# taz.de -- Im Nachlass stöbern: Niemand antwortet mehr
       
       > Entrümpler sind die Letzten, die sich ein Bild vom Leben mancher
       > Verstorbener machen. Was bleibt, wenn man nicht mehr ist?
       
 (IMG) Bild: Das, was bleibt.
       
       Heinz Ocvirk war einsam, als er starb. Der 7. Januar 2013 ist sein
       Todestag.
       
       Monate später stehen fremde Männer in seiner Wohnung in einem Vorort von
       München - ein Zimmer, Küche, Bad - und wühlen sich durch sein Leben. Viel
       ist es nicht, das übrig geblieben ist davon. Ein paar Fotos, Dias,
       Postkarten, ein wenig Nippes und Bücher. 70 Jahre verteilt auf 30
       Quadratmeter.
       
       Die Wohnung sieht aus, als wäre Herr Ocvirk kurz einkaufen gegangen, als
       habe er die Sachen abgelegt, um sie bald wieder zu nutzen. Da die
       Nagelschere auf dem kleinen Tisch, dort das Handy-Ladegerät in der Ecke (wo
       ist das Handy?), der Schwamm in der Spüle, das Marmeladenglas auf der
       Schrankablage. Er war nicht vorbereitet auf den Tod. Nur der kleine
       Weihnachtsbaum aus Plastik, der immer noch auf dem Sideboard steht, wirkt
       jetzt wie aus der Zeit gefallen.
       
       Erst später entdeckt man den Schimmel auf der Marmelade, das völlig
       vertrocknete Stück Apfel (oder war es mal eine Tomate?) auf dem kleinen
       Porzellanteller in Indisch Blau. Beim Öffnen des Kühlschranks breitet sich
       ein modriger Geruch in der winzigen Küche und dem angrenzenden Zimmer aus.
       
       Sein 
       
       765 Menschen sterben, statistisch gesehen, in Deutschland jeden Tag. Viele
       von ihnen haben keine Hinterbliebenen - so wie Heinz Ocvirk.
       
       Als die fremden Männer kommen, ist er schon mehr als drei Monate tot. So
       lange dauert es mindestens, bis der vom Amtsgericht beauftragte
       Nachlasspfleger ermittelt hat, dass es keine Erben gibt oder diese
       unauffindbar sind. Keine Frau, keine Kinder, keine Familie.
       
       Der Nachlasspfleger beauftragt dann eine Firma, die Wohnung zu entrümpeln,
       alles muss weg. Die Kosten übernimmt der Verstorbene, Entrümpelung und
       Beerdigung werden aus dem Nachlass gezahlt. Ist nicht genug da, zahlt der
       Staat den Rest.
       
       Peter Krinner und Tim Joosten stehen in blauer Arbeitskleidung in Heinz
       Ocvirks Zimmer. Wohnungsentrümpler sind sie, seit zehn Jahren im Geschäft.
       Sie sind froh, dass Herr Ocvirk nicht zu Hause gestorben ist, sondern im
       Krankenhaus.
       
       Manchmal dauert es, bis die Leiche gefunden wird, dann verwest sie langsam,
       Fäulnis und Maden dringen in Matratze oder Sessel. Der Körper der Toten
       wird vom Bestatter abgeholt, um die Matratze müssen sich Krinner und
       Joosten kümmern. "Das sind Gerüche, das kann man sich nur schwer
       vorstellen", sagt Krinner.
       
       Einmal kamen sie in eine Wohnung, in der eine Frau zwei Jahre im Gang lag,
       bevor sie jemand fand. Der Abdruck ihres Körpers hatte sich ins Parkett
       gefressen. "Aber wir sind hart im Nehmen", sagt Krinner und lacht.
       
       Ob die Arbeit ihn nicht traurig mache? Im Gegenteil, antwortet Joosten, der
       Job gebe ihm ein großes Gefühl der Erleichterung und Zufriedenheit. "Ich
       hänge nicht mehr so an materiellen Dingen. Man kann das alles doch gar
       nicht gebrauchen. Am Ende bleibt es übrig und keiner will es mehr haben."
       
       Joosten beschäftigt sich gerne mit seinen Kunden, die er persönlich nie
       kennen gelernt hat. Er nimmt sich Zeit, schaut sich in Ruhe um, will die
       Sachen noch einmal betrachten, bevor er sie wegwirft.
       
       Alles, was beim Eintreffen der Entrümpler in der Wohnung ist, dürfen sie
       behalten. Krinner und Joosten verkaufen manchmal Gegenstände an Trödler
       oder auf dem Flohmarkt, meist Geschirr oder Gemälde. Den Rest, den Müll,
       entsorgen sie auf dem Wertstoffhof. Bei Herrn Ocvirk ist alles, was vom
       Leben übrig blieb, Müll. Müll, der ein Leben skizziert.
       
       Haben 
       
       Laut Impfpass begann es am 17. Dezember 1942. Kinderfotos gibt es keine,
       eine Schwarz-weiß-Aufnahme von 1964 zeigt ein Frauenporträt. Ist es Ocvirks
       Mutter? Seine Schwester?
       
       Auf einem alten Passfoto ist er jung. Gut sieht er aus, mit vollem Haar.
       Ein Heuerbuch aus den sechziger Jahren zeigt, dass er einige Mal vom
       Hamburger Hafen aus auf Frachter in See stach. Nicht oft, nach wenigen
       Einträgen ist wieder Schluss.
       
       Auf anderen Fotos ist Herr Ocvirk irgendwo in den Bergen, irgendwo an einem
       See. Auf einem Bild posiert er mit Kapitänsmütze, tief aufgeknöpftem Hemd
       und Zigarre in der Hand. Da muss er in seinen späten Dreißigern gewesen
       sein, ein stattlicher Mann, ein Don Draper fast wie in "Mad Men".
       
       Es ist ein seltsames Gefühl, in der Wohnung eines Fremden zu stehen, im
       Leben eines Fremden zu wühlen und doch auch vertraut. Die Gegenstände
       strahlen Bekanntes aus, stehen so oder ähnlich in der eigenen Wohnung oder
       der der Eltern, Großeltern, Tanten.
       
       Und wovon hat Ocvirk gelebt? Was hat er gearbeitet? In seiner Wohnung
       liegen einige Utensilien von BMW, eine Telefonkarte, ein Kugelschreiber.
       Vielleicht war er dort tätig? Antworten: keine. Im Oktober 2012 hatte er
       9.000 Euro auf seinem Konto.
       
       Zu den Interessen von Heinz Ocvirk gibt es mehr Hinweise: Das kleine
       Bücherregal ist voll Literatur über Astrologie und Esoterik, eines heißt:
       "Die Esoterik der Astrologie". Ein anderes: "Botschaft der Engel".
       
       Auf einigen Fotos, sie müssen aus den siebziger oder frühen achtziger
       Jahren sein, lächelt eine blonde Frau. Wer ist sie? Auf einem anderen Foto
       tanzt er mit einer Brünetten, er lacht verschmitzt. Kinder sind auf keinem
       der Bilder, auch nichts, was nach Familienfesten aussieht. Dafür hat er
       einen Dia-Film auf einem Autorennen verschossen, auf einem anderen sind
       Segelboote bei einer Regatta auf einem See.
       
       Nichtsein 
       
       Aus seinen letzten Jahren gibt es keine Fotos. Wann genau Heinz Ocvirk
       einsam wurde oder ob er es immer schon war, lässt sich schwer sagen. Unter
       seinem Bett liegen ein paar Erotikkataloge und die Visitenkarte eines
       Begleitservices. Daneben: ein Zeitungsausriss über Potenzprobleme und
       mehrere Tuben mit der Aufschrift "Penis Enlargement Cream".
       
       Es klopft an der Tür. Ein Nachbar steckt kurz seinen Kopf in die Wohnung
       und erzählt, dass Ocvirk öfter Besuch bekam, der auch über Nacht blieb.
       Mehr möchte er nicht sagen. Das würde das Gästebett erklären, das mit
       Bettwäsche direkt neben Ocvirks Bett steht. Vielleicht war aber auch alles
       ganz anders.
       
       Joosten lässt sich von Andeutungen nicht beeindrucken, die Tuben landen im
       Müll. Dann setzt er sich lässig aufs Gästebett und betrachtet einige Dias,
       indem er sie gegen das Fenster hält. Oft ist er der Letzte, der sich mit
       dem Leben eines Verstorbenen beschäftigt. Im Fall von Herrn Ocvirk sind es
       jetzt Sie.
       
       15 Jun 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Lisa Goldmann
       
       ## TAGS
       
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