# taz.de -- Schlagloch Marktliberalismus: Philipp Röslers Nachtgebet
       
       > Thatchers deutscher Nachfolger Philipp Rösler wünscht sich einen Staat
       > ohne Gesellschaft. Der Markt soll alles richten – das ist sein
       > zweifelhaftes Mantra.
       
 (IMG) Bild: Entfesselter Markt: Krawalle mit Plünderungen 2011 in London.
       
       „There is no such thing as society.“ Margaret Thatcher wird gern mit dem
       Satz zitiert, so etwas wie eine Gesellschaft gebe es gar nicht, sondern es
       gebe nur Individuen, deren Familien und Gruppen, die sich um Interessen
       bildeten (vermutlich, um sich mit schwindendem Interesse wieder
       aufzulösen).
       
       Der Satz hat nachhaltig gewirkt, egal ob es ein authentischer
       Maggie-Thatcher-Satz war oder aus ihrer Entourage stammte. Denn Politik
       gemacht hat sie auf jeden Fall eben so, als gäbe es keine Gesellschaft.
       Thatchers Nachfolger hüben wie drüben hüteten sich, den „Es gibt keine
       Gesellschaft“-Satz so schneidig zu wiederholen, der wie der böse Kern von
       Neoliberalismus, Sozialabbau und Entsolidarisierung wirkt. Niemand war so
       ehrlich wie sie.
       
       Plötzlich aber taucht dieser Satz an allen Ecken und Enden wieder auf.
       Philipp Rösler, Vorsitzender der FDP, lässt ihn bei jeder Gelegenheit
       durchschimmern und macht den Eindruck, als würde er ihn vor dem
       Schlafengehen herbeten: Es gibt keine Gesellschaft, es gibt keine
       Gesellschaft, es gibt … Der Satz „Das regelt der Markt“ ist nichts anderes
       als eine verkleidete Variante von „Es gibt keine Gesellschaft“.
       
       ## Entpflichtung der Ökonomie
       
       Die britischen Konservativen schwafeln derzeit lieber von einer „big
       society“, aber sie meinen im Grunde auch nur eine sanftere Form der
       Abschaffung der Gesellschaft, nämlich in „verbundene Individuen“. Die
       Praxis der „big society“ ist eine weitere Kürzung der Sozialleistungen und
       eine weitere Entpflichtung der Ökonomie von Rücksichten auf die arbeitenden
       Menschen.
       
       Die taktische Bedeutung der Aussage, es gebe keine Gesellschaft, ist fast
       idiotisch klar: Wenn es keine Gesellschaft gibt, gibt es auch nichts, was
       uns allen gehört, nichts, was uns alle verpflichtet, nicht einmal etwas,
       was uns alles angeht (jedenfalls jenseits des Marktgeschehens). Denn
       Gesellschaft stünde der radikalen Privatisierung der Welt im Weg. Ohne
       Gesellschaft kein soziales Verhalten und keine soziale Verpflichtungen.
       
       In drastischerem Kontext taucht der Satz wieder in der Fiktion auf. In
       Petros Markaris’ Kriminalroman zur Krise in Griechenland, „Faule Kredite“,
       kommt ein holländischer Bankmensch vor, der exakt diese Vorstellung, dass
       es eine Gesellschaft in Wahrheit nicht gebe, vehement vertritt (und dafür
       prompt umgebracht wird).
       
       Er geht – wir vermuten: wie Maggie Thatcher – davon aus, dass Gesellschaft
       eigentlich ein kommunistisches Hirngespinst ist: „Europa hat die
       ’Gesellschaft‘ erst nach dem Zweiten Weltkrieg entdeckt – und das auch nur
       unter dem Eindruck des Kommunismus. Da die Ostblockstaaten ständig über die
       ’Gesellschaft‘ geredet haben, hat auch der Westen den Begriff übernommen,
       um die Ausbreitung des Kommunismus zu verhindern.“
       
       ## Tod in Griechenland
       
       Und: „Es gibt keine Gesellschaften, Herr Galanopoulos, es gibt nur einzelne
       Gruppierungen: Unternehmer, die ihre Interessen verteidigen, und
       Arbeitnehmer, die – vertreten durch Gewerkschaften und andere
       Organisationen – genau das Gleiche tun. Es gibt nur Interessengruppen, der
       Begriff Gesellschaft ist eine Erfindung.“ Nun, wie gesagt, Herr De Moor
       wurde in diesem Roman umgebracht, womöglich nicht allein wegen seiner
       Aussage, sondern auch wegen der Selbstgefälligkeit, die er an den Tag
       legte.
       
       Aber was war denn, Herr De Moor, vor der Übernahme der Gesellschaft von den
       Kommunisten in die mehr oder weniger sozialdemokratisierten Länder? Da war
       „das Volk“, da war „die Nation“, da waren Religion und Kultur, und da war
       auch „die Rasse“. Der jetzige Abschied von der Gesellschaft als
       Zusammenhalt ist offensichtlich begleitet von der Restauration dieser
       anderen, unsympathischeren, aber vielleicht marktkonformeren Vorstellungen
       von Kollektiven; während wir also immer weniger Gesellschaft sind, dürfen
       wir uns dafür immer mehr Volkstümlichkeit, Nationalismus, kulturelle
       Arroganz und, wenn auch in kontrolliertem Maße, Rassismus leisten. Die
       Antwort auf den Verlust des Sozialen ist die Nationalfahne am Auto; die
       Antwort auf das Verschwinden von Gesellschaft ist der lautstarke Genuss
       völkischen Beisammenseins.
       
       Wollen die Radikalen des Neoliberalismus nun eigentlich die Gesellschaft
       als Praxis, als Vorstellung, als Wert abschaffen, damit sie sich in Ruhe
       ihren Interessen widmen können? Oder sind sie nur einfach zynisch und offen
       genug, ihren Opfern auch noch die letzte Hoffnung auf eine Gemeinschaft zu
       nehmen, in der es neben der Freiheit des Einzelnen auch noch eine
       Verpflichtung auf Gerechtigkeit und eine Stimmung der Solidarität geben
       könnte? Für den Rest gibt es Oktoberfeste und Weltmeisterschaften.
       
       Aber: Lockt nicht die große Freiheit jenseits der Vorstellung von
       Gesellschaft? Und wäre es daher nicht an der Zeit, Maggie Thatcher recht zu
       geben?
       
       ## Gesellschaft hält auf
       
       Für wen jedoch sollte man noch Politik machen, wenn nicht für eine
       Gesellschaft? Für sich selbst? Oder für die eigene Interessengruppe? Für
       geheime oder offene Auftraggeber? Und für wen könnte man produzieren und
       handeln, wenn nicht für die Gesellschaft? Es gibt keine Gesellschaft, das
       heißt auch: Es gibt keine Demokratie. Das heißt auch: Es gibt keine Moral.
       
       Ohne Gesellschaft also hätten wir nur unentwegt „atomisierte“ Einzelne und
       Gruppen, die sich in einem Konkurrenzkampf und einer Komplizenschaft
       zwischen Staat und Ökonomie den vorteilhaftesten Platz suchen würden. Wir
       machen doch alles nur für euch, durften lange Zeit Staat und Ökonomie
       sagen, wir tun alles, damit es euch besser geht, und weil es eben nicht
       jedem Einzelnen besser gehen kann, und schon gar nicht allen Einzelnen,
       meinen wir ein ideales Kollektiv, dem wir den Namen „Gesellschaft“ gegeben
       haben. Jetzt ist Gesellschaft in den Rang eines Hindernisses geraten:
       Gesellschaft hält den Fortschritt auf.
       
       Dem Satz „Es gibt keine Gesellschaft“ steht ein anderer gegenüber: „Es gibt
       eine Vorstellung von Gesellschaft“, den wir möglicherweise noch einmal
       reduzieren können: „Es gibt eine Hoffnung auf Gesellschaft.“ Gesellschaft
       ist nichts, was ist, und nichts, was wir haben, Gesellschaft ist, was wir
       denken, sprechen, bilden und tun. Und was wir träumen.
       
       10 Oct 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Georg Seesslen
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Griechenland
 (DIR) Doktortitel
 (DIR) Gemeinwohl
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Reparationszahlungen von Deutschland: Athen will Milliarden zurück
       
       Laut einem Geheimbericht hat Griechenland Ansprüche auf riesige
       Weltkriegs-Reparationszahlungen von Deutschland. Berlin betrachtet alles
       als abgegolten.
       
 (DIR) Schlagloch Akademischer Betrieb: Schafft den Doktortitel ab!
       
       Der Doktortitel ist einfach nur ein nerdiger Schwanzvergleich. Einen
       wissenschaftlich-fachlichen Aussagewert hat er nicht.
       
 (DIR) Schlagloch Wohlstand: Alles hängt am „Wir“
       
       Das Beste steht uns noch bevor, sagte Obama zum Antritt seiner zweiten
       Präsidentschaft. Das heißt: Wir können das Gemeinwohl stärken, wenn wir es
       wollen.
       
 (DIR) Philipp Rösler zu erneuerbarer Energie: „Die Kosten in den Griff kriegen“
       
       Strom muss bezahlbar bleiben. Sonst akzeptieren die Bürger die Energiewende
       nicht, glaubt Wirtschaftsminister Philipp Rösler.
       
 (DIR) Rösler lobt Steinbrück: Koalition nicht ausgeschlossen
       
       Ein „respektabler Kandidat“, aber „noch“ große inhaltliche Differenzen: Der
       FDP-Chef schlägt gegenüber den Sozialdemokraten einen neuen Ton an.
       
 (DIR) Debatte Arm gegen Reich: Die Überflüssigen
       
       Mit dem US-Wahlkampf kommt mal wieder ans Licht, wie viele Reiche
       eigentlich ticken. Schaffen sie die Armen ab? Oder siegt das
       „Eat-the-rich“-Prekariat?
       
 (DIR) Das Schlagloch: Kruzifix nochmal!
       
       Religionskonflikte sind immer auch Indizien für kulturellen Zerfall. Der
       wird sich ohne bindenden Vertrag zwischen Religionen und Gesellschaft
       fortsetzen.