# taz.de -- Biografie: Helmut Kohl, 1.052 Seiten dick
       
       > Obwohl die Biografie über Helmut Kohl über tausend Seiten lang ist,
       > werden seine frühen und späten Jahre nur kurz abgehandelt.
       
 (IMG) Bild: Stilistisch unterhaltsam: Die Biografie über Helmut Kohl.
       
       Wer 1982 gerade volljährig wurde, konnte sich kaum vorstellen, die
       kommenden 16 Jahre im „System Kohl“ verbringen zu müssen. Aber so war es
       dann. Der 1930 geborene Pfälzer CDU-Politiker Helmut Kohl, von seinen
       Gegnern häufig als Birne karikiert, erwies sich, einmal an die Macht
       gekommen, von dieser kaum zu verdrängen.
       
       Kohl und seine CDU regierten von 1982 bis 1998, wurden zum Staat im Staate.
       Erst auf das Ende der Kanzlerschaft folgte durch Spendenaffäre und
       Familiendrama – Selbstmord Hannelore Kohls, Abwendung der Söhne – der
       Absturz des Patriarchen, der als Konservativer den Westdeutschen mit seiner
       „geistig-moralischen Wende“ die 68er-Marotten wieder austreiben wollte und
       von vielen gerade in Ostdeutschland als „Kanzler der Einheit“ verehrt wird.
       
       Es ist interessant, wie sein Biograf Hans-Peter Schwarz nun die Geschichte
       des schwergewichtigen Oggersheimer auf 1.052 Seiten aufblättert. Und man
       muss beim Umfang dieses Buchs doch einigermaßen überrascht konstatieren: Er
       tut dies stilistisch erstaunlich unterhaltsam.
       
       Thematisch hat sich Schwarz dafür entschieden, die Biografie in eine
       Nachkriegsgeschichte Deutschlands und Europas einzubetten, also wesentliche
       Stationen des Kalten Kriegs und der europäischen Einigung auszuführen. So
       lässt sich Kohls politische Erfolgsgeschichte quasi wie von selbst
       herunterspulen. Schwarz weiß dabei auch um die Brüche und ist schlau genug,
       sie nicht ganz zu verschweigen. Doch der Prolog (Kohls Jugend im
       Nationalsozialismus) sowie der Epilog (Spendenaffäre, Familendrama) sind
       eher dürftig geraten. Doch genau hier läge der berühmte Hase im Pfeffer.
       
       ## Kohls „Flegeljahre“
       
       Schwarz ist bemüht, Kohls Ludwigshafener Jugendjahre als möglichst
       unpolitische „Flegeljahre“ darzustellen. Aber waren sie das? Schwarz’ Ton
       ist nicht ganz unbekannt: Kohl, der kleine Rabauke, ganze Kerl, wilde
       Riese. Helmut Kohl stammt aus einem konservativ-katholischen Elternhaus, so
       viel erfährt man auch bei Schwarz. Der Biograf bezeichnet es wiederholt als
       „liberal“, was erstaunen muss. Kohls Vater war ein ausgezeichneter Veteran
       des Ersten Weltkriegs, danach im revanchistischen „Stahlhelm“ organisiert.
       Als Wehrmachtoffizier war er beim Überfall Nazi-Deutschlands auf Polen und
       Frankreich engagiert.
       
       Der kleine 1930 geborene Helmut verbrachte praktisch die gesamte Kindheit
       im Nationalsozialismus, durchlief dessen Institutionen, war fünf Jahre in
       der Hitler-Jugend, stieg dort zum Jungenschaftsführer auf. Mit 15 Jahren
       zählte er zum letzten Aufgebot, das Hitlers Alpenfestung 1945 in
       Berchtesgaden verteidigen sollte. Und hatte Glück, es kam nicht mehr dazu.
       
       Man kann Kinder nicht für die Indoktrinationen durch eine
       Erwachsenen-Umgebung verantwortlich machen. Doch warum bezeichnet ein
       seriöser Historiker ein typisch nationalkonservativ-faschistisches
       Elternhaus als „liberal“? Weil Kohls Mutter religiös (katholisch) gewesen
       sei, so Schwarz, und „ihren Jüngsten in seinen Rüpeljahren viel von dem tun
       und lassen ließ, wozu er Lust hatte.“ Ausführungen zu dem, was ein
       Ludwigshafener Anführer der HJ bis 1945 trieb, finden sich „naturgemäß“
       keine.
       
       ## Abstreiten familiärer Verantwortung
       
       Kohl mag für seine kindliche Sozialisierung im Nationalsozialismus wenig
       können. Für die Bagatellisierung dessen, was geschehen ist und des
       Abstreitens familiärer Verantwortung, in der ihm sein Biograf folgt,
       allerdings schon. Schwarz versteigt sich tatsächlich zu Behauptungen wie:
       „wobei im 20. Jahrhundert deutsche wie französische Besatzungen,
       Zerstörungen und systematische Ausplünderungen sich abgelöst und aneinander
       aufgeschaukelt haben“. Der Kohl-Biograf, selbst Jahrgang 1934,
       repräsentiert auch ein für die heutige CDU unannehmbares Geschichtsbild.
       
       Schwarz’ Tausendseiter ist insofern sehr instruktiv, als er genau jenes
       Weltbild affirmiert, jenen Mief, der in der Bundesrepublik 1968 zum Bruch
       der Jugend mit der bis dahin auch kulturell hegemonialen Generation Kohl
       führen sollte. Erinnerungen werden wach, an Schlachten der 1980er, an einen
       Helmut Kohl, der, obwohl Europäer und auf Abgrenzung zum NS bedacht, in der
       Kontinuität des deutschen Patriotismus 1985 in Bitburg vor den Gräbern der
       SS auf die Knie ging und verschwiemeltes Zeug redete.
       
       Kohls Generation war größtenteils unfähig zum Bruch mit der eigenen
       Herkunft, was auch für viele Sozialdemokraten galt: im Paternalismus
       unempfänglich für bessere Angebote.
       
       ## Hannelore, Tochter eines Nazis
       
       Schweigen war dafür Bedingung. Wie man heute weiß, war Ehefrau Hannelore,
       geborene Renner, die Kohl 1948 kennenlernte, Tochter eines ehrgeizigen
       Nazis. Vater Wilhelm Renner trat der NSDAP 1933 bei und stieg zum
       Wehrwirtschaftsführer der Leipziger Rüstungsschmiede Hasag auf, die für den
       Tod Tausender Zwangsarbeiter verantwortlich ist. Kohl bezeichnete ihn 2004
       in seinen Memoiren als „Mitläufer“, eine Charakterisierung, der sogar
       Biograf Schwarz nicht ganz zu folgen vermag.
       
       Ein Mensch hat viele Facetten, und Kohl hat sicherlich mehr als die eine
       seiner Herkunft. Doch der Übergang Kohls nach 1945 von der HJ zur CDU wirkt
       in Schwarz’ Biografie geschönt, auch wenn er vermerkt, dass Kohl vor 1945
       Machttechniken erlernte und sich Kameradschaftssysteme schuf, die ihm
       später sehr nützlich waren. Bekanntlich legte der Ludwigshafener schnell
       eine Karriere hin, die ihn, den studierten Historiker und Lobbyisten der
       Chemieindustrie, ins Amt des rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten und
       schließlich in den 70er Jahren an die Spitze der Bundes-CDU brachten.
       
       Kohl repräsentierte in der Bundesrepublik die neue Generation der CDU, die
       Modernisierer, die in der Phase des Übergangs im Postfaschismus auf der
       rechten Seite das Alte mit dem Neuen zu verbinden wusste. Einer
       konservative Generation, der jede Form von nachhaltiger Politik fremd war.
       Strickende Grüne hielt man für eine besonders perfide von Moskau gesteuerte
       Tarnorganisation, die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 für einen
       östlichen Betriebsunfall.
       
       ## Auf der Woge des Patriotismus
       
       Kohl war schon in den 1980er Jahren ein Auslaufmodell, dessen Regierungen
       weder auf wirtschaftliche Veränderungen, steigende Staatsverschuldung noch
       demografische Verschiebungen eine Antwort wusste. Überdeckt wurde dies
       durch den völlig unerwarteten Fall der Mauer 1989. Dazu gibt es auch bei
       Schwarz kritische Anmerkungen. Hatte Kohl Gorbatschow gerade noch mit
       Hitlers Propagandaminister Goebbels verglichen, agierte er nun sehr
       geschickt. Er versprach Westbindung, Treue zur Nato, europäischen
       Integration und erreichte im Gegenzug die deutsche Einheit. Auf der Woge
       des Patriotismus konnte er sich bis 1998 im Amt halten.
       
       In diesen Episoden wirkt die Biografie langatmig. Die Einschränkung des
       Asylrechts durch Kohl wird als unumgänglich erwähnt, nicht aber, wie
       beharrlich er sich gegen ein weltoffenes Deutschland stemmte, Deutsche mit
       Migrationshintergrund staatsbürgerlich diskriminierte, „Volksdeutsche“ aus
       den Ostgebieten privilegierte – mit all den damaligen rassistischen
       Konsequenzen.
       
       Kohl wurde jahrelang von seinen Gegnern unterschätzt, der Kleinbürger, der
       Provinzler, die Pfälzer „Birne“ eben. Für die, die ihn 18 Jahre lang
       erleben durften, wurde er dann zu der prägenden Figur der alten
       Bundesrepublik. Und man zollt ihm heute auch als früheren Gegner oft
       zumindest Respekt.
       
       Es ist auch leichter geworden, seitdem er auf Normalmaß zurückgestutzt ist.
       Der Parteispendenskandal zeigte, dass er, der große Kanzler, wie ein
       Kleinkrimineller und Steuerbetrüger agierte, Rechtsstaat also nur, solange
       er ihm nutzte. Und dann erst sein Familiendrama, Schadenfreude gänzlich
       unangebracht: eine bürgerliche Familie, die sich komplett zerlegte.
       
       Schwarz’ Biografie bietet für die Gründe des privaten Zerfalls des
       einstigen Herrscherhauses jedoch keinerlei Erkenntnisse. Ganz im Gegensatz
       zu den im letzten Jahr erschienenen Bestseller des Kohl-Sohns Walter „Leben
       oder gelebt werden“ oder Heribert Schwans „Die Frau an seiner Seite“. Die
       späten Emanzipationsversuche von Kohls Sohn Walter kanzelt Biograf Schwarz
       kurz ab: „Eher ungewöhnlich ist es aber, dass die Entfremdung einen der
       Söhne veranlasst, den weithin von Krankheit geschlagenen, immerhin schon 81
       Jahre alten Vater, der zugleich ein Bundeskanzler ist, in einem verquälten
       Buch und alsdann bei einer Tournee durch die Talkshows mit den eigenen
       Verletzungen zu behelligen.“
       
       Da ist sie wieder, die alte Härte der Kameraden: Wer den Bruch sucht, mit
       dem muss und der muss gebrochen werden. Aber, man hüte sich davor, dies als
       ein exklusives Phänomen der politischen Rechten zu sehen.
       
       ## "Helmut Kohl. Eine politische Biographie". DVA, München 2012, 1.052
       Seiten, 34,99 Euro
       
       15 Sep 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Andreas Fanizadeh
 (DIR) Andreas Fanizadeh
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Nationalsozialismus
       
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