# taz.de -- Petra Kelly und Helmut Kohl: Die heilige Grüne und der Monolith
       
       > Kelly und Kohl verbindet mehr als Gleichzeitigkeit. Beide waren
       > Repräsentanten eines Entweder-Oder. Getrieben von friedenspolitischen
       > Motiven.
       
 (IMG) Bild: Gert Bastian, Petra Kelly, Erich Honecker und Helmut Kohl (von links) während eines Treffens in Bonn 1987.
       
       BERLIN taz | Sie war die Ikone der sozialen Bewegungen und der Grünen.
       Heute vor 20 Jahren starb Petra Kelly durch die Hand ihres Lebensgefährten
       Gert Bastian, der sich nach der Tat selbst erschoss – auf den Tag genau
       zehn Jahre nachdem Helmut Kohl erstmals zum Kanzler der Bundesrepublik
       Deutschland gewählt worden war.
       
       Auf den Tag genau? Sicher ist das nicht. Ganz präzise ließ sich der
       Todeszeitpunkt nicht mehr ermitteln, da die Leichen der beiden lange
       unentdeckt in der gemeinsamen Wohnung in Bonn gelegen hatten. Erst nach
       fast drei Wochen wurden sie gefunden. Ein brutaler Beweis dafür, wie einsam
       es um Petra Kelly und auch um Gert Bastian geworden war.
       
       Natürlich fielen die Wahl von Helmut Kohl und der Tod von Petra Kelly nur
       wegen eines kalendarischen Zufalls mit dem Abstand von zehn Jahren auf –
       vermutlich – dasselbe Datum. Aber manchmal sind es gerade solche Zufälle,
       die den Blick dafür schärfen, welch enger Zusammenhang zwischen Personen
       besteht, die auf den ersten Blick wenig zu verbinden scheint. Für den
       einstigen Monolithen der CDU und das ehemalige grüne Heiligenbild gilt das
       in besonderem Maße.
       
       Weggefährten waren sie niemals, Zeitgenossen schon – und zwar in einem
       tieferen Sinne als lediglich aufgrund der banalen Gleichzeitigkeit ihres
       Handelns. In den frühen 80er Jahren fühlte sich fast die gesamte
       westdeutsche Bevölkerung von Helmut Kohl und von Petra Kelly vertreten.
       Nicht vorbehaltlos, schon gar nicht vorbehaltlos begeistert. Aber eben
       doch: repräsentiert. Allerdings dürfte es fast niemanden gegeben haben, der
       beiden zugleich positive Seiten abzugewinnen vermochte. Es galt ein
       striktes Entweder-oder. In einem viel radikaleren Sinne als heute.
       
       Die westdeutsche Gesellschaft der 80er Jahre war in ideologischer Hinsicht
       verhärtet und verkrustet. Unversöhnlich standen die verschiedenen Lager
       einander gegenüber. Weite Teile des linksliberalen Spektrums – bis hinein
       in den Bürgerrechtsflügel der FDP – sahen in der Anhängerschaft der Union
       entweder irregeführte Naive oder verkappte Faschisten. Weite Teile des
       Lagers, das sich selbst als bürgerlich definierte, hielten die politischen
       Gegner für Sympathisanten des Terrorismus. Wenn nicht gar für potenzielle
       Terroristen. Der Riss verlief quer durch Familien, und er zerstörte
       Freundschaften.
       
       Die demokratische Legitimation zu seiner Kanzlerschaft holte sich Helmut
       Kohl bei vorgezogenen Neuwahlen am 6. März 1983. Bis dahin hatte er seine
       Macht als Regierungschef nur aus dem Koalitionswechsel der
       FDP-Bundestagsfraktion von der SPD hin zur Union bezogen, also aus einem
       Vorgang innerhalb der Institutionen des politischen Systems. Diesen Makel
       konnte er mit einer eigenen Mehrheit der Wählerstimmen für das neue
       Regierungsbündnis beseitigen.
       
       Wie reagierten darauf seine erbittertsten Gegner, also jene Teile der
       Bevölkerung, denen selbst der SPD-Politiker Helmut Schmidt als der
       Inbegriff des Reaktionärs erschienen war? Relativ gelassen. Immerhin war
       doch der jungen, neuen Partei „Die Grünen“ erstmals der Einzug in den
       Bundestag gelungen.
       
       ## Politischer Stolperstein
       
       Deren Ziel, nämlich das politische Klima im Land von Grund auf zu ändern,
       schien mit Sonnenblumen und Strickpullovern im Bundestag in greifbare Nähe
       gerückt zu sein. Der Wechsel von einem seinerzeit vor allem als Technokrat
       beurteilten SPD-Kanzler zu einem bräsigen CDU-Provinzler wurde allenfalls
       als Stolperstein auf dem Weg zu einem grundlegenden Paradigmenwechsel
       betrachtet, keineswegs als dauerhaftes Hindernis.
       
       Vielen Vertretern beider Seiten ging es mehr um das Klima, um das
       Lebensgefühl, als um Sachfragen. Der Patriarch aus der Pfalz gab einem
       Milieu die dringend gewünschte Sicherheit, das auf die Herausforderungen
       einer sich wandelnden Welt in zunehmendem Maße verunsichert reagierte.
       Familie, Heimat, Beständigkeit – das waren die Koordinaten des Systems von
       Helmut Kohl. Als wie verlogen sie sich im Hinblick auf seine Person viel
       später herausstellen sollten, hätten seinerzeit weder seine Gegner noch
       seine Anhänger für möglich gehalten.
       
       Linke und Liberale haben Helmut Kohl lange nicht ernst genommen. Unbeholfen
       und tumb wirkte er. Der Spitzname „Birne“ schien ihn hinreichend zu
       charakterisieren, um ihn spöttisch als Übergangserscheinung abtun zu
       können. Seine Ankündigung, die „geistige und moralische Wende“
       herbeizuführen, war in den Augen der Opposition nicht bedrohlich, sondern
       lächerlich.
       
       ## Länger als alle Vorgänger
       
       Was für ein Irrtum. 16 Jahre insgesamt sollte der pfälzische Katholik im
       Amt bleiben und somit länger regieren als alle seine Vorgänger. Mit seinem
       Amtsantritt begann eine Zeit, die seine politischen Gegner und sogar einige
       seiner einstigen Anhänger später als bleiern beschreiben würden. Die aber
       insgesamt seiner Partei, die sich als konservativ verstand, in einer Phase
       des Umbruchs eine geistige Heimat bot. Diffus und dennoch verlässlich. Wie
       verlässlich, das merkten Parteigänger von CDU und CSU erst, als die Ära
       Kohl vorbei war. Als nämlich die ostdeutsche Protestantin Angela Merkel die
       Führung übernommen hatte und langsam, allmählich, geduldig jedes Prinzip
       der Konservativen zur Disposition stellte – und auch aufzugeben bereit war,
       solange die Verhandlungsbereitschaft ihr nur die Macht sicherte.
       
       Die Grünen wurden schneller desillusioniert. Das parlamentarische System
       zähmte sie rasch. Dabei hatten die meisten Anhänger der Partei gedacht, das
       werde umgekehrt funktionieren. Die Enttäuschung über das gebrochene, schon
       vom SPD-Kanzler Willy Brandt gegebene Versprechen, mehr Demokratie zu
       wagen, wirkt bis heute nach.
       
       Eines der Opfer dieses Prozesses war Petra Kelly. Die 1947 geborene
       Aktivistin – ein inzwischen abgegriffenes Wort, aber gibt es ein besseres
       für eine prominente Vertreterin der Friedensbewegung, der ökologischen
       Bewegung, der demokratischen Bewegung ihrer Zeit? – war, wie viele ihrer
       Generation, zunächst Anhängerin der SPD gewesen und sogar Parteimitglied.
       1979 trat sie aus, 1980 wurde sie Gründungsmitglied der Grünen.
       
       Eine Hoffnungsträgerin, über die bereits eine Biografie verfasst wurde, als
       sie erst 35 war, „Politikerin aus Betroffenheit“. Hoffnungsträgerin war sie
       auch und vor allem in einer Hinsicht: Kelly war eine der ersten deutschen
       „Weltbürgerinnen“. Die Kindheit hatte sie in Deutschland verbracht, die
       Jugend in den USA, die frühen Jahre ihrer Berufstätigkeit bei der
       Europäischen Kommission in Brüssel – damals noch eine seriöse Adresse für
       demokratisches Engagement. „Wir sind eine Welt“: Der heute sentimental
       anmutende Satz der sozialen Bewegungen war seinerzeit weder kitschig noch
       abgedroschen. Sondern stand für ein umfassendes politisches Programm. Das
       jedoch, mangels interkultureller Erfahrungen, nur von wenigen glaubwürdig
       vertreten werden konnte.
       
       ## Kompromissloses Glühen
       
       Petra Kelly war eine der wenigen, die es vertreten konnte. Sie glühte. Für
       Umweltschutz, für Friedenspolitik, für Menschenrechte. Kompromisslos war
       sie. Und offenbar wahnsinnig anstrengend. Mit Bürgerrechtlern aus der DDR
       pflegte sie intensive Kontakte, der Schutz von ungeborenem Leben war ihr
       ein Anliegen. Keine Themen, für die ihre neue Heimat – die Partei der
       Grünen – stand.
       
       Vielleicht hätten ihre politischen Verbündeten sogar die widerspenstige
       Petra Kelly ausgehalten, vielleicht hätten sie sogar mit den Widersprüchen
       ihrer politischen Position leben können. Immerhin war sie ja ein Vorbild,
       das weit über die Parteigrenzen hinaus wirkte. Ihre radikale Ehrlichkeit
       brachte Wählerstimmen.
       
       Wenn sie bloß nicht so fiebrig intensiv gewesen wäre. Wenn sie nicht so
       unfassbar sicher gewesen wäre, das nur ihr Weg – nur ihr Weg – zum Ziel
       führen würde. Wenn sie sich doch wenigstens an Übereinkünfte gehalten
       hätte. Zum Beispiel daran, dass Abgeordnete der Grünen im Bundestag nach
       zwei Jahren ihren Platz für Nachrücker räumen, also „rotieren“. Damit sich
       in der neuen, alternativen Partei eine Klasse der Berufspolitiker erst gar
       nicht etablieren kann. Oder daran, dass ein bestimmter Teil der Einnahmen
       aus öffentlichen Ämtern der Partei zu spenden ist. Beide parteiinternen
       Absprachen hat sie nicht respektiert.
       
       Für allzu wichtig hielt sie ihre Anliegen, man könnte auch sagen: Für
       unersetzlich hielt sie sich selbst. Wie groß war der Unterschied zwischen
       Petra Kelly und Helmut Kohl? Der Exkanzler stellte – Jahre nach ihrem Tod –
       im Zuge der CDU-Spendenaffäre das eigene Ehrenwort über Recht und Gesetz.
       Das ist nicht dasselbe wie mangelnde Bereitschaft, Einkünfte an eine Partei
       abzuführen. Gewiss nicht. Festzuhalten aber bleibt: Beide, Petra Kelly wie
       Helmut Kohl, haben sich selbst als Person und den von ihnen vertretenen
       politischen Kurs für wichtiger gehalten als jedes Regelwerk.
       
       ## Erkennbare Gemeinsamkeit
       
       Das war nicht die einzige Gemeinsamkeit. Seltsame Ironie: Ausgerechnet der
       auf oft fürchterliche Weise deutschtümelnde Pfälzer hat den Prozess der
       europäischen Integration vorangetrieben wie kaum jemand anderes – außer
       Petra Kelly. Beide waren dabei vor allem von friedenspolitischen Motiven
       getrieben. In den Zeiten, in denen erbittert für oder gegen die Nachrüstung
       und den Nato-Doppelbeschluss gekämpft wurde, fehlte allen Beteiligten die
       Gelassenheit, um diese Gemeinsamkeit zu erkennen.
       
       Je stärker sich die Grünen professionalisierten, desto blasser wurde das
       Bild von Petra Kelly. Desto einsamer wurde sie. Am Ende ihres Lebens war
       sie krank, beruflich erfolglos, von Geldsorgen gequält. Ihr Lebensgefährte,
       der ehemalige General Gert Bastian, arbeitete in friedenspolitischen
       Organisationen mit, die – wie heute bekannt ist – von der Stasi gesteuert
       wurden. Ob und in welchem Umfang ihm selber das bewusst war, ist ungeklärt.
       Ungeklärt ist auch, was ihn letztlich veranlasst hat, erst Petra Kelly und
       danach sich selbst zu töten. Überforderung sei es wohl gewesen, vermuteten
       später Hinterbliebene. Auch er sei ein Opfer gewesen.
       
       Opfer gab es, wie heute bekannt ist, auch in der Familie des Kanzlers.
       Weder Kohl noch Kelly konnten dem öffentlich von ihnen gezeichneten Bild
       gerecht werden. Die Realität war vielschichtiger. Und doppelbödiger.
       
       1 Oct 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Bettina Gaus
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Kommentar Helmut Kohl: Zu viel Versöhnung
       
       Während seiner Kanzlerschaft war Helmut Kohl oft das Ziel irrationaler
       linker Kritik. Jetzt wird er immer milder betrachtet. Das war und ist
       falsch.
       
 (DIR) Kommentar Erinnerung an Petra Kelly: Ehrenmord bei den Grünen?
       
       Eine kleine Begriffskunde in Sachen „tragischer Tod“ und die Empfehlung:
       Sagt einfach die Wahrheit, wenn es um den Tod Petra Kellys geht.
       
 (DIR) Kommentar Kohl: Die Kohl-Merkel-Festspiele
       
       Für die Seele der Union: Der Rummel um Altkanzler Helmut Kohl soll die
       zerstrittenen Truppen der Christdemokraten einen.
       
 (DIR) 30 Jahre „geistig-moralische“ Wende: Unser Papa Kohl
       
       Helmut Kohl wird gehasst oder geliebt. Für viele Deutsche ist der
       Dauerkanzler bis heute die Projektionsfläche kindlicher Sehnsüchte nach
       einer Vaterfigur.
       
 (DIR) Biografie: Helmut Kohl, 1.052 Seiten dick
       
       Obwohl die Biografie über Helmut Kohl über tausend Seiten lang ist, werden
       seine frühen und späten Jahre nur kurz abgehandelt.
       
 (DIR) Das gute Leben der Petra Kelly: Türen öffnen. Tätig sein.
       
       Petra Kelly soll das gute Leben gesucht haben. Ihr Lebensstil, ihre
       Entäußerungen, ihr Tod sprechen dagegen. Annäherung an eine große
       Politikerin.