# taz.de -- Erdgasförderung in den Niederlanden: Im Land der tausend Risse
       
       > Unter Groningen liegt eines der größten Erdgasreservoirs der Welt. Das
       > Problem ist, dass darüber ziemlich viele Menschen wohnen. Ein Ortsbesuch.
       
 (IMG) Bild: Nach dem Beben: Schäden an der Hauswand.
       
       GRONINGEN taz | Henri Plattje ist ein Sisyphos ohne Berg. Wo sollte der
       auch herkommen, hier in der Ebene zwischen Groningen, Wattenmeer und
       Dollart? Und doch türmen sie sich vor ihm auf, die Gebäudeschäden in dieser
       gezeichneten Gegend. Dreitausend waren es nach dem schweren Beben im
       vergangenen August. Um Neujahr, das war der Plan, sollten alle Schäden
       registriert sein. Doch just als der Sachverständige Plattje und seine
       Kollegen kurz vor der Vollendung standen, begann die Erde wieder zu
       wackeln: 30 Mal in zwei Monaten, so oft wie nie zuvor. Der Schadensanzeiger
       steht jetzt auf 5.500. Wohin Plattje auch kommt, die senkrechten Risse, die
       im hektischen Zickzack durch Wände und Mauern schießen, sind schon da.
       
       Manchmal, sagt Henri Plattje, kann er keine Risse mehr sehen. Quer durch
       die Einöde reist der stämmige Mittvierziger ihnen hinterher. Bei acht oder
       neun Terminen pro Tag nimmt er mit Notizblock und Digitalkamera den Schaden
       auf, und der Wind peitscht dazu, als wolle er ihn vorantreiben. Der Blick
       aus dem Autofenster streift Bauernhöfe und Dörfer aus Backstein. Dazwischen
       tauchen hier und da Bohranlagen auf, Labyrinthe glänzender, futuristisch
       geschwungener Rohre und langer silbriger Pipelines. 29 sind es, verstreut
       über die ganze Provinz im Nordosten der Niederlande. Unter Groningen liegt
       eines der größten Erdgasreservoirs der Welt. Das Problem ist, dass darüber
       ziemlich viele Menschen wohnen.
       
       Erdbeben, sagt die Betreiberin, die Niederländische Erdöl Gesellschaft NAM,
       gehören leider dazu, wenn Erdgas gefördert wird. Die Gesteinsschichten
       werden porös, und ihre unterschiedliche Dichte lässt den Boden erzittern.
       Bauexperte Plattje, im Herbst von der NAM angeheuert, erklärt: „Die
       Bruchlinien im Boden ziehen sich von Groningen ostwärts. Entlang dieser
       Linien finden die Beben statt.“ Und: „Wenn die Erde sich bewegt, steht ein
       Gebäude unter Spannung. Um sich zu entladen, sucht sie sich den schwächsten
       Punkt. So entstehen Risse.“
       
       Plausibel mag das sein. Die Bewohner der Region tröstet das wenig. Die
       Angst sitzt ihnen im Nacken. Oft reicht ein Lkw, sie hervorzurufen. Das
       Dröhnen des schweren Motors, sagt Hilda Groeneveld, lasse die Menschen
       sofort an Erdbeben denken. Bange blicken sie dann auf die Wände, die sich
       gleich wieder zu bewegen beginnen könnten. Schnell kommt da die Regung,
       nach draußen zu laufen, so wie an diesem Abend im letzten August, als sich
       das ganze Dorf im Pyjama auf der Straße begegnete. Und dann, im letzten
       Moment, das Aufatmen: nur ein Lkw. Das Nervenkostüm ist strapaziert.
       
       ## Vergütung aller Schäden
       
       Hilda Groeneveld will das nicht länger hinnehmen. Sie gehört zum Vorstand
       der Groninger Bodem Beweging, ebenso wie ihre Schwiegertochter Daniëlle
       Blanken. Der Protest gegen die Gasgewinnung liegt in der Familie. „Sicher
       wohnen, leben und arbeiten“ steht auf dem druckfrischen Flugblatt der
       Bürgerinitiative, und: „Vergütung aller Schäden durch Gasgewinnung an
       unseren Wohnungen“. Genau das versichert die Betreiberfirma mantraartig.
       Daniëlla Blanken ringt um ein Lächeln. „Sie haben uns nie ehrlich über die
       Gefahren informiert. Und außerdem versuchen sie, die Kosten für die
       Reparaturen zu drücken.“
       
       Groeneveld und Blanken suchen darum selbst die Beschädigten auf. Neulich
       waren sie auf einem Bauernhof außerhalb ihres Dorfs Middelstum. Mehr als
       zwei Zentimeter war das dicke Gemäuer aus dem 19. Jahrhundert an manchen
       Stellen aufgesprungen. Eine Wand hatte einen senkrechten Riss über
       zweieinhalb Meter, und im Winkel vor der Haustür senkte sich der poröse
       Boden, aus dessen Gesteinsschichten das Gas entfernt ist, um 20 Zentimeter.
       Die Frau des Hauses sagte, sie schäme sich, wenn Besuch käme. Die rissigen
       Wände bessert sie regelmäßig selbst nach. Hilda Groeneveld, die bald 70
       wird, regte an, das Fundament von einem Schadensexperten prüfen zu lassen.
       
       ## Druck auf die Regierung
       
       Untersucht wird in der Region einiges. Im Januar veröffentlichte das
       Königlich- Niederländische Meteorologische Institut (KNMI) eine Studie,
       wonach die Stöße in Zukunft zwischen 4 und 5 auf der Richterskala liegen
       könnten. Bislang ging man von 3,9 als Obergrenze aus. Die staatliche
       Minenaufsichtsbehörde empfiehlt daher, weniger Gas zu fördern. Doch das
       Problem ist komplexer. Bernard Dost, oberster Seismologe des KNMI, sieht
       die Beben weniger in Zusammenhang mit einzelnen Bohrperioden, denn als
       Folge der jahrzehntelangen Gasgewinnung. Weshalb selbst ein drastischer
       Einschnitt bei die Fördermenge kaum Schutz vor schweren Beben verspräche.
       
       Der Druck auf die Regierung in Den Haag wächst. Doch bevor diese von ihrer
       gasförmigen Goldader abrückt, will sie ihrerseits ein paar Dinge
       herausfinden: Wie heftig können die Beben noch werden? Gibt es
       Alternativen, die mit weniger Risiken verbunden sind? Und wie hoch ist der
       Wertverlust der Häuser? Bis zum Jahresende, so Wirtschaftsminister Henk
       Kamp, soll es Klarheit geben. Danach will er eine Entscheidung treffen.
       Viele denken, die Regierung spiele mit Blick auf den lukrativen
       Erdgasexport auf Zeit. Zumal man sich im abgelegenen Groningen vom
       „Westen“, dem politischen und wirtschaftlichen Zentrum des Landes,
       übergangen fühlt.
       
       ## Mit Notizblock und Kamera
       
       Als im Februar binnen fünf Tagen acht Mal die Erde wackelte, schrieben die
       Bürgermeister und der Deichgraf der Region einen Brief ans Parlament:
       „Gemeinsam mit unseren Bewohnern machen wir uns große Sorgen um unsere
       Sicherheit.“ Bis zum Winter wollen sie nicht auf die Entscheidung warten.
       Stattdessen fordern sie umgehend präventive Schritte. „Die Beben von morgen
       sind nicht mehr zu verhindern. Aber die vom nächsten Jahr.“ Der Unwille der
       Bürgermeister hat einen weiteren Grund: Dass die Betreiberin des Gasfelds
       Folge- und Nebenwirkungen ihres Geschäfts selbst dokumentiert, stößt auf
       Unverständnis. Und auch was die „Kapazitäten“ der Schadensbehandlung
       betrifft, ist man skeptisch.
       
       Unterdessen zieht der Schadensexperte Henri Plattje unbeirrt weiter durch
       das Land der tausend Risse, ausgestattet mit Notizblock, Kamera und diesem
       kumpelhaften Ton, der nie anbiedernd wirkt. In Warffum, zehn Kilometer von
       der Küste entfernt, lenkt er den Wagen auf das Anwesen der Familie van
       Straalen. Rau fegt ihm der Wind ins Gesicht, als er mit dem Landwirt das
       Gehöft inspiziert.
       
       57 Zentimeter dick sind die roten Backsteinmauern, sagt Meneer van
       Straalen, aber wie die meisten Häuser hier ist auch seins nicht gemacht, um
       Erdbeben standzuhalten. Wer hätte das auch ahnen können, als es vor 200
       Jahren gebaut wurde? An der Rückseite der Scheune ist eine gemauerte Stütze
       von anderthalb Metern abgebrochen. Neben dem Eingangstor wölbt sich die
       Wand nach außen, und darüber beschreibt die breite Dachrinne bemerkenswerte
       Kurven. Es versteht sich von selbst, dass Henri Plattje reihenweise Risse
       ablichtet.
       
       ## Große Besorgnis
       
       Später erläutert er am Küchentisch das weitere Vorgehen. Die Wände müssen
       schleunigst verstärkt werden, denn beim nächsten Beben soll das Haus
       gewappnet sein. „Das ist wie beim Skifahren“, holt er aus. „Da tragen Sie
       auch Skischuhe, um ihren Knöchel zu schützen. Also werden wir Ihrem Haus
       jetzt, Skischuhe anziehen.“ Zustimmendes Nicken. „Aber woher wissen wir, ob
       die Maßnahmen ausreichen werden?“, fragt die Bauersfrau schließlich. Ihre
       Besorgnis kann sie nicht verbergen. Sie kennt Eltern, die ihren Kindern
       Schlafzimmer im Erdgeschoss einrichten, vorsichtshalber. „Bleiben die Beben
       so, oder werden sie heftiger?“
       
       Aber mit solchen Fragen ist auch der Sachverständige überfordert. „Das“,
       sagt Henri Plattje in aller Ehrlichkeit, „kann ich Ihnen auch nicht sagen.“
       
       3 Apr 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Tobias Müller
       
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