# taz.de -- Befreite Gebiete in Syrien: Freiheit unter Beschuss
       
       > In der Ortschaft Soran scheint das Regime wie vom Boden verschluckt.
       > Rebellen und selbst ernannte Stadträte organisieren den Alltag.
       
 (IMG) Bild: Die Revolutionsflagge! Stammt aus der Zeit vor der Machtübernahme des Assad-Clans.
       
       SORAN taz | Abu Mohammed nimmt es genau. In einer riesigen Kladde hat er
       minutiös Spenden aufgelistet: Name, Betrag, Datum. Die kleinste Summe sind
       500, die höchste 25.000 Syrische Lira, alles von Einwohnern dieser
       Kleinstadt nordöstlich von Aleppo gespendet. Umgerechnet sind es eher
       Kleckerlesbeträge – 100 Lira entsprechen etwa einem Euro –, aber viel Geld
       hat hier keiner mehr. Was zählt, ist die Geste. Sie ist ein Zeichen der
       Solidarität unter den Einheimischen mit den Menschen, die durch den Krieg
       ihr Hab und Gut verloren haben.
       
       Die Spenden sind für die Notfallklinik von Soran. Klinik ist dabei ein
       hochtrabendes Wort. Es ist eine ehemalige Erste-Hilfe-Station, die schon
       lange verwaist war. Vor sechs Monaten zog das Regime aus Soran ab. Die
       Ortschaft mit ihren rund 8.000 Einwohnern ist das, was man als ein
       gottverlassenes Nest bezeichnet. Einstöckige Häuser säumen die Straßen, die
       meisten sind verputzt, einzelne haben eine Sandsteinverkleidung.
       
       Mittelpunkt des Ortes ist am ehesten die Straße mit den Schatten spendenden
       Bäumen, in der die Bäckerei liegt. Außerdem gibt es einen Frisör und einige
       Minisupermärkte. Vor anderen Läden sind die Metallrollos heruntergelassen.
       Soran ist jetzt befreit. Unmittelbar nach dem Abzug des Regimes übernahm
       die Freie Syrische Armee (FSA) das Gebäude der ehemaligen Klinik, säuberte
       es und machte daraus eines ihrer sogenannten Feldlazarette. Vor allem
       werden hier jedoch Inlandsflüchtlinge versorgt. Die Behandlung ist
       kostenlos.
       
       Die linke Hand von Abdul Hamid Hamsho ist bandagiert, an seinem Zeigefinger
       mussten die Ärzte das erste Glied amputieren. Hamsho ist vor zwei Tagen aus
       Aleppo geflohen. In dem Viertel, aus dem er stammt, wird schwer gekämpft.
       Es ist die zweite Flucht des Familienvaters. Das erste Mal habe er noch
       innerhalb der Stadt eine Zuflucht gesucht. „Diesmal war es so schlimm, dass
       ich Angst um meine Familie hatte“, sagt er. „Wir sind Zivilisten, und
       trotzdem haben sie uns bombardiert“, fügt er hinzu.
       
       ## Es fehlt an Medikamenten
       
       Hamsho braucht Schmerzmittel. Doch der kleinen Klinik fehlt es an
       Medikamenten. In seinem Behandlungszimmer zeigt der Arzt seinen
       Medikamentenvorrat. Auf einem Metallregal sind ein paar Schachteln
       gestapelt, die meisten sind fast leer. Eine alte Frau kommt mit ihrer etwa
       dreijährigen Enkelin. Die Kleine braucht alle zehn Tage eine
       Bluttransfusion. Der Arzt schickt sie nach Marea, dem nächstgrößeren Ort in
       der Region.
       
       Dort gebe es ein Labor, sagt der Arzt. Es ist die reine Hilfslosigkeit.
       Denn er weiß, dass das Labor auch nichts machen kann. Für chronisch Kranke
       gibt es hier keine medizinische Versorgung mehr. „Niemand hilft uns“, sagt
       Abu Mohammed. „Der Westen nicht, die Araber nicht und auch nicht die
       Türkei. Alle reden nur.“
       
       Abu Mohammed ist Rechtsanwalt. Doch seit seinem Studienabschluss ist er
       arbeitslos. „Die Regimeoberen leben im Luxus, und wir haben das Nachsehen“,
       sagt er. „Aber ich bin Sunnit, deshalb kriege ich keinen Job.“ Die
       führenden Kräfte des Regimes gehören wie Präsident Baschar al-Assad der
       Minderheit der Alawiten an.
       
       Das Gefühl von Unrecht und der Benachteiligung hat den 24-Jährigen wie so
       viele nach Ausbruch der Protestbewegung auf die Straße getrieben. Zwar gab
       es in manchen Orten bereits früh bewaffnete Kämpfer. Doch die meisten haben
       wie der schlaksige 24-Jährige friedlich demonstriert.
       
       ## Versprochene Reformen
       
       Assad versprach Reformen, schnell wurde jedoch klar, dass er allenfalls
       Reförmchen im Sinn hatte, die den wachsenden Chor der Regimekritiker nie
       und nimmer befriedigen konnten. Stattdessen wanderten immer mehr ins
       Gefängnis. Dabei hatten im Westen nicht Wenige geglaubt, dass, wenn es
       einen Herrscher im Nahen Osten gebe, der zu Reformen fähig sei, dann der
       Augenarzt, der in Großbritannien die Vorzüge der Demokratie genossen hatte.
       
       Stattdessen schickte Assad Soldaten und Geheimdienstler auf die Straßen und
       ließ die Proteste niederschießen. Erst dann formierte sich der bewaffnete
       Widerstand. Von feindlichen Mächten gesteuerte Terroristen nennt das Regime
       die Rebellen. Nach schweren Kämpfen haben die Rebellen Ende Juli die
       letzten Bastionen des Regimes in der Gegend um Soran unter ihre Kontrolle
       gebracht. Von einzelnen Militärbasen abgesehen [1][beherrschen sie jetzt
       die gesamte Region] zwischen Aleppo im Westen und al-Bab im Osten bis zur
       türkischen Grenze im Norden.
       
       Das Regime, so scheint es, ist buchstäblich wie vom Boden verschluckt.
       Bilder von Assad oder seinem Vater Hafis? Fehlanzeige. Nicht einmal
       zerstörtes oder zerkratztes Konterfei ist während der Fahrt durch die
       Region zu sehen. Aber auch Insignien der Regimegegner sind selten. Auf der
       kleinen Klinik in Soran weht die Flagge der Revolution. Das war’s dann aber
       auch. „Hau ab, Ente“ hat jemand auf eine Hauswand gesprüht. Ente nennt man
       hier Assad.
       
       Ab und zu sieht man einen Rebellen in Tarnuniform. In jedem Dorf und in
       jeder Kleinstadt gibt es mindestens ein paar Dutzend Bewaffnete. Aber die
       meisten kämpfen derzeit an der Front in Aleppo. Nach Hause kommen sie nur,
       um zu schlafen und Nachschub zu besorgen. Darüber hinaus sind sie für die
       Sicherheit zuständig, denn Polizisten gibt es keine.
       
       ## Zehn „Stadträte“
       
       Die seien mit dem Regime verschwunden, heißt es. Für Ruhe und Ordnung
       sorgen bedeutet in diesem Fall, Leute festzunehmen. Dabei schrecken die
       Rebellen in ihren improvisierten Gefängnissen auch vor Folter nicht zurück,
       wie Berichte von Menschenrechtlern zeigen.
       
       Die zivile Verwaltung halten derweil Freiwillige wie Abu Mohammed und
       selbst ernannte Stadträte am Laufen. Der Rechtsanwalt gehört zu einer
       Gruppe von hundert Männern, die sich um die Flüchtlinge in Soran kümmern.
       Mohammed Said ist einer der zehn „Stadträte“ von Soran. Said ist Händler,
       früher hatte er ein gut florierendes Import- und Exportunternehmen. Durch
       den Krieg ist sein Geschäft weitgehend zum Erliegen gekommen.
       
       Jetzt kümmert er sich darum, dass in Soran der Müll entsorgt wird, die
       Bewohner Wasser haben, oder er schlichtet in Streitfällen. Strom gibt es
       zwar nicht immer, aber immerhin wird er trotz der schweren Kämpfe weiterhin
       aus Aleppo geliefert. Wasser gab es auch schon früher nur einmal in der
       Woche. Deshalb müssen Männer wie Said jetzt Traktoren organisieren, die
       Wasser an die Haushalte liefern. Bisher scheint das zu funktionieren.
       Schwieriger ist dagegen die Lebensmittelversorgung.
       
       In den Hügeln im Westen und Norden gedeihen Obst- und Nussbäume. Die Ebene,
       in der Soran liegt, ist – zum Glück für die Bewohner – fruchtbar. Jetzt, im
       Spätsommer, gibt es noch genügend Obst und Gemüse. Aber was wird, wenn der
       Winter kommt? Schon jetzt sind Mehl, Reis, Nudeln und Konserven knapp.
       
       ## „Baschar bringt uns um, und die ganze Welt schaut zu.“
       
       Vor der Bäckerei hat sich eine lange Schlange gebildet. Männer und Frauen
       drängen sich um die Ausgabe. Ein paar Freiwillige versuchen, Ordnung in die
       Reihen zu bringen. Vergeblich. Wie einen wertvollen Schatz drückt ein
       kleiner Junge die Plastiktüte mit rund zehn Fladenbroten an sich, die es
       für jede Familie gibt. „Hier, das ist, was wir zu essen haben“, schreit
       eine Frau wütend. „Warum hilft uns niemand? Baschar bringt uns um, und die
       ganze Welt schaut zu.“
       
       Die Frau ist wie Abu Mohammed und die meisten in der Region Sunnitin.
       Sunniten bilden die Mehrheit im Land und tragen den Aufstand, sie zahlen
       aber auch den höchsten Preis dafür.
       
       Nach dem Überraschungsangriff der Rebellen auf Damaskus und Aleppo im Juli
       hat Assad auch die letzte Zurückhaltung gegenüber der Zivilbevölkerung
       aufgegeben. Rücksichtslos beschießt die Armee Wohnviertel, die in die Hände
       der Rebellen gefallen sind, mit Granaten und schwerer Artillerie.
       
       Immer häufiger setzt Assad auch die Luftwaffe ein. Dem haben die Rebellen
       nichts entgegenzusetzen. Sie ziehen sich vor der militärischen Übermacht
       zurück und warten auf die nächste Gelegenheit. Zurück bleiben die
       Zivilisten, die schutzlos der Willkür des Regimes ausgeliefert sind.
       Zehntausende sind auf der Flucht.
       
       In der Schule gegenüber der Notfallstation in Soran haben rund 150 Menschen
       Schutz gefunden. Mit ihren Kindern und Enkeln haust Um Ahmed, die Mutter
       von Ahmed, in einem leeren Klassenzimmer. „Wir müssen hier auf dem nackten
       Boden schlafen“, sagt die stämmige Alte. „Wo ist die UNO?“
       
       ## Die Luftangriffe um Soran nehmen zu
       
       Um Ahmed fordert wie Abu Mohammed und die meisten hier ein Eingreifen des
       Westens. Um Ahmed kann nicht verstehen, dass die Nato in Libyen
       eingegriffen hat, in Syrien ein Flugverbot bisher aber nicht in Erwägung
       zieht. „Ist unser Leben weniger wert als das der Libyer?“, fragt Um Ahmed.
       
       Auch in der Gegend um Soran nehmen die Luftangriffe zu. Mitte August wurden
       in der Stadt Asas an der türkischen Grenze mindestens 30 Personen durch
       einen Bombenangriff getötet. Seitdem kreisen regelmäßig Kampfjets über der
       Region und bombardieren offenbar wahllos Wohngegenden. Sollte das Regime
       darauf setzen, den Rebellen damit den Rückhalt zu entziehen, ist das bisher
       misslungen.
       
       Abu Mohammed käme es nie in den Sinn, zur Waffe zu greifen. Doch mit Leib
       und Seele steht er hinter der FSA. „Hilft man uns nicht, weil wir Sunniten
       sind?“, fragt Abu Mohammed. „Wir wollen doch auch nichts anderes als die
       Libyer. Wir möchten einfach in Frieden und Freiheit leben.“
       
       31 Aug 2012
       
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