# taz.de -- Debatte Separatismus: Das Empire stürzt in Schottland
       
       > Im nächsten Jahr könnte sich der nördliche Teil Großbritanniens
       > abspalten. Dann wäre die britische Kolonialgeschichte endgültig beerdigt.
       
 (IMG) Bild: Forward immer, rückwärts nimmer: Der schottische Regierungschef im März auf einer Versammlung seiner Scottish National Party in Inverness.
       
       Diejenigen von uns, die für gewöhnlich ihre Aufmerksamkeit anderen Gegenden
       der Welt widmen – meine gilt, wie die Leser dieser Kolumne wissen,
       normalerweise dem Nahen Osten und besonders Ägypten –, dürften kaum die
       Details des Act of Union kennen, der 1707 Schottland mit England
       vereinigte. Dreihundertsieben Jahre danach, am 18. September 2014, wird die
       schottische Bevölkerung in einem Referendum über ihre Unabhängigkeit
       abstimmen.
       
       Ich habe kürzlich einige Wochen in Schottland verbracht. Und nach vielen
       Gesprächen mit Schotten sowie Engländern, die in Schottland leben, bin ich
       von einer ganzen Reihe von Aspekten der dortigen Debatte fasziniert.
       
       Das Konzept, Unabhängigkeit durch Unabhängigkeit zu erreichen, erscheint
       ohne nähere Analyse als eine geradezu natürliche Idee. Jedes stolze Volk
       strebt ihm zufolge nach Souveränität. Weniger romantisch ist es, Fragen
       nach den ökonomischen Auswirkungen zu stellen oder nach den Beziehungen zu
       Europa – all die Fragen, die Skeptiker dazu antreiben, entweder gegen die
       Unabhängigkeit zu votieren oder für eine Form einzutreten, die essentielle
       Verbindungen mit England aufrechterhält.
       
       ## Gefährliche Sozialsiedlungen
       
       Für die Schotten aus der Arbeiterklasse, mit denen ich gesprochen habe, ist
       die Unabhängigkeit ein selbstverständliches Ziel. Das Klischee von Schotten
       als einem Volk in alten Trachten inmitten von friedlichen Hügeln, Kuhweiden
       und überwältigenden Landschaften, die von schier endlosem Regen begrünt
       werden, geht ihnen auf die Nerven. In Wirklichkeit verbringen viele
       Schotten ihr Leben in überfüllten und oft gefährlichen Sozialsiedlungen.
       Die berüchtigtsten in Glasgow wurden vom Institute for Economics and Peace
       gerade als das „gewalttätigste Gebiet“ des Vereinigten Königreichs
       eingestuft.
       
       Ein Freund von mir, der in einer Sozialsiedlung außerhalb Glasgows
       aufgewachsen ist, beziffert die dortige Arbeitslosenrate auf „gut 50
       Prozent“. Die Folge: Viele junge Männer hängen dort herum und stauen
       Aggressionen an, die sie nirgendwo ablassen können. Für ihn und seine
       Freundin, die beide ähnliche Gedanken äußerten, von England ignoriert,
       falsch verstanden und ökonomisch benachteiligt zu werden, bedeutet
       Unabhängigkeit einen ersten Schritt, das Schicksal selbst in die Hand zu
       nehmen: „Wenn danach Fehler gemacht werden, sind es wenigstens unsere
       Fehler.“
       
       Und dann gibt es Engländer in Schottland, die die Dinge anders sehen.
       Einige davon haben Zweitwohnungen in Schottland gekauft – in vielen Fällen
       Ferienwohnungen, die nicht von den Eigentümern bewohnt werden, was für
       Ärger bei den Einheimischen sorgt. Andere Engländer sind aus Geschäfts-
       oder Jobgründen nach Schottland gezogen. Alle dürften wohl gegen eine
       Unabhängigkeit sein.
       
       ## Erwachsene sprechen
       
       Soweit ich es beurteilen kann, tendiert auch das schottische
       Bildungsbürgertum immer deutlicher zu einer Ablehnung der Unabhängigkeit.
       Dessen Angehörige äußern ihre Meinung in einem klagenden Tonfall, der
       deutlich machen soll, dass man einen kühlen Kopf bewahrt und Erwachsene
       gesprochen haben. Ihre Argumente kreisen darum, dass die ganze Sache nicht
       bis zum Ende durchgedacht worden und daher viele Fragen offen seien – etwa
       welche Währung ein unabhängiges Schottland hätte.
       
       Der Propagandakrieg beider Seiten hat jedenfalls schon begonnen. Der
       schottische Regierungschef Alex Salmond veröffentlichte in dieser Woche
       eine Studie, die die ökonomischen Gründe für eine Unabhängigkeit darlegt.
       Hauptargument: Die schottischen Ressourcen wären nur durch eine
       Unabhängigkeit wirklich nutzbar zu machen. Das gilt vor allem für das
       Nordseeöl, das staatliche Gewinne in den nächsten Jahrzehnten erbringen
       könnte. Darüber hinaus, so Salmond, habe Schottland mehr Steuern pro Bürger
       gezahlt, als es im Durchschnitt Großbritanniens der Fall gewesen sei. Der
       britische Schatzkanzler George Osborne warnte im Gegenzug, dass die
       Regierung in London Schottland nicht erlauben würde, das Pfund als Währung
       zu behalten. Woraufhin Salmond entgegnete: „Seit dem Zweiten Weltkrieg sind
       mehr als 50 Länder unabhängig von London geworden – und niemals haben sie
       seitdem den Wunsch geäußert, wieder zum früheren Stand zurückzukehren.“
       
       Als ägyptische Amerikanerin, die einige Zeit damit verbracht hat,
       Kolonialismus zu studieren – insbesondere seine britische Version –, fühle
       ich mich von dieser Debatte etwas desorientiert und gleichzeitig
       fasziniert. Für mich ist das Ausscheiden Schottlands aus dem Vereinigten
       Königreich nahezu unvorstellbar, vielleicht der letzte Schlag gegen das
       britische Empire, das wir in den letzten Jahrzenten nach und nach
       zerbrechen haben sehen.
       
       ## Immerhin Demokratien
       
       Obwohl ich eigentlich nicht zu Verschwörungstheorien neige, mag ich deshalb
       nicht glauben, dass London einfach mit den Schultern zucken wird und den
       Schotten die Entscheidung überlässt. Am meisten überrascht hat mich die
       ruhige Antwort einiger linksliberaler Engländer, denen gegenüber ich meine
       diesbezügliche Skepsis zum Ausdruck brachte: „Na ja, immerhin sind sowohl
       Schottland als auch England Demokratien.“
       
       Ich bin skeptisch, dass der Geist der Demokratie über die Realpolitik zu
       siegen vermag. Und dennoch bin ich von dieser Position beeindruckt. Ein
       solches Vertrauen in die Demokratie zeigt, was es heißt, eine Position der
       Stärke und der Selbstbestimmung zu besitzen. Zugegeben: Das ist ein
       idealistisches Resümee der Debatten über die schottische Zukunft, aber
       immerhin zutreffend genug, um mich wieder über die Konflikte in der
       arabischen Welt verzweifeln zu lassen. Regionale Kooperationen haben hier
       keine Tradition.
       
       Zu großen Teilen ist dies eine Folge des Kolonialismus und der andauernden,
       damit zusammenhängenden Kriege. Aber die Region muss sich endlich von
       dieser schrecklichen Geschichte befreien. Vielleicht birgt die ruhige, aber
       wichtige Debatte über die Zukunft Großbritanniens nicht nur faszinierende
       Aspekte, sondern auch einige Einsichten.
       
       27 May 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Sarah Eltantawi
       
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