber, den
       australischen Konzern Westfield, als einen der Profiteure Olympias aus, und
       sieht das in der Bahnprivatisierung Mitte der 90er Jahre angelegt. Das
       Unternehmen London & Continental erhielt damals den Auftrag zum Bau einer
       neuen Schnellbahntrasse vom Kanaltunnel ins Zentrum Londons und erwarb
       zugleich das stillgelegte Bahnbetriebswerk in Stratford am Südostende des
       heutigen Olympiaparks.
       
       Zusammen mit weiteren Investoren wollte London & Continental dort einen
       Fernbahnhof plus Einkaufszentrum bauen, unter anderem mit Westfield. Erst
       als Westfield unter Billigung Livingstones alle anderen Anteilseigner
       ausbezahlte, nahm das Vorhaben Gestalt an. Der Konzern bekam auch den
       Zuschlag für Finanzierung und Bau des olympischen Dorfes, den er an die
       Firma Land Lease weitergab. Dessen Exchef David Higgins stand an der Spitze
       der ODA.
       
       ## Besuchermagnet Shoppingmall
       
       In der Finanzkrise 2007/2008 konnte Land Lease weder das Geld für das
       olympische Dorf aufbringen, noch beeilte sich Westfield mit dem Bau der
       Shopping Mall. Folglich wurde das Dorf vollständig aus öffentlicher Hand
       finanziert und Land Lease erhielt Geld für das Projektmanagement. Da die
       Jobs, die in der Shopping Mall entstehen sollten, stets in das olympische
       Beschäftigungsplus mit eingerechnet wurden, hatte der Staat ein unbedingtes
       Interesse an deren Realisierung. Er subventionierte Westfield mit 200
       Millionen Pfund für den Bau von Zufahrtstraßen, die ja zugleich auch ins
       Olympiagelände führen sollten.
       
       Die meisten Olympia-Besucher werden durch die neue Shopping Mall zu den
       Wettkampfstätten geschleust. Seit ihrer Eröffnung ist sie ein
       Besuchermagnet. Aber sie zieht Kunden von einer benachbarten, schon seit
       den 70er Jahren bestehenden Einkaufspassage ab. Und die neuen Jobs, die die
       Shopping Mall bietet, verändern die Beschäftigungsstruktur der
       Olympia-Bezirke nicht.
       
       Die Bezirke Tower Hamlets und Newham sind wie eh und je Eingangstor von
       MigrantInnen aus aller Welt nach London. Von 2001 bis 2011 stieg die
       Einwohnerzahl in Newham um 23,5 Prozent, in Tower Hamlets sogar um 26,4
       Prozent. Die Überbelegung vieler Häuser hat dramatische Ausmaße angenommen.
       Aber der Neubau von Wohnungen am Olympiagelände geht an den Bedürfnissen
       der vielen einkommensschwachen Haushalte vorbei, er ist zugeschnitten auf
       junge Gutverdienende.
       
       ## „Taschen der Gentrifizierung“
       
       „Es bilden sich hier Taschen der Gentrifizierung, stark separiert von einer
       sonst arm bleibenden Umgebung“, sagt Stadtforscher Poynter. Es zeichnet
       sich ab, dass die nach 2012 geplanten Siedlungen am Olympiapark einem
       ähnlichen Muster folgen, werden sie doch sämtlich privat finanziert sein.
       
       Um die öffentlichen Ausgaben wieder hereinzuholen, wurde das olympische
       Dorf bereits an ein Konsortium unter Führung der Königsfamilie von Katar
       verkauft. Selbst wenn dort „erschwinglicher“ Wohnraum entstehen sollte:
       Nach neuer Definition der konservativen Regierung ist Wohnraum mit einem
       Preis von bis zu 80 Prozent des Durchschnittswerts am Standort
       „erschwinglich“. In Ostlondon müssen da viele passen.
       
       Derweil stehen im Bezirk Newham 28.000 Namen auf der Warteliste für
       Sozialwohnungen, auch weil die Mieten im privaten Wohnungsmarkt stark
       anziehen und jüngst eine Obergrenze für Wohnbeihilfen eingeführt wurde.
       Statt neue Sozialwohnungen zu errichten, plant die Labour-Bezirksregierung
       von Newham – im Gemeinderat hält Labour alle 60 Sitze – sogar noch den
       Abriss bestehender. So sollen die Mieter des Carpenters Estate, ganz in
       Nähe der neuen Apartmentblocks südlich des Olympiaparks, einem
       Hochschulgelände weichen.
       
       Bei Alice Goegh, die ehrenamtlich die psychologische Beratungsstelle
       Community Councelling in Newham leitet, suchten schon Exmieter von der
       Clays Lane Hilfe, weil ihnen die Räumung auf die Seele schlug. Viele in
       Newham, sagt Geogh, setzten große Hoffnungen in die Spiele, vor allem in
       Sachen Arbeit. „Sie werden enttäuscht sein“, sagt die Psychologin, „wenn
       sie nach dem Ende der Spiele feststellen, dass sich nichts geändert hat.“
       
       27 Jul 2012
       
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 (DIR) Oliver Pohlisch
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