# taz.de -- Die Wahrheit: Auf der Flucht vor Stalins Enkel
       
       > Der russische Geheimdienst macht Jagd auf einen Mikrofilm, der in einem
       > maroden Backenzahn einplombiert ist und die Welt retten kann.
       
       Sie waren, das stand fest, hinter mir her. Ich hatte sie schon in der
       Adalbertstraße bemerkt, im Botanischen Garten und hinterher auf der
       Kennedybrücke. Wenn ich mich richtig erinnerte, saßen sie bereits im
       Wartezimmer, als ich die Praxis meines Zahnarzts verließ – und das
       Unheimlichste war, dass der offenbare Boss des Trios aussah wie Josef
       Dschugaschwili persönlich: Stalin!
       
       Dann trat er mir jäh in den Weg. Ich schrie unwillkürlich auf – der
       Walrossschnurrbart, die stramm nach hinten gekämmte Tolle: Er war es oder
       war zumindest sein Enkel.
       
       „Towarischtsch, du hast etwas, das mir gehört“, sagte Enkelchen und
       versuchte mich zu packen. Ich drehte mich weg und taumelte rückwärts,
       stolperte vor eine heftig klingelnde Straßenbahn, sprang im letzten Moment
       von den Schienen und rannte – während die Straßenbahn zwischen mir und
       meinen Verfolgern hindurchbimmelte – los.
       
       Ich sauste in die Ketzergasse und fragte mich, wie ausgerechnet ich in so
       eine obskure Geschichte geraten konnte. Immerhin bin ich nur ein harmloser
       Bursche, der sein Geld mit harmlosen Geschichten verdient und in seiner
       Freizeit mit seinen nicht minder harmlosen Freunden in Kneipen herumhockt
       und harmloses Zeug palavert. Wie war einer wie ich in den Besitz von etwas
       gekommen, für das sich der russische Geheimdienst interessierte? Hatte mir
       womöglich mein Zahnarzt einen Mikrofilm in den maroden Backenzahn
       einplombiert? Einen Film, von dem die Rettung der Welt abhing? Der mir noch
       an diesem Nachmittag von einem russischen Folterdentisten mit Hammer und
       Meißel und selbstverständlich ohne Narkose wieder herausgeklopft werden
       sollte?
       
       An der Ecke Ketzergasse Mozartstraße stieß ich mit Enkelchen zusammen. Er
       fluchte. Wohin konnte ich fliehen? Selbstverständlich wussten sie längst,
       wo ich wohnte. Ich überlegte kurz, zu meinem Zahnarzt zurückzulaufen und
       mir den verwünschten Film wieder herausbohren zu lassen. Wahrscheinlich
       aber lag der Doktor längst mausetot auf seinem Behandlungsstuhl,
       durchlöchert von seinen eigenen Bohrern, an denen die Polizei
       ausschließlich meine Fingerabdrücke gefunden hatte.
       
       Das hieß, auch die Mordkommission war jetzt hinter mir her. Genauso wie
       vermutlich die Chinesen, die CIA und der britische MI5. Man kannte das ja
       aus diesen Filmen. Der Einzige, der nicht zu den Agentenfilmen passte, war
       ich – denn leider besaß ich weder einen Raketenrucksack, mit dem ich in
       vertikaler Richtung entfliehen konnte, sobald ich eingekreist war, noch
       eine Armbanduhr, mit der ich Giftpfeile abschießen konnte.
       
       In diesem Moment packte mich jemand von hinten. Es war Enkelchen. „Was
       glaubst du eigentlich, wer wir sind, Towarischtsch?“ Und mit diesen Worten
       hielt er mir eine Jacke vor die Nase, die ohne Zweifel mir gehörte – was
       wiederum bedeutete, dass ich bei meinem Zahnarzt offenbar eine andere Joppe
       vom Garderobenständer genommen und angezogen haben musste. Enkelchen hatte
       mich wohl doch nicht wegen eines einplombierten Mikrofilms verfolgt.
       
       18 Mar 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Joachim Schulz
       
       ## TAGS
       
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