# taz.de -- Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg: „Völlig abgestumpft“
       
       > Als Wehrmachtssoldat kämpfte Wilhelm Bernau in Stalingrad. In der DDR
       > konnte er darüber nicht reden. Jetzt ist ein 20-Jähriger sein Vertrauter
       > geworden.
       
 (IMG) Bild: Wilhelm Bernau (links) lässt sich bei der Dokumentation seiner Erinnerung von Robert Biebermann helfen.
       
       JÜTEBORG taz | Er sitzt aufrecht da, die Haare weiß und die Augen von einem
       ganz hellen Blau, sehr wach und konzentriert. Hinter ihm ist das Regal
       voller Spielzeugautos, rechts die Wand dekoriert mit Orden, Fotos. Im Mai
       ist Wilhelm Bernau 92 Jahre alt geworden. Jahrgang 1920. Der Jahrgang, der
       alles mitgemacht hat, der voll verheizt worden ist. Erst
       Reichsarbeitsdienst, dann allgemeine Wehrpflicht. Mein Vater hat gesagt,
       melde dich freiwillig, dann biste mit 21 fertig. Von wegen.
       
       Den Krieg macht er von Anfang an mit. Erst Dänemark, Frankreich. Das war
       wie im Urlaub. Wir dachten, es wird bald zu Ende sein. Dann weiter. Nach
       Polen, Russland, Stalingrad, die Schreckensstadt. Dort endet der Krieg für
       Wilhelm Bernau am 2. Februar 1943 mit der Kapitulation der Sechsten Armee.
       Mehr als eine Million Menschen waren bei den Kämpfen erbärmlich ums Leben
       gekommen. Verbrannt, verhungert, erfroren, erschossen. Bernau überlebt das
       und die Kriegsgefangenschaft. Die Erinnerung macht ihn sprachlos, viele
       Jahrzehnte lang.
       
       „Was müsst ihr bloß aushalten? Gerade die schönsten Jahre, die ihr
       glücklich und sorglos verbringen müsstet, müsst ihr dem Vaterland opfern“,
       schreibt seine Mutter Lina am 17. Januar 1943. Da gilt Bernau offiziell
       bereits als vermisst, seit November 1942 eingekesselt von der Roten Armee.
       Was kriegt so einer mit? Minimale Ausschnitte, keine Einblicke. Da steckt
       einer mittendrin, ist Teil des Geschehens, das sowohl von Hitler wie von
       Stalin propagandistisch missbraucht, zur Entscheidungsschlacht stilisiert
       wird. Inferno. Massengrab. Opfergang. Landserpoesie und Politikersprache
       der Nachkriegszeit. Die Historiker sind da nüchterner. Die meisten.
       
       ## Verdeckte Schrecken
       
       Wenn wir ehemaligen Soldaten den Namen Guido Knopp hören, gehen uns
       ehemaligen Soldaten die Hörner auf. Der ZDF-Geschichtsschreiber mit seinen
       pseudowissenschaftlichen Dokumentationen und empathieheischenden
       Geschichten hinter der Geschichte macht Bernau wütend. Die wollen alles
       wissen und gar nüscht. Nie hätte er seinen Eltern etwas Beunruhigendes von
       der Front nach Hause berichtet.
       
       Der Ton seiner Briefe ist distanziert-lustig, Bernau überdeckt den
       Schrecken. „Hier knallt es manchmal ganz toll“, schreibt er am 22.
       September 1942 nach Hause. „Wir sind auch in einer heiß umkämpften Gegend.
       […] Vor allem desnachts, da rauschen die Bomben und das Tak, Tak, Tak der
       Nervensäge, einem ganz ekligen Flugzeug, ist eine Belastung der Nerven. […]
       und was es sonst noch so Schönes gibt, die Stalinorgel, die gleich so
       vierzig Schuß auf einmal ausrauschen lässt. Sonst ist hier alles bei guter
       Laune. Luftkämpfe gehören hier fast dazu, wie eine Zigarette nach dem
       Essen.“
       
       Wilhelm Bernau redet nicht über das, was er erlebt hat, bis zur Wende
       nicht. Meine Söhne interessierte das nicht. Als ich einmal erzählt habe,
       dass ich tagelang ohne Wasser auskommen musste, hat mein Sohn gesagt: ,Das
       geht doch gar nicht!‘ Nach Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft geht er
       zurück nach Jüterbog, das etwa 70 Kilometer südlich von Berlin liegt,
       steigt in den Hof seines Vaters ein, wird Gutachter in der
       landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG). Die DDR bot kein
       Umfeld, in dem ehemalige Wehrmachtssoldaten über ihre Erlebnisse im Krieg
       gegen Russland sprechen konnten. Den strammen Parteigenossen galten wir
       doch als Kriegsverbrecher. 
       
       Jüterbog beherbergt nach 1949 einen der größten russischen
       Militärstützpunkte in Ostdeutschland. Und schon früher war das
       brandenburgische Städtchen Garnisonsstadt. Der Garnisonsgeschichtsverein
       Sankt Barbara kümmert sich um die militärischen Hinterlassenschaften der
       Stadt. Ortschronist Henrik Schulze bringt Bernau mit einem Schüler
       zusammen, der sich für Stalingrad, den Krieg und die NS-Zeit interessiert.
       Seit Juni 2010 treffen sich die beiden alle zwei Wochen, meistens am
       Samstag. Der Robert interviewt Zeitzeugen, führt Buch über Bernaus Leben.
       Er ist der Mittelsmann, der Zuhörer, den sich Bernau immer gewünscht hat.
       
       „Das ist doch unnormal, was der alles überlebt hat“, sagt Robert
       Biebermann. Wenn Herr Bernau erzähle, das sei „besser als ein Buch“. Besser
       als all diese Verfilmungen von Knopp oder Vilsmeier. Als er 12 Jahre alt
       war, hat er auf dem Dachboden das Eiserne Kreuz seines Urgroßvaters
       gefunden. Noch aus dem Ersten Weltkrieg, doch damals fing er an, sich für
       Geschichte zu interessieren. Für Herrn Bernau empfindet er Respekt, zu ihm
       kann er „aufblicken, als wäre er mein Großvater“.
       
       Robert Biebermann kennt sich aus mit Stalingrad. „Nicht
       kriegsentscheidend“, sagt er. „Siegen ging nur über Verluste. Das war
       reines Blutvergießen. Nicht so wie bei den Ballerspielen heute.“ Kein
       virtueller Action-Spaß auf dem Bildschirm, sondern reales Sterben. Der
       junge Mann hat für den alten das Modell einer Flugabwehrkanone, kurz Flak,
       nachgebaut. Es steht neben anderen Devotionalien – Fotos,
       Stalingrad-Bücher, Medaillen – im Zimmer, in dem Bernau Besucher empfängt.
       Wenn Sie allergisch sind, dann gucken Sie da nicht hin. Ich bin trotzdem
       stolz drauf. Für jemanden, der lange nicht geredet hat, steht da viel Zeug
       rum. Als hätten ihn die Erinnerungen jetzt mit aller Macht heimgesucht.
       
       ## Nur 5.000 Mann überleben
       
       Bernaus Einheit gehörte zur 2. Batterie, Flakregiment I/8, 9. Flakdivision
       Panzergruppe Kleist, Heeresgruppe Süd. Als Flakschutz der SS-Division
       Wiking unterstellt. Diese Einheit war harmlos. Als Lade- und Richtschütze
       ausgebildet, darf er als Fahrer für den Erkundungsoffizier arbeiten. Am 22.
       November 1942 kommt der Wendepunkt. Jeden Tag Großangriff, das Thermometer
       geht auf minus 40 Grad runter, die tägliche Essensration beträgt 50 g Brot.
       Am schlimmsten war der Schlafentzug. Das tägliche Sterben hat uns völlig
       abgestumpft. Bis kurz vor Weihnachten hoffen alle noch auf den Ausbruch aus
       der Belagerung. Als der abgeblasen wird, da war klar, ab jetzt ist
       Feierabend. 
       
       Am 2. Februar 1943 geht Wilhelm Bernau in russische Kriegsgefangenschaft.
       Von den 110.000 Männern, die mit ihm kapituliert haben, werden nur gut
       5.000 überleben. Bernau übersteht den Todesmarsch nach Dubowka, durch die
       Ruinen von Stalingrad. Jeder, der liegenblieb, wurde erschossen. Der
       Hunger, der bleibt, aber die Kälte rafft einen schneller dahin.
       Rückblickend ist die Gefangenschaft im Lager Pachta Ural im heutigen
       Kasachstan schrecklicher als der Krieg. Demütigender. Wie sie in eine Grube
       klettern müssen, um den Toten die Schuhe auszuziehen. Das habe ich meiner
       Frau bis heute nicht erzählt. Vom weiteren Kriegsverlauf bekommen die
       Gefangenen nichts mit. Bis fast zur Entlassung haben wir noch an den Sieg
       geglaubt oder vielmehr darauf gehofft. 
       
       Zu DDR-Zeiten hätte ich nicht gewagt, das alles aufzuschreiben. Bernau
       versteckt die Feldpostbriefe, die seine Eltern aufgehoben hatten, die
       Abzeichen, sein Fronttagebuch. In dem er stichwortartig Ausgangssperren,
       Stellungswechsel, hinter sich gebrachte Kilometer notiert. Und an seinem
       Geburtstag „1 Flasche Schnaps“. Am 22. Januar 1942 schickt er das Tagebuch
       nach Hause. Aus Angst vor der Zensur der Wehrmacht, aus Angst, es könnte
       den Russen in die Hände fallen. „Wir bekommen hier täglich spannende
       Luftkämpfe zu sehen“, schreibt er am 12. September 1942 an seine Eltern,
       „da fallen die Russen manchmal wie Fliegen vom Himmel.“ Noch heute sagt
       Wilhelm Bernau oft Der Russe. Auch sein Vater war in Russland gewesen, im
       Ersten Weltkrieg. So ein Riesenreich. Es gab da so eine Ahnung, dass es
       schwer werden könnte.
       
       Und es gab so eine Ahnung, wie das werden könnte, wenn das alles mal auf
       Deutschland zurückfällt. Im polnischen Krasnystaw, 1941, schickt ihn sein
       Offizier das Lubliner Ghetto ansehen. Ich sage: Was ist denn das? – Haben
       Sie da noch nie was von gehört? Da sind nur Juden drinne. Als Bernau das
       Ghetto besichtigt, wird ein Mann von der jüdischen Lageraufsicht
       zusammengeschlagen, weil er mich nicht gegrüßt hat. Er ist schockiert, 21
       Jahre alt. In Schitomir in der Ukraine erlebt er eine Massenhinrichtung
       mit. Begreift nicht sofort, begreift doch. Ich kann Ihnen da gar nichts
       verheimlichen. Ich hab das ja alles aufgeschrieben. 
       
       Bernaus Tagebucheintrag vom 4. August 1941 ist spärlich wie immer:
       „Technischer Dienst. abends 102 Juden erschossen.“ Das waren Volksdeutsche,
       auch Litauer und Ukrainer in russischen Uniformen. Von den vielen
       Kriegsverbrechen der Deutschen hat er erst später erfahren. Gräueltaten gab
       es auf beiden Seiten. 
       
       Im November 1945 kehrt Wilhelm Bernau mit den ersten russischen
       Heimkehrertransporten nach Jüterbog zurück. Er isst viel, legt mehr als 30
       Kilo zu. Der Aufbau Ost beginnt mit hohen Reparationszahlungen an Russland.
       Antifaschismus ist offizielle Doktrin. Auch die russische Seite hat ihre
       Heldenversion vom „Großen Vaterländischen Krieg“. 1961 wird Stalingrad in
       Wolgograd umbenannt. Bernau wird Landwirt, LPG-Mitarbeiter, kein
       Parteigenosse. Er war nie in der SED, auch nicht in der NSDAP. Anfangs muss
       er regelmäßig auf die russische Kommandantur. Anwerbeversuche der Stasi
       wehrt er ab. Der Feind liebt den Verrat, aber verächtet den Verräter. 
       
       „Man konnte doch nicht zum Psychologen“, sagt Robert Biebermann über die
       Kriegsteilnehmer in der DDR. Eine Möglichkeit zum Austausch gab es nicht,
       nicht offiziell. Heute steht Bernau in regem Kontakt mit den wenigen noch
       lebenden Kameraden. Sie versuchen ihre Versionen der Geschichte gegenseitig
       zu korrigieren. Bernau klopft auf das kleine schwarze Tagebuch. Nicht jeder
       ist ein echter Stalingrader. Die Wehrmachtsausstellung hat er nicht
       gesehen.
       
       Nach dem Gespräch, in dem er stundenlang ohne Pause erzählt, begleitet er
       den Besuch zur Tür. Solange die Russen da waren, brauchten wir kein
       Schloss. Das war das Erste, was wir uns nach der Wende angeschafft haben. 
       
       Robert Biebermann hat im September seine Ausbildung bei der Polizei
       begonnen. Er will weit aufsteigen. „Bezirkskommissar wäre eine interessante
       Sache.“
       
       12 Sep 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Sabine Seifert
 (DIR) Sabine Seifert
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
 (DIR) Schwerpunkt Nationalsozialismus
 (DIR) Aachen
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) KanzlerkandidatInnen zum Gedenktag: Was bedeutet der 22. Juni 1941?
       
       Annalena Baerbock (Grüne), Armin Laschet (CDU) und Olaf Scholz (SPD) über
       Erinnerung und die Lehren für die Zukunft.
       
 (DIR) Neuauflage von „Odyssee in Rot“: Linsen, in Stalingrad geschliffen
       
       Heinrich Gerlach beschrieb als einer der ersten das wahre Gesicht der
       deutschen Wehrmacht. Sieben Jahre verbrachte er in sowjetischen Lagern.
       
 (DIR) Das Kriegsende in Aachen: Das Rieseln von Staub und Zeit
       
       Am 21. Oktober 1944 wurde Aachen als erste deutsche Großstadt vom
       Naziterror befreit. Bürger sorgen dafür, dass sie sich darauf besinnt.
       
 (DIR) Linke Geschichtsbilder: "Wühlen im Müllhaufen DDR"
       
       Eine Veranstaltungsreihe der Rosa-Luxemburg-Stiftung setzt sich kritisch
       mit DDR-Geschichte auseinander. Das sorgt für Unmut bei alten Herren der
       Linkspartei.
       
 (DIR) Guido Knopp geht in Ruhestand: Der Hitlerversteher
       
       Guido Knopp verabschiedet sich in den Ruhestand. Zum Ende dröhnen noch mal
       die Pauken – in dem Achtteiler „Weltenbrand“.
       
 (DIR) Zwangsarbeiter in Hastedt: Ein anonymer Friedhof
       
       Ein neuer Gedenkstein soll an das Schicksal der ZwangsarbeiterInnen in
       Hastedt erinnern. Ihre Geschichte ist lange Zeit in Vergessenheit geraten.
       
 (DIR) Rente für Hinterbliebene von NS-Opfer: Auf 600 Euro Beihilfe geeinigt
       
       Die Witwe eines Auschwitz-Überlebenden hatte auf die Zahlung einer
       Hinterbliebenenrente geklagt. Nach drei Jahren hat sich nun das Land NRW
       mit ihr geeinigt.
       
 (DIR) Keine Rente für KZ-Opfer-Witwe: Die verlorene Ehre der Familie B.
       
       Der Staat verwehrt der Witwe eines Sinto, der Auschwitz überlebte, eine
       Hinterbliebenenrente. Seit drei Jahren kämpft Eva B., nun wird der Fall vor
       Gericht verhandelt.
       
 (DIR) Forscher über Antisemitismus in Österreich: „Das bleibt unter der Decke“
       
       Wie abgründig ist die österreichische Seele, welche Bedeutung kommt
       Machtpragmatismus und NS-Mitläufern zu? Ein Gespräch mit dem Wiener
       Kommunikationswissenschaftler Gottschlich.
       
 (DIR) Ladislaus Csatarys Nazi-Verbrechen: Der Massenmord von Košice
       
       Ladislaus Csizsik-Csatary soll für die Deportationen aus der slowakischen
       Stadt Košice verantwortlich sein. Etwa 15.700 Menschen wurden ermordet.