# taz.de -- Kinostart „Oben ist es still“: Driftende Inseln des Autorenfilms
       
       > Liebe tut zunächst immer und überall gleich weh: Nanouk Leopolds Film
       > „Oben ist es still“ erkundet behutsam das Begehren eines Bauern.
       
 (IMG) Bild: Tief sitzt die Traurigkeit: Helmer (Jeroen Willems) und sein Vater (Henri Garcin) haben sich nichts zu sagen.
       
       Wie Menschen aufeinander bezogen bleiben und sich gleichzeitig nichts zu
       sagen haben: darum geht es unter anderem in „Oben ist es still“, dem neuen
       Film der niederländischen Regisseurin Nanouk Leopold.
       
       Helmer, ein wortkarger Mann mittleren Alters, der alleine mit seinem
       bettlägrigen, uralten Vater auf einem Bauernhof lebt und arbeitet, kommt
       regelmäßig mit einem anderen Mann mittleren Alters in Kontakt, der auf den
       ersten Blick nur den Small Talk sucht, auf den zweiten jedoch einiges mehr;
       Helmer blockt ihn – und damit sein eigenes schwules Begehren – ab, nicht
       direkt unfreundlich, aber bestimmt, wieder und wieder.
       
       Der geschäftliche Austausch, um den es bei den Begegnungen vorderhand geht,
       artikuliert auf sonderbare, fast groteske Weise die sexuelle Spannung, die
       sich anders nicht lösen lässt: der namenlose Andere ist ein Milchmann, mit
       einem gewaltigen Schlauch saugt er die von Helmer vorher im Stall
       abgemolkene Flüssigkeit in seinen Wagen.
       
       Der erste Film Leopolds fand schon im Titel ein Bild für
       zwischenmenschliche Beziehungen, die man nicht so leicht zu fassen bekommt,
       weil ihnen Verankerungen, zum Beispiel in Familie und Heimat, fehlen. „Îles
       flottantes – driftende Inseln“ entstand 2001; es geht um drei Frauen in
       Amsterdam, die durchaus verzwickte Männergeschichten durcharbeiten – aber
       der hauptsächlich in provisorisch eingerichteten Altbauwohnungen und auf
       den belebten Straßen der niederländischen Hauptstadt spielende Film hat
       eine sympathische urbane Grundentspanntheit:
       
       Liebe tut zunächst immer und überall gleich weh, aber Heilung findet man
       auf dem locker arrangierten Partnermarkt der Großstadt vielleicht doch
       etwas leichter als in den kleinstädtisch/großbürgerlichen
       (Selbst-)Gefängnissen, die Leopolds spätere Filme erkunden. Was nicht
       heißt, dass die Protagonisten und vor allem Protagonistinnen in „Guernsey“
       (2005) oder „Wolfsbergen“ (2007) nicht auch einen Hang zum Driften haben;
       sie tun sich nur deutlich schwerer damit, den Anker zu lichten.
       
       ## Archipel Autorenkino
       
       Driftende Inseln – das beschreibt einerseits die Figuren der Leopold-Filme,
       zumindest ihren selten wirklich realisierten, eigentlich ohnehin nur
       asymptotisch zu erreichenden Idealzustand; andererseits trifft es
       vielleicht auch etwas an dem Kino, in dem sich die Regisseurin bewegt: am
       zeitgenössischen europäischen Autorenfilm als einer Kinematografie, der
       jeglicher Normalmodus abhanden gekommen ist, in dem sich jede Regisseurin
       mit jedem Film neu erfinden, in eine neue insulare Konstellation
       einschreiben muss.
       
       Das klassische europäische Autorenkino früherer Jahrzehnte wäre in diesem
       Bild ein Kino, das zwar das filmindustrielle Festland mit seiner
       ausdifferenzierten Massenproduktion hinter sich gelassen hatte; das man
       aber immerhin noch als ein fest in der Kontinentalplatte verankertes
       Archipel beschreiben könnte, mit einem festen Abspielort in den
       Arthauskinos, ein Archipel, auf dem Regisseure wie Bergman, Angelopoulos,
       Fellini zwar nicht an einem gemeinsamen Projekt arbeiten, aber immerhin
       über Jahrzehnte hinweg jeweils stabile Autorensignaturen entwickeln
       konnten.
       
       ## Keine Toleranz für Dürrephasen
       
       Heute funktioniert das immer weniger. Die Filmfestivals, die zum
       hauptsächlichen, für einige seiner Teilbereiche zum alleinigen Ort des
       künstlerisch ambitionierten Films geworden sind, handeln Autorenschaft zwar
       hoch; was ihnen jedoch fehlt, ist die Geduld, Filmografien auch in ihrer
       Ausdifferenzierung, über Dürrephasen und das eine oder andere
       fehlgeschlagene Experiment hinweg zu begleiten. Du bist immer nur so gut
       wie dein letzter Film, sagt man in Hollywood – auf das Autorenkino trifft
       das heute fast noch mehr zu: Jeder neue Film muss das auteuristische
       Projekt repräsentieren und im Sinne einer „Weiterentwicklung“
       aktualisieren.
       
       Verschärfend kommt hinzu, dass die bürokratische Trägheit der
       Fördersysteme, auf die das Autorenkino angewiesen ist, wirklich
       kontinuierliches Arbeiten von Anfang an verunmöglicht – das Ergebnis sind
       dann jene unzähligen, unfertig wirkenden Filmografien, die in zwei, drei
       Jahrzehnten auf kaum doppelt so viele Einträge kommen. Schon aufgrund ihrer
       fünf seit 2001 realisierten Langfilme ist Leopold innerhalb solcher
       Koordinaten eine Erfolgsgeschichte, die vom Festivalbetrieb auch als solche
       erzählt wird: Bereits anlässlich ihres vierten Films, „Brownian Movement“,
       widmete ihr das Festival Crossing Europe in Linz eine Retrospektive.
       
       ## Wortkarge Alltagsdramen
       
       In der Tat hat die Niederländerin gerade in ihren letzten beiden Filmen
       eine erstaunliche Entwicklung genommen: Sowohl „Brownian Movement“ als auch
       „Oben ist es still“ sind innerhalb des Produktionsumfelds, in dem sich
       Leopold bewegt, eher großformatige Filme, mit Budgets jenseits der zwei
       Millionen Euro. Und beide Filme entfernen sich auch ästhetisch von den
       kleinen Formen, die vor allem „Guernsey“ und „Wolfsbergen“ ausloteten, vom
       streng kadrierten, wortkargen Alltagsdrama, von der monadischen,
       neurotischen Verschlossenheit ihrer Protagonistinnen.
       
       Sie streben dabei in sehr unterschiedliche Richtungen. „Brownian Movement“
       – der aus der Physik entlehnte Titel beschreibt die temperaturabhängigen
       Bewegungen von Elementarteilchen, sozusagen die Bewegungsvektoren der
       driftenden Inseln – ist ein Versuch in Entgrenzung, ein Film, der die
       kleinen Irritationen der Vorgänger durch grobe, oft etwas ungelenke Brüche
       ersetzt. Es geht um eine junge, eigentlich in jeder Hinsicht perfekt
       integrierte Frau, die ihre Ehe für Sex mit – zumindest im Sinne ihrer
       filmischen Bearbeitung – unförmigen Männern aufs Spiel setzt.
       
       Dem empathischen Blick auf dieses unheimliche Begehren, für das die
       Gesellschaft keine Begriffe hat, steht eine aufdringliche Bildsprache
       entgegen, die über den Körper der Hauptdarstellerin Sandra Hüller in
       durchaus unangenehmer Manier verfügt. Die Neurose hat sich von der Figuren
       gelöst und auf die Form verschoben.
       
       ## Ein Schrank von einem Mann
       
       „Oben ist es still“ ist schon deshalb ein weiterer Neuanfang, weil Leopold
       zum ersten Mal auf einen vorgängigen Stoff zurückgreift: Der Film ist eine
       – recht freie – Adaption des gleichnamigen, auch in deutscher Übersetzung
       greifbaren Romans von Gerbrand Bakker. Außerdem der erste Film mit einer
       männlichen Hauptfigur, eben jenem existentiell einsamen Bauern Helmer,
       hinreißend verkörpert vom kurz nach Abschluss der Dreharbeiten überraschend
       verstorbenen Jeroen Willems.
       
       Viel verdankt der Film Willems, einem Schrank von einem Mann, dessen
       zerfurchtes Gesicht in düster-glänzenden Großaufnahmen von der Kamera
       regelrecht herausskulpturiert wird, auf eine Innerlichkeit verweisend, die
       sich nicht entäußern kann, deshalb aber noch lange keine verlorene ist.
       
       „Oben ist es still“ ist mit Sicherheit Leopolds schönster, vermutlich auch
       ihr bester Film. Ein sanft rhythmisierter Reigen des Verzichts:
       unterdrücktes Begehren und tief sitzende Traurigkeit in den
       kammerspielartigen Innenszenen, dazwischen gelegentlich ein fast
       traumartiges Aufatmen in den mit der Handkamera gefilmten, gleitenden
       Außenszenen, bei den Schafen und Eseln.
       
       Die Klaviermusik, die in einigen dieser Außenszenen einsetzt, scheint
       keinen Anfang und kein Ende, erst recht keinen dramatischen Höhepunkt zu
       kennen, nur eine potentiell unendliche Aneinanderreihung kleiner
       Stimmungsmodulationen. Die meisten Menschen müssen mit ihren Neurosen ein
       Leben lang klarkommen; dem Autorenkino der Gegenwart fehlt eine
       vergleichbare Geduld, es drängt auf verhärtende Zuspitzungen, wenn nicht
       inhaltlicher, so wenigstens formaler Natur. „In Oben ist es still“ gelingt
       es Leopold zum ersten Mal, das Driften ihrer Inseln auf Dauer zu stellen.
       
       ## ■ „Oben ist es still“. Regie: Nanouk Leopold. Mit Jeroen Willems, Henri
       Garcin u. a. Niederlande/Deutschland, 2013, 93 Min.
       
       13 Jun 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Lukas Foerster
       
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