# taz.de -- Seelische Störung bei Kindern: Die Angst vor den anderen
       
       > Die Gedanken kreisen nur um sich selbst, Angst vor Ablehnung und Wunsch
       > nach Anerkennung wechseln sich ab. Soziale Phobie kann schlimme Folgen
       > haben.
       
 (IMG) Bild: Ständig das Gefühl, dass andere über sie lachen würden.
       
       Pünktlich um sieben Uhr klingelte der Wecker. Doch die 16-jährige Marina
       wollte nicht aufstehen. Seit Wochen fühlte sie sich wie gelähmt. Von unten
       hörte Marina die Stimme ihrer Mutter. Es sei Zeit aufzustehen – Zeit für
       die Schule. Langsam stand Marina auf. Ihr war übel.
       
       Die Schule war die reinste Hölle. Meistens saß Marina stumm auf ihrem
       Platz. Forderte man sie auf, etwas zu sagen, brach ihr der Schweiß aus. Sie
       begann zu zittern. Ihr Kopf war leer. Die richtige Antwort fiel ihr nicht
       ein. Marina schämte sich. Sie wusste, dass sie eine Außenseiterin war.
       Ständig hatte sie das Gefühl, dass andere über sie lachen würden. Als sie
       merkte, dass sie die Schule nicht schaffen würde, ging sie nicht mehr hin.
       In einer Ambulanz für Angststörungen fand man schließlich heraus, dass
       Marina unter einer Sozialen Phobie litt.
       
       Die Soziale Phobie ist eine der häufigsten seelischen Störungen im Kindes-
       und Jugendalter – etwa fünf bis zehn Prozent aller Kinder und Jugendlichen
       sind betroffen. Meist beginnt die Erkrankung zwischen dem neunten und 20.
       Lebensjahr.
       
       „Sozialphobie“, sagt die an der Katholischen Universität
       Eichstätt-Ingolstadt arbeitende Professorin Rita Rosner, „ist eine
       ausgeprägte Angst, in Gegenwart anderer etwas Peinliches zu tun.“ Daher
       meiden die Erkrankten Situationen, in denen sie im Zentrum der
       Aufmerksamkeit stehen, oder halten diese nur unter großer Anspannung aus.
       Es fällt manchmal nicht schwer, die Gefühle eines erkrankten Kindes
       nachzuempfinden: Wer spricht schon gerne mit einer Autoritätsperson,
       schreibt eine Klassenarbeit oder gar vor der ganzen Klasse an der Tafel?
       
       Andere Situationen, die Sozialphobiker fürchten, wirken auf Gesunde
       hingegen harmlos: zum Beispiel in ein Schwimmbad gehen, mit anderen Kindern
       spielen oder einen Freund einladen.
       
       ## Fließende Grenzen
       
       Die Grenze zwischen Schüchternheit und Sozialer Phobie ist fließend. Die
       meisten Therapeuten richten sich nach dem DSM (Diagnostic and Statistical
       Manual of Mental Disorders): Bei Sozialphobikern ist die Angst so stark,
       dass sie einen hohen Leidensdruck erzeugt und die Lebensführung
       beeinträchtigt – und dies mindestens sechs Monate lang. Mit Gedanken wie
       „Ich bin anderen immer unterlegen“, „Ich muss alles richtig machen, um
       akzeptiert zu werden“ oder „Ich muss immer ruhig, gelassen und cool wirken“
       setzt sich der Erkrankte selbst unter Druck.
       
       Eine Abwärtsspirale kann entstehen: Gefangen in seiner Angst, meidet der
       Sozialphobiker in der wichtigen Phase des Erwachsenwerdens
       zwischenmenschliche Kontakte. Damit verpasst er Erfahrungen im Umgang mit
       anderen, die für sein weiteres Leben von Bedeutung sind. Studien zeigen,
       dass Sozialphobiker häufiger als Gesunde die Schule abbrechen, vereinsamen
       und arbeitslos sind. Keinen Erfolg zu haben, schwächt das ohnehin geringe
       Selbstvertrauen noch mehr.
       
       Um diesen Prozess zu stoppen, ist eine frühzeitige Behandlung von
       Bedeutung. Doch nicht immer wird eine Soziale Phobie gleich erkannt. Die
       ruhigen Kinder fallen wenig auf. Und nicht immer ist ein Kind zu einer
       Behandlung bereit. Auch ist nicht genau bekannt, was eine Soziale Phobie
       verursacht. Vieles deutet daraufhin, dass mehrere Faktoren zusammenwirken.
       
       Offenbar spielt die Familie eine wichtige Rolle. Sozialphobiker haben
       oftmals schon als Kinder von ihren Eltern gelernt, mit anderen Menschen
       vorsichtig und ängstlich umzugehen. Eine verstärkte Kontrolle, ein
       überbehütendes Verhalten und eine verminderte emotionale Zuwendung
       verstärken die krankhafte Entwicklung. Obendrein können belastende
       Erlebnisse hinzukommen – etwa eine Scheidung der Eltern oder von anderen
       ständig ausgelacht, gedemütigt und gehänselt zu werden.
       
       ## Die Rolle der Genetik
       
       Hinzu kommt die Biologie. Wie Zwillings- und Familienstudien zeigen, spielt
       die Genetik offenbar eine Rolle. Der Kernspintomograf lässt erkennen, dass
       bei Sozialphobikern die Mandelkerne im limbischen System überaktiv sind.
       Dadurch lernen die Betroffenen schneller, in bestimmten Situationen mit
       Angst zu reagieren. Da zugleich Bereiche in der Großhirnrinde weniger aktiv
       sind, fällt es den Erkrankten schwerer, ihre Angst bewusst zu
       kontrollieren.
       
       Hier greift die kognitive Verhaltenstherapie an. Ihr Ziel ist,
       Einstellungen, Gedanken, Bewertungen und Überzeugungen bewusst zu machen
       und zu kontrollieren. Die Jugendlichen lernen, in angstauslösenden
       Situationen ihre Aufmerksamkeit nach außen zu richten, statt sich wie
       bisher auf die eigenen Befürchtungen, Ängste und Körperempfindungen zu
       konzentrieren. Die Behandlung soll Sicherheitsverhalten abbauen – etwa
       leises Sprechen.
       
       Zumeist haben Betroffene verzerrte Vorstellungsbilder von sich selbst. So
       kann ein Betroffener mit Errötungsangst überzeugt sein, dass sein Kopf so
       rot sei wie die untergehende Sonne, wenn er ein Mädchen anspricht. Ein
       Video zeigt ihm, dass dies nicht stimmt. Ein weiteres Ziel der Therapie
       ist, das oftmals zermürbende Grübeln der Jugendlichen abzuschwächen.
       Ständig kreisen die Gedanken eines Sozialphobikers um die eigene Wirkung.
       
       Eine Betroffene, die zu einer Party eingeladen ist, denkt vorher tagelang
       darüber nach, was sie anziehen soll, um nicht aufzufallen. Sie überlegt,
       was sie sagen wird, wenn man sie zum Tanzen auffordert. Diese Gedanken
       steigern die Anspannung noch mehr. Aber auch nach dem Partybesuch überprüft
       die Sozialphobikerin kritisch ihr Verhalten und kommt zu dem Schluss, dass
       sie sich wieder einmal blamiert hat. Die Therapie soll helfen, das Grübeln
       aufzugeben und die Situationen realistischer einzuschätzen.
       
       ## Der innere Konflikt
       
       Im Gegensatz zur kognitiven Verhaltenstherapie geht die psychodynamische
       Kurzzeittherapie davon aus, dass ein zentraler innerer Konflikt zwischen
       Wunsch und Realität der Erkrankung zugrunde liegt. Ein solcher Konflikt
       könnte beispielsweise sein: Ich möchte im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen
       und von anderen bestätigt werden. Aber die anderen werden mich demütigen
       und abwerten. Die Therapeuten gehen davon aus, dass es nicht nur einen
       Konflikt gibt, der allen Patienten mit Sozialer Phobie gemeinsam ist. Die
       Therapie hat das Ziel, den zentralen inneren Konflikt eines Erkrankten
       aufzuspüren und aufzulösen.
       
       Ob das Internet eine Soziale Phobie verstärkt oder bessert, darüber
       streiten sich die Experten. Trägt das Internet dazu bei, dass sich ein
       Sozialphobiker in sein stilles Kämmerlein zurückzieht und nur noch zu
       seinem Computer eine Beziehung aufbaut? Oder hilft das Internet dem
       Erkrankten, Hemmungen zu überwinden und Beziehungen zu anderen Menschen
       aufzubauen? Nicht selten empfinden Sozialphobiker den Kontakt zu
       Therapeuten oder Mitpatienten als zu intensiv. Dies ist für die Betroffenen
       ein Grund, Psychotherapien zu meiden oder gänzlich abzubrechen.
       
       Daher entwickelten schwedische Forscher ein Therapieprogramm, in dessen
       Zentrum ein internetbasiertes Selbsthilfemanual steht. Es enthält neun
       Module mit Informationen über Soziale Phobien und
       kognitiv-verhaltenstherapeutischen Übungen. Immer, wenn ein Teilnehmer ein
       Modul bearbeitet hat, wird getestet, ob er das Lernziel erreicht hatte. Hat
       er bestanden, kann er sich mit Hilfe eines Passwortes in das nächste Modul
       einloggen. Ansonsten muss er die Lektion wiederholen.
       
       ## Medikamente nur als Ausnahme
       
       Neun Wochen lang standen die Teilnehmer per E-Mail in Kontakt mit einem
       Psychotherapeuten, der sie beriet. Vorgesehen war, dass sie sich zweimal
       kurz in einer Gruppe trafen. Viele Patienten verweigerten jedoch die
       Teilnahme. Dennoch konnten mit dem internetbasierten Therapieprogramm und
       mit einigen wenigen E-Mail-Kontakten zu einem Therapeuten positive Effekte
       erzielt werden: Soziale Phobie, Vermeidungsverhalten, Depressionen und
       andere Angststörung besserten sich deutlich. Die schwedischen Forscher
       betonten jedoch, dass internetbasierte Behandlungen immer als Ergänzung und
       nicht als Ersatz für die traditionellen psychotherapeutischen Verfahren
       eingesetzt werden sollten.
       
       Zur Gabe von Medikamenten findet die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und
       Jugendpsychiatrie und -psychotherapie klare Worte: Pharmaka sollten immer
       die Ausnahme sein und nur vorübergehend und als Unterstützung für andere
       Maßnahmen eingesetzt werden. „Eine alleinige Behandlung mit Psychopharmaka
       ist abzulehnen.“
       
       Inzwischen geht es Marina besser. Nach langem Zögern begann sie mit einer
       Psychotherapie. Auch das Internet hilft ihr. Und die Selbsthilfegruppe.
       Vielleicht schafft Marina in ein paar Wochen sogar eine der schwierigsten
       Übungen: vor vielen fremden Menschen leere Cola-Dosen an einer Schnur zu
       ziehen. Durch die Innenstadt von Berlin.
       
       30 Dec 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Claudia Borchard-Tuch
       
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