# taz.de -- Bob Dylans Album „Tempest“: Schiffe und Chiffre
       
       > Bob Dylan besingt auf seinem neuen Album den Untergang der „Titanic“ –
       > große Schiffe regen Bob Dylans Fantasie an. Im Album schwingt die gesamte
       > Folkgeschichte mit.
       
 (IMG) Bild: Große Schiffe regen Bob Dylans Fantasie seit Langem an.
       
       Ein Song ist wie ein Traum, und ich versuche, ihn wahr werden zu lassen“,
       schreibt Bob Dylan im ersten Teil seiner „Chronicles“. Dass der 71-jährige
       Singer-Songwriter eine romantische Ader hat, ist bekannt. Dass er eine
       Stimme hat, die Wein zu Essig macht, ebenfalls. Seine Liebe gilt in erster
       Linie dem Song und seinem Text. Und mit seiner körnigen Stimme verbindet
       Dylan Musik und Sprache, formt daraus immer wieder einzigartig präsente
       Erzählungen.
       
       Etwa wenn er in dem langsam walzernden, 14-minütigen Titelsong seines neuen
       Albums „Tempest“ die Geschichte eines Schiffbruchs in 45 Versen fasst und
       dieses Konvolut klingen lässt, als wäre es die selbstverständlichste Sache
       der Welt. Mit dieser Methode hält Dylan den Lauf der Welt an – zumindest
       für die Dauer seiner Songs.
       
       „Tempest“ ist dem Combostil von Westernswing nachempfunden, es zitiert aus
       dem Melodienschatz der Countrymusik der dreißiger bis fünfziger Jahre.
       Ausgeschlafen verschrauben Dylan und seine Band – besonders hervorzuheben
       wäre die Fiddle von Los-Lobos-Gitarrist und Gastmusiker David Hidalgo –
       repetitive Elemente mit einer raffiniert variierten Hookline, bis die
       Grundmelodie felsenfest sitzt.
       
       Ihre Beschwingtheit ist das schwindelig machende Fundament für Düsternis
       und Verzweiflung, die der Text heraufbeschwört, zwei der zentralen Themen
       des Eigenbrötlers Dylan. Der da so vor sich hin brodelt, hat hunderte Songs
       auf inzwischen 35 Alben verewigt. Hat alle Höhen und Tiefen des
       Popstar-Daseins durchlebt. Soll seit Jahren angeblich den Nobelpreis für
       Literatur erhalten. Gastiert auf einer „Never-ending Tour“ und erweckt
       nicht den Anschein, so bald mit den Konzerten aufzuhören.
       
       ## Anatomie der Popkultur
       
       Ist außerdem bestens mit der Anatomie der Popkultur vertraut. Förderte in
       der Radiosendung „Theme Time Radio Hour“ von 2006 bis 2009 Perlen aus der
       Steinzeit der angloamerikanischen Unterhaltungsmusik zutage und bereitete
       diese Fundsachen auf wie Nachrichten: Anfang des 20. Jahrhunderts hatten
       Songs tatsächlich Nachrichtenstatus und teilten den Menschen das Neueste in
       Reimform mit.
       
       Man könnte dies auch von allen zehn Songs des neuen Albums sagen, die sich
       dem musikalischen Erbe der USA auf je unterschiedliche Weise annähern, mal
       über den Blues, mal über den stotternden Rockabilly-Rumble eines Link Wray.
       Feste Größen sind Dylans gleichnishaft vorgetragene Texte, die alles
       Geschehen zum Fließen bringen.
       
       „Tempest“ schildert den Untergang der „Titanic“ im April 1912. Etwa aus der
       Sicht eines Eisbergs, „50.000 tons of disaster, heading my way“. Mal
       benutzt der Vortragende nautische Fachausdrücke: „They battened down the
       hatches / But the hatches wouldn’t hold“ (Sie verschalkten die
       Einstiegsluken / Aber die Luken hielten dem Druck nicht stand).
       
       Mal beurteilt er die Katastrophe aus spiritueller Sicht: „The ship was
       going under / the universe had opened wide / The roll was called up yonder
       / The angels turned aside.“ Schildert Akte von sinnloser Gewalt: „Brother
       rose up against brother / They fought and slaughtered each other.“
       Porträtiert selbstlose Hilfsbereitschaft im Angesicht des Todes: „Jim Dandy
       smiled / Never learned to swim / Saw the little crippled child / And gave
       his seat to him.“ Das ist nur die Spitze des anspielungsreichen Eisbergs.
       
       ## Ohne James Camerons Film undenkbar
       
       Dem Rolling Stone sagte Dylan, „Tempest“ wäre ohne die Verfilmung von James
       Cameron mit Leonardo DiCaprio undenkbar. Ein gewisser Leo wird im Song
       auftauchen und ein „sketchbook“ zücken. Der erste Vers aber gebührt Rose,
       der von Kate Winslet gespielten jungen Frau. „The pale moon rose in its
       glory / Out on the western town / She told a sad, sad story / Of the great
       ship that went down.“
       
       Große Schiffe regen Bob Dylans Fantasie seit Langem an. In seiner Kindheit
       am Lake Superior, in der Hafenstadt Duluth, empfindet er sie als „stählerne
       Monster“. Das Tuten ihrer Nebelhörner geht ihm in Mark und Bein. In dem
       Song „Mississippi“ (erschienen 2001) verhandelt er mit dem Sinken eines
       Dampfers seine eigene Sterblichkeit.
       
       In „Tempest“ könnte man das Schiff auch als Chiffre für ein Staatsgebilde
       verstehen, ein schwer zu bändigendes Ungetüm, in dem der Einzelne
       rücksichtslos seine Interessen durchsetzt, zum Schaden der Allgemeinheit.
       Dieses apokalyptische Motiv kommt auch in den anderen Songs des Albums zum
       Ausdruck.
       
       „I think when I turned my back / The whole world behind me burned“, heißt
       es in dem Song „Long and Wasted Years“. „Meddlers and peddlers / they buy
       and they sell / They destroy your city / They destroy you as well“, lauten
       die Zeilen in „Early Roman Kings“. Und hier kommt Shakespeare ins Spiel.
       
       ## Materieller Überfluss und spirituelle Vollendung
       
       Zwar heißt Dylans neues Album ausdrücklich „Tempest“ und nicht „The
       Tempest“ („Der Sturm“) wie das Drama von William Shakespeare. Dass das
       Stück aber in der Frühzeit der Besiedelung der Neuen Welt als
       propagandistische Metapher für die erfolgreiche Kolonisierung Amerikas
       gelesen wurde, lässt Dylan anklingen.
       
       „Over the waves she rode / Sailing into tomorrow / To a golden age
       foretold“, singt er in „Tempest“ und spricht damit nicht nur die
       Jungfernfahrt der „Titanic“ an, sondern auch den materiellen Überfluss und
       die spirituelle Vollendung, die sich die Gründerväter drei Jahrhunderte
       früher bei ihrer Anlandung an der Küste Virginias erhofften, aber nicht
       bekamen. Ein Teil der Auswanderer, religiöse Outcasts und Verbannte,
       solidarisierte sich stattdessen mit den Indianern und ging jenseits der
       Frontier in der Wildnis verloren.
       
       Die Geschichte dieser Aussteiger gehört zu den Folkmythen der USA.
       Letztendlich begründet sich darauf auch die Folie aller populären Musik.
       Von Blues über Folk zu Country bis zum neuen, großartigen Album von Bob
       Dylan, der von dieser vielgestaltigen Geschichte des Außenseitertums
       inspiriert ist und sie in seiner Musik bewahrt und ins Heute transportiert.
       
       Bob Dylan: „Tempest“ (Columbia/Sony)
       
       16 Sep 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Julian Weber
       
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