# taz.de -- Neue Bücher über China: Vom Elend des Journalismus
       
       > Kai Vogelsangs „Geschichte Chinas“ informiert den Leser hervorragend. Der
       > Reporter Landolf Scherzer begnügt sich mit ersten, meist mageren
       > Eindrücken.
       
 (IMG) Bild: Scherzer versucht den Reichtum aus dem Elend der Arbeiter zu erklären.
       
       Chinesische Intellektuelle haben mit Erstaunen die literarische Produktion
       ihrer westlichen Kollegen registriert. „Wer einmal nach China reist,
       schreibt ein Buch. Wer zweimal nach China fährt, schreibt einen Aufsatz.
       Wer dreimal nach China kommt, schweigt.“
       
       Der Thüringer Journalist Landolf Scherzer hat nach seinem ersten Aufenthalt
       in China gleich ein dickes Reportagebuch „Madame Zhou und der
       Fahrradfriseur“ geschrieben. Jedes Kapitel trägt einen chinesischen
       Untertitel, allerdings in lateinischer Umschrift. Was soll das?, fragt man
       sich: Exotikeffekt? Der erste Kapiteltitel kommt der Wahrheit am nächsten:
       „Als ich angekommen war, wusste ich nur wenig, als ich wieder wegfuhr,
       wusste ich kaum mehr.“
       
       Das Buch berichtet von mehr oder weniger zufälligen Begegnungen eines im
       vereinigten Deutschland erfolgreichen Reporters, der von China wenig weiß
       und kein Chinesisch kann. Als Hauptvermittler seines Einblicks gilt ihm ein
       in Peking hängen gebliebener Ossi, der ihn wiederum mit anderen China-Ossis
       in Kontakt bringt.
       
       Das müsste nicht uninteressant sein: China durch die Brille von gelernten
       Postkommunisten gesehen; denn vieles, was dem westlichen Besucher in China
       chinesisch vorkommt, ist gar nicht chinesisch, sondern steht in
       realsozialistischer Tradition. Aus dieser Perspektive erscheinen die
       chinesischen ökonomisch aufblühenden Landschaften tatsächlich wie ein
       „Wunder“, das man durch Nachdenken verstehen könnte.
       
       ## Dumme Fragen und nicht so kluge Antworten
       
       Aber in dieser Reportage wird naives Fragen zum Erkenntnisprinzip erhoben –
       egal, wen Scherzer interviewt. Wer dumm fragt, bekommt bekanntlich nicht
       immer kluge Antworten. Einem Vergleich mit Liao Yiwus grandiosem
       Gesprächsband „Fräulein Hallo und der Bauernkaiser“, der durch die Titelei
       nahegelegt wird, hält das Buch einfach nicht stand.
       
       Landolf Scherzer schreibt wie ein Tourist, der sein journalistisches Alter
       Ego nicht unterdrücken kann. Er trifft durchaus interessante Leute wie den
       letzten Militärattaché der DDR, der den Chinesen heute höchst erfolgreich
       Thüringer Bratwürste auftischt.
       
       Aber das Gespräch wirft kein Schlaglicht auf die sich rapide verändernden
       Verhältnisse und die unterschiedlichen Umstände von VR China und der DDR,
       sondern es gipfelt in der postkommunistischen Weisheit, man solle nicht
       alles Schwarz-Weiß sehen.
       
       In diesen Rahmen lässt sich auch der Heidelberger Exmaoist Uwe Kräuter
       eingemeinden, der nach der McNamara-Demo 1970 nach China floh und sich vom
       übersetzenden Mitarbeiter der marxistisch-leninistischen Propaganda
       inzwischen zum Medienunternehmer mauserte. Exkommunisten als Kapitalisten
       in China – dieses Reportagefeld ist längst abgegrast. Man muss nur die
       Namen der Interviewpartner googeln.
       
       ## Philosophie abgelöst durch Journalismus
       
       Im Preußen des 19. Jahrhunderts machte man sich lustig, wenn auf miserable
       Weise die Armut aus der pauvreté erklärt wurde; Scherzer macht nun
       umgekehrt den halsbrecherischen Versuch, den chinesischen Reichtum aus dem
       Elend der Wanderarbeiter zu erklären. Die Misere der Philosophie wird vom
       Elend des Journalismus abgelöst.
       
       Scherzer findet durchaus clevere Gewährsleute für sein Wissen aus zweiter
       Hand; aber die Anstrengung, die er sich und dem Leser erspart, schlägt sich
       in einem intellektuell dürftigen Ertrag nieder. Diese Art von Journalismus
       ermöglicht kein Aufschlagen der Augen, sondern befriedigt das Bedürfnis
       nach Bescheidwissen, ohne den Sessel verlassen zu müssen.
       
       Dabei ermöglicht der Reichtum der täglich anwachsenden Chinaliteratur
       durchaus schon ein Reisen im Kopf. Aus der Fülle der angebotenen
       Chinaliteratur sticht Kai Vogelsangs „Geschichte Chinas“ bei Reclam hervor.
       Hätte Scherzer bloß nach seiner Reise und vor seinem Schreiben diese knapp
       650 Seiten gelesen, die ein Chinareisender im Koffer haben sollte. Dann
       hätte er schon die wichtigen Fragen gefunden.
       
       „Doch was heißt chinesisch?“, fragt sich der Hamburger Chinaforscher
       Vogelsang. Die beeindruckende fünftausendjährige Kontinuität chinesischer
       Kultur kann nur begriffen werden, wenn man sich die atemberaubenden
       Veränderungen der chinesischen Gesellschaft und ihre gewaltige
       Assimilationskraft vor Augen führt.
       
       ## Der Neokonfuzianismus der Song-Zeit
       
       Die immer wiederkehrenden Fragen westlicher Touristen nach chinesischer
       Religion und Philosophie, wie viel Chinesen denn nun Buddhisten,
       Konfuzianer oder Taoisten seien, verkennen eine entscheidende chinesische
       Fähigkeit und Praxis, den Synkretismus.
       
       Auch kann man bei Kai Vogelsang schlüssig nachlesen, wie sehr schon der
       sogenannte Neokonfuzianismus der Song-Zeit sich vom Konfuzianismus der
       Han-Zeit unterscheidet, weil nämlich der große Theoretiker Zhou Dunyi die
       Lehre vom Dao mit dem Gedanken von der Einheit der Gegensätze versöhnt.
       
       Wem das nicht genügt, der sei auf Wolfgang Bauers immer noch lesenswerten
       dtv-Band „China und die Hoffnung auf Glück“ verwiesen – ein ganz leichtes
       Stück im Gepäck, dessen Lektüre es einem erspart, auf jede
       pseudophilosophische Selbstdarstellung hereinzufallen.
       
       22 Nov 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Detlev Claussen
       
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