# taz.de -- Cathi Unsworths Noir-Thriller „Opfer“: Unsere kleine Hölle
       
       > Cathi Unsworth zeichnet mit „Opfer“ das Porträt einer ostenglischen
       > Provinzstadt. Anstand und Moral sind dort reine Fassade.
       
 (IMG) Bild: Gothic gefällt ihr, keine Frage: Cathi Unsworth.
       
       In Ernemouth möchte man nicht tot über dem Zaun hängen. Andererseits:
       Vielleicht lässt sich die Kleinstadt an der englischen Nordseeküste so noch
       einigermaßen ertragen. Oder man macht es wie die Jugendlichen dort während
       der Achtziger, die am liebsten in der örtlichen Bar Captain Swing’s
       abhängen und zum Bier düster-melancholische Musik hören, was ihnen Zuflucht
       bietet und zugleich ihre missliche Lage vor Ohren führt.
       
       Die scheinbare Ruhe des fiktiven Orts wird im Jahr 1984 durch ein
       Gewaltverbrechen gestört: Ein Jugendlicher liegt eines Tags ermordet in
       einem Kriegsbunker am Strand, um das Opfer herum wurde mit seinem Blut ein
       Pentagramm gezogen. Man vermutet einen Ritualmord, seine Schulkameradin
       Corrine Woodrow, die ein Polizist bei der Leiche findet, wird als
       Hauptverdächtige verurteilt und in eine geschlossene Anstalt gesperrt.
       
       Cathi Unsworth’ „Opfer“ hebt an wie ein Gruselthriller, man vermutet dunkle
       Kräfte am Werk, zumindest aber einen eingefleischten Satanisten-Zirkel, der
       hier sein Unwesen treibt. Dass die Umstände des Verbrechens alles andere
       als eindeutig geklärt wurden, erfährt man gleich zu Beginn der Handlung: 20
       Jahre nach der Tat rollt eine engagierte Londoner Anwältin den Fall noch
       einmal auf, da neue Indizien aufgetaucht sind, die für die Anwesenheit
       einer zusätzlichen Person am Tatort sprechen. Privatdetektiv Sean Ward wird
       beauftragt, der Sache nachzugehen.
       
       Ward, ein ehemaliger Polizist, nach einem beinahe tödlichen Einsatz als
       Invalide aus dem Dienst geschieden, stößt am Ort nicht nur auf die zu
       erwartende Verschlossenheit der Einwohner, er macht im Lauf seiner
       Nachforschungen auch einige unerfreuliche Entdeckungen über die soziale
       Ordnung Ernemouth’, die ihn ein weiteres Mal in ernsthafte Gefahr bringen
       werden. Dringend benötigte Hilfe aus der Bevölkerung kommt von eher
       unerwarteter Seite.
       
       In der Welt von „Opfer“ regiert das generalisierte Misstrauen. Kaum eine
       der Figuren in diesem sauber gesponnenen Noir-Gewebe ist tatsächlich so,
       wie er oder sie auf den ersten Blick scheint. Wenn sich die mutmaßliche
       Mörderin am Ende als unschuldig herausstellt, ist dies eines der wenigen zu
       erwartenden Ergebnisse der Handlung.
       
       ## Falsche Fährten
       
       Dass Cathi Unsworth dabei regelmäßig falsche Fährten legt, mit vielfältigen
       Andeutungen jongliert und erst nach und nach enthüllt, mit was für einer
       Art von Kriminalität ihr Protagonist Ward es genau zu tun hat, gehört
       zunächst einmal zu den Genre-Konventionen.
       
       Über diese Pflichterfüllung hinaus entwickelt sie die Handlung an zwei
       parallel geführten Zeitsträngen entlang: Die Geschichte springt zwischen
       den aktuellen Ermittlungen Wards und den Ereignissen der Achtziger hin und
       her, was Unsworth konsequent zum Aufbau von Spannung nutzt. Satanismus hat
       in der Geschichte ebenfalls seinen Platz, doch an anderer Stelle, als man
       vermuten sollte.
       
       „Opfer“, im Original treffender mit „Weirdo“ betitelt, was sowohl „Spinner“
       als auch „Psychopath“ heißen kann, ist zudem ein Tribut an die Musik der
       Achtziger, die als New Wave und Postpunk den wütenden Ausbruch von Punk mal
       in resignative Düsternis, mal in leidenschaftliche „neuromantische“
       Verweigerungsgesten überführte.
       
       ## Immer neue Bedeutungsebenen
       
       Unsworth hat sich, wie sie dem Onlinejournal The Quietus verriet, von einer
       Reihe von Schallplatten dieser Zeit zu dem Roman inspirieren lassen, allen
       voran Echo & The Bunnymen. Deren Album „Heaven Up Here“ von 1981 spielt für
       die Handlung eine Schlüsselrolle, insbesondere das Cover mit den
       Silhouetten der vier Musiker an einem einsamen Strand offenbart nach und
       nach immer neue Bedeutungsebenen.
       
       Selbst Stimmungen vermittelt Unsworth mit Vorliebe über Musik, angefangen
       bei eindeutigen Michael-Jackson-Verweisen bis hin zu mehr oder weniger
       kryptischen Schilderungen der Ikonografie einer Gothic-Band wie The Sisters
       of Mercy, deren Logo einen stilisierten Kopf aus einem Anatomiebuch vor
       einem Stern zeigt. In ihrer detaillierten Beschreibung der Musik gibt sich
       Unsworth zugleich als gestandene Musikjournalistin zu erkennen: Bevor sie
       das Krimi-Fach für sich entdeckte, schrieb sie oft über New Wave und Gothic
       für Zeitschriften wie Melody Maker oder Bizarre.
       
       Unsworth hat mit „Opfer“ ein durchaus persönliches Buch geschrieben: Sie
       kombiniert die in finstersten Farben ausgemalte Reise durch die moralische
       Verkommenheit einer Kleinstadt auf Schönste mit der bis zum strategischen
       Einsatz von Make-up beobachteten Schilderung einer Epoche der Popkultur,
       der sich die Autorin, wie ihr Porträtfoto unschwer erkennen lässt, bis
       heute verbunden fühlt.
       
       ## „Opfer“. Aus dem Englischen von Hannes Meyer. Suhrkamp Verlag, Berlin
       2013, 288 Seiten, 14,99 Euro
       
       12 Mar 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Tim Caspar Boehme
       
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