# taz.de -- Empire State Building wird 82: Die imperiale Spitze des Traums
       
       > In Rekordzeit hochgezogen, wurde das Empire State Building am 1. Mai 1931
       > eröffnet. Bis heute dient es als Projektionsfläche der Metropole.
       
 (IMG) Bild: Bis das One World Trade Center eröffnet wird, ist es das höchste Gebäude der Stadt: das Empire State Building mit nächtlich leuchtender Spitze.
       
       NEW YORK taz | Ob jemand New Yorker ist oder nicht, erkennt Shaniqua West
       an der Art, wie die Person in ihr Lokal kommt. „Es ist eine besondere
       Haltung“, sagt sie. „Selbstsicher. Zielstrebig. Direkt.“
       
       Die junge Frau nimmt Bestellungen entgegen. Meist von den Beschäftigten,
       die in den 101 Stockwerken über ihr arbeiten. Morgens schickt sie
       Spiegeleier, Bagels und Pancakes auf den Weg nach oben. Mittags Salate,
       Hühnchen und Fisch. Nachmittags mit Zuckerguss bedeckte Karotten- und
       Kürbiskuchen.
       
       Stammkunden kommen mit einem der 73 Aufzüge aus den Büros in das mit
       dunkelbraunem Marmor dekorierte Foyer herunter. Gehen vorbei an der
       Rezeption, wo Besucher fotografiert werden, bevor sie in die oberen
       Stockwerke fahren. Und entlang an den Wänden mit den frisch restaurierten
       Intarsienarbeiten im Stil der 30er Jahre. Sobald sie ihre Stammkunden
       kommen sieht, gibt Shaniqua West das Essen in Auftrag.
       
       „Ich weiß, was sie wollen“, sagt sie, „und ich weiß, dass sie keine Zeit
       haben.“ Die anderen, die direkt von der 33. Straße ins Café Europa kommen,
       sind oft Schlenderer. Leute, die sich erst einmal umschauen. Aber sobald
       sie an der Salatbar ankommen, werden auch sie Teil des Stakkato im
       Produktionsablauf: Grünzeug auswählen – zwei Schritte. Dressing auswählen –
       zwei Schritte. Kasse – zahlen.
       
       ## Nur einmal oben gewesen
       
       Die 26-jährige Afroamerikanerin Shaniqua West hat immer in Brooklyn gelebt,
       auf der anderen Seite des East River. Die ersten 14 Jahre konnte sie auf
       der Insel Manhattan eine Landschaft aus zwei Bergen aus Beton, Stahl und
       Glas sehen. In Lower Manhattan gipfelte die menschengemachte Topografie im
       World Trade Center. Ein paar Kilometer weiter nördlich, in Midtown, ist der
       höchste Punkt bis heute die Antenne des Empire State Building. Shaniqua
       West beschreibt ihr Verhältnis zu dieser Stadtlandschaft als „Liebe“.
       Manchmal gibt sie Touristen Tipps, was sie noch besuchen könnten.
       
       Ihr selbst fehlen dafür Zeit und Geld. Die junge Frau arbeitet sieben Tage
       die Woche. Muss Schulden für das Studium zurückzahlen. Macht am Wochenende
       zusätzlich ein Praktikum. Und verbringt jeden Tag fast zwei Stunden in der
       Subway. „Das ist völlig normal“, findet sie.
       
       Die Spitze des Wolkenkratzers, der sich mit 381 Meter Höhe und 330.000
       Tonnen Gewicht über ihrem Arbeitsplatz auftürmt, hat sie nur einmal als
       Achtjährige besucht. Damals war sie „aufgeregt und eingeschüchtert“. Heute
       beeindruckt der Wolkenkratzer sie nicht mehr. Der einzige Zwischenfall, der
       ihr einfällt, hätte überall in den USA passieren können: eine Schießerei.
       Auf der Straße ermordete ein Mann seinen früheren Chef, der ihn entlassen
       hatte. Anschließend gaben Polizisten 16 Schuss ab. Töteten den Mörder und
       verletzten acht Passanten. Das war im August 2012.
       
       ## Thematisch bestrahlt
       
       Wer New York als Erster den „Empire State“ genannt hat, verliert sich im
       Dunkel der frühen Jahre der USA. Heute schmückt der imperiale Spitzname die
       Autokennzeichen des Bundesstaates. Und die Welt assoziiert damit den
       Wolkenkratzer. Die verdünnte Spitze des als Bleistift vom Architekturbüro
       Shreve, Lamb & Harmon entworfenen Gebäudes wird jeden Abend thematisch
       beleuchtet. Als Barack Obama wiedergewählt wird, ist der Turm blau
       angestrahlt (die Farbe seiner Partei). Am Nationalfeiertag ist er rot, weiß
       und blau. Zum muslimischen Aid-al-Kebir-Fest wird er grün. Es ist die
       Projektionsfläche der Metropole.
       
       Rund vier Millionen Besucher fahren jedes Jahr für je 25 Dollar (mit dem
       Aufzug in den 86. Stock) oder für 42 Dollar (in den 102.). Sie sind noch
       immer eine Haupteinnahmequelle. 2008 wurde eine Modernisierung begonnen, um
       das Hochhaus, in dem nichts ohne Strom funktioniert, „umweltverträglich“ zu
       machen. Die Investitionen von 550 Millionen sollen vor allem neue Kunden
       anlocken. Mehr Banken, Versicherungen und Unternehmen wie LinkedIn, die
       höhere Mieten zahlen und ganze Etagen benötigen.
       
       Vorerst geht diese Rechnung nur teilweise auf. Ende 2012 standen mehr als
       30 Prozent der Fläche im Empire State Building leer. Das erinnert an die
       Anfangsjahre, als die New Yorker über das „Empty State Building“ witzelten.
       Erst nachdem der Monsteraffe King Kong mit einer zappelnden Menschenschönen
       in der riesigen Faust an der Fassade hochgeklettert war, belebte sich das
       Geschäft.
       
       ## Wetteifern in der Höhe
       
       Das Empire State Building ist eine Geschichte von Männern, die um den
       höchsten und am schnellsten errichteten Turm wetteifern. Zwei
       Autounternehmer – der eine von Chrysler, der andere von General Motors –
       wollen auf dem Höhepunkt der 20er Jahre die Wolken über Manhattan erobern.
       Chrysler vollendet seinen Turm als Erster. Und setzt in einem bis zuletzt
       geheim gehaltenen Überraschungscoup im Herbst 1930 ein verschnörkeltes
       Art-déco-Dach oben darauf. Wenige Tage später beschließen die Investoren,
       das bereits halbfertige Empire State Building von den ursprünglich
       geplanten 320 auf 381 Meter aufzustocken.
       
       Von seiner Eröffnung am 1. Mai 1931 bis zur Eröffnung des World Trade
       Centers im Jahr 1972 ist es das höchste Gebäude der Stadt. Heute stehen in
       Chicago und auf der Arabischen Halbinsel und in Asien höhere Wolkenkratzer.
       Wenn in Lower Manhattan in ein paar Monaten das One World Trade Center mit
       541 Meter Höhe an der Stelle des alten World Trade Center eröffnet, wird
       das Empire State auch in New York wieder auf Platz zwei rücken.
       
       Aber die Erfolgsgeschichte wird bleiben. Das Empire State Building steht
       für den Willen, sich nicht beeindrucken zu lassen. In New York werden
       selbst Katastrophen zu Geschichten von Heldentum. Nach den Attentaten des
       11. September 2001, nach dem totalen Stromausfall vom Sommer 2003 und nach
       dem Wintersturm „Sandy“ im vergangenen Oktober hat die Stadt sich jedes Mal
       selbst gefeiert.
       
       Terrorismus, marode Energieanlagen und steigendes Meeresniveau? New York
       beweist „resilience“ – Widerstandsfähigkeit – und baut trotzig noch höher,
       noch größer. Anders als andere europäische Niederlassungen in der neuen
       Welt war die Stadt nie ein religiöses oder politisches Unternehmen. Von dem
       Moment, als die Dutch West India Company die Insel Manhattan im Jahr 1626
       für 60 Gulden von örtlichen Indianern erwarb, ging es ums Geschäft.
       
       ## Rasant gebaut
       
       Das Empire State Building entsteht in der Rekordzeit von 14 Monaten.
       Während 3.400 Männer den Wolkenkratzer in die Höhe ziehen und manchmal ein
       Stockwerk pro Tag bauen, steigt am Boden die Arbeitslosigkeit von 9 auf 24
       Prozent. Die USA auf dem Weg in die Große Depression. Auf der Baustelle
       dokumentiert Fotograf Lewis Hine die „Sky Boys“. Seine Bilder zeigen
       grinsende Arbeiter, die in schwindelerregender Höhe auf Stahlträgern
       sitzen, rauchen und Butterbrote essen. Keiner trägt einen Helm. Keiner ist
       angeseilt. Manche haben nackte Oberkörper und Beine. Kein Afroamerikaner
       ist zu sehen.
       
       In den USA lechzen sie nach solchen Erfolgsgeschichten. Im 80. Stock
       erzählen große Schautafeln davon. Selbst die Zahl der Todesopfer gerät
       dabei zur Erfolgsmeldung. „Nur“ fünf Arbeiter sind beim Bau ums Leben
       gekommen.
       
       Am Fuß des Wolkenkratzers versuchen junge Frauen und Männer mit
       ausländischem Akzent, Tickets wie auf dem Basar zu verkaufen: „Das höchste
       Gebäude“ – „Die beste Aussicht“. Manche sind erst seit Kurzem in den USA.
       Auf dem Bürgersteig vor der Hausnummer 350 an der Fifth Avenue wollen sie
       ihre eigene US-amerikanische Erfolgsgeschichte beginnen. Für 8 Dollar die
       Stunde, plus Kommission pro verkauftes Ticket. Immer wieder stellen sich
       Männer in weinroten Uniformen und Hüten neben die Straßenverkäufer.
       Notieren, was die sagen. Und geben es, wenn sie es für falsch halten, per
       Walkie-Talkie weiter.
       
       Die Leute in Weinrot wachen über die Sicherheit des Empire State Building.
       Wenn Touristen Fragen haben, schauen die Wachleute auf Spickzetteln nach,
       die sie in der Brusttasche tragen. Die Antenne über ihnen strahlt Dutzende
       Radio- und Fernsehsender aus. Sie haben Knöpfe im Ohr. Aber ihre privaten
       Mobiltelefone müssen sie bei Dienstbeginn im Spind lassen. Vorschrift des
       Arbeitgebers. „Wenn hier eine Bombe platzt“, schimpft einer, „kann ich
       nicht einmal meine Frau anrufen“. Wer protestiert, bekommt die Antwort:
       „Niemand ist gezwungen, hier zu arbeiten.“
       
       ## Schuhe wienern
       
       Julio Galvis hat mit elf Jahren sein erstes Paar Schuhe hergestellt. Vor 35
       Jahren ist er aus Kolumbien in die USA gekommen. Und ein New Yorker
       geworden. Seit einem Vierteljahrhundert repariert er Schuhe im Erdgeschoss
       des Empire State Building. Es ist „das beste building der Stadt“, schwärmt
       er, „sauber und sicher“. Der „shoe shine“ existierte schon im Waldorf
       Astoria Hotel, das 1929 abgerissen wurde, um Platz für das Empire State
       Building zu machen. Bis heute thronen die Kunden auf Ledersesseln, die
       Schuhputzer sitzen auf Hockern vor ihnen und wienern ihre Schuhe.
       
       Der 61-Jährige arbeitet von 7 Uhr morgens bis Viertel vor sechs am Abend.
       Vorher und nachher ist er von und nach Queens unterwegs. Auf der Spitze des
       Wolkenkratzers, aus dem seine Kunden kommen, ist er einmal gewesen. Die
       Freiheitsstatue hat er nie besucht. „Keine Zeit“, sagt er.
       
       Vor ein paar Tagen sind zwei Bomben in der Zielgeraden des Marathon von
       Boston explodiert. Aber Angst vor Attentaten hat Julio Galvis nicht. „Wer
       aus einem Land kommt wie ich, ist mit Gewalt aufgewachsen“, sagt er, „nur
       hier ist so etwas neu.“ Am Eingang seines Salons stehen ein Paar Schuhe.
       Sie gehörten dem Mann, der im vergangenen Sommer erschossen wurde. Er hätte
       sie am selben Tag abholen sollen.
       
       1 May 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dorothea Hahn
       
       ## TAGS
       
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