# taz.de -- Kroatien tritt am 1. Juli der EU bei: Die Uhr tickt wieder
       
       > In Sisak sollten einst Arbeit und Kunst zusammengehen. Dann verfiel die
       > Stadt und mit ihr die Kunst. Nun hat sie eine neue Bürgermeisterin und
       > aktive Künstler.
       
 (IMG) Bild: Im Stadtteil Caprag standen früher 2.000 Eisenskulpturen. Heute existieren noch 30 davon.
       
       SISAK taz | Wesen aus einer längst überwachsenen Zeit verstreuen sich im
       ganzen Viertel Caprag: eine blauvergilbte Eisenkugel in einem rostigen
       Rahmen vor einem Mehrfamilienhaus, eine rostende Blüte vor dem
       brachliegenden Schwimmbad, ein Eisenrohrriese gegenüber der Bushaltestelle,
       ein Eisenmännchen hinter dem Gebüsch, vor dem kleinen Supermarkt wird eines
       von ihnen als Fahrradständer benutzt. „Darko liebt Männer“, „Hrvoje war
       hier“ oder Strichmännchen sind auf ihnen eingeritzt.
       
       In jeder anderen Stadt Europas stünden diese verwitternden Skulpturen
       längst unter Denkmalschutz oder im Museum. Zumindest gäbe es Postkarten,
       auf denen die Stadt für ihr Kulturerbe wirbt. Es sind nicht Schrottteile,
       sondern die 30 übrig gebliebenen von ehemals über 2.000 Werken, die
       zwischen 1971 und 1990 von den berühmtesten Bildhauern, Schriftstellern und
       sonstigen Künstlern des sozialistischen Jugoslawiens in der Künstlerkolonie
       der „Eisenfabrik Sisak“ produziert wurden.
       
       Bislang hat sich kaum jemand für sie interessiert. Demnächst aber könnte es
       wieder ein wenig lebendiger um sie herum werden. Die Stadt Sisak ist kurz
       vor dem EU-Beitritt am 1. Juli aus ihrem 23 Jahre währenden Dämmerschlaf
       aufgewacht und hat am 1. Juni eine neue Bürgermeisterin gewählt. Und die
       sagt: „Ich will das Bild der Stadt von Grund auf ändern.“
       
       „In der Geschichtsschreibung von Sisak ist diese Künstlerkolonie eine
       Leerstelle“, erzählt Marijan Crtalic, während er wie besessen jede Skulptur
       von allen Seiten fotografiert und das, obwohl er schon Dutzende Male die
       paar Kilometer vom Stadtzentrum hier rausgefahren ist und alles schon
       Hunderte Male fotografiert hat. Während er knipst und knipst, kommentiert
       er die neuen Kritzeleien auf den Bögen, Platten und Rohren und wirkt so,
       als würde er diese Eisenwesen wie alte, kranke Freunde besuchen, um die
       sich sonst keiner kümmert.
       
       ## Zufällig entdeckt
       
       Crtalic, 1968 in Sisak geboren und aufgewachsen, ist einer der
       prominentesten Vertreter der aktivistischen Kunst in Kroatien. Er, der seit
       seinem Studium in Zagreb lebt, entdeckte Ende der 90er Jahre bei einer
       Fahrradtour zufällig den Eisenschatz und wühlte in den Archiven nach allem,
       was er über die Fabrik, das Viertel, die Künstler, die Skulpturen finden
       konnte. Die Stadt Sisak wollte davon nichts wissen, ihn weder finanziell
       noch ideell unterstützen. Also machte er es allein. Für seine Medienarbeit
       „Das unsichtbare Sisak“ erhielt er schließlich 2010 vom Zagreber Museum für
       zeitgenössische Kunst den renommierten Preis für visuelle Kunst und erhielt
       internationale Einladungen.
       
       Daraufhin reagierte die Stadt Sisak, ließ die Skulpturen als „Kulturgüter
       Kroatiens“ registrieren und rief das Projekt „Industrielles Erbe der
       Eisenfabrik“ ins Leben. Statt aber wie in anderen shrinking cities die
       Industrieanlagen in Kulturstätten umzuwandeln, liegt dieses Projekt so
       brach wie die Eisenfabrik.
       
       Dabei könnten diese Skulpturen auch als Weltkulturerbe wie die Zeche
       Zollverein Essen gelten. Denn das Besondere in Sisak war, dass hier einst
       Industrie und Kunst nicht getrennt waren. „Das, was hier in der Eisenfabrik
       stattfand, ist einmalig in der Geschichte Jugoslawiens“, erläutert Crtalic.
       „Künstler und Arbeiter planten gemeinsam, wie das Produkt, das sie auch
       gemeinsam herstellten, beschaffen sein sollte. Die Parallele zwischen
       Arbeit und Kunst, die gemeinsame Identität als Produzent sollte in diesem
       Prozess der Materialisierung deutlich werden.“
       
       Dass Caprag einst ein Arbeiterviertel war, sieht man ihm nicht an. Das
       Viertel erinnert mit seinen großzügigen grünen Räumen zwischen den
       modernistischen Ein- und Mehrfamilienhäusern eher an das Berliner
       Grunewald-Viertel oder eine Wochenendsiedlung der oberen Mittelschicht,
       auch wenn von den über 50 Sportanlagen, den Märkten, Läden, Plätzen kaum
       noch etwas übrig und auch das Kino abgebrannt ist. Heute gibt es dort nur
       noch eine Clubbar, die ausgerechnet „Caffe Bar Reket“ heißt. Sie gehört
       einem Privatmann, der die daneben liegenden Tennisplätze und das
       Schwimmbecken gekauft hat. Die Tennisplätze hat er renovieren lassen.
       
       ## Vom Metallarbeiter zum Altmetallsammler
       
       Im Schatten der großen Bäume sitzen Joka und Stanislav Lukic mit ihrem
       Enkel auf der Straße, neben sich einen Holzkarren voller leerer
       Plastikflaschen. „Davon leben wir jetzt“, erzählen sie, die beide Ende der
       1960er Jahre aus Bosnien in die Fabrik und in die Siedlung kamen. „Heute
       benutzen die Leute die Einkaufswagen nicht mehr zum Einkaufen, sondern um
       das ausgebuddelte Alteisen einzusammeln“, sagt Joka.
       
       Die Lukics sind Roma. „Ich habe immerhin noch ein Haus kaufen können
       damals“, erzählt der gegerbte Alte und auch, dass ihm der letzte Besitzer
       der Fabrik noch 18 Monate Gehalt schulde. „Die Röhren, die da vorne die
       kleine Straße säumen, habe ich produziert“, sagt Stanislav. „Das ist meine
       Skulptur, und die steht auch noch.“
       
       14.000 Arbeiter produzierten hier bis 1990 täglich 70.000 Tonnen Stahl. Die
       letzten 900 wurden vergangenes Jahr entlassen, nachdem das US-amerikanische
       Unternehmen CMC trotz 200 Millionen Dollar Investition, das Werk wegen
       Unrentabilität an ein italienisches Unternehmen verkaufte, das noch 120
       Leute beschäftigt. Vor dem in Rosa und Blau verbleichenden Werkstor steht
       der „Antipod“, ein Eisenmännchen des Bildhauers Ivan Kozaric. Dessen
       gesamtes Werk hat das Zagreber Museum für zeitgenössische Kunst gekauft.
       Den „Antipod“ nicht. Wem gehören eigentlich die ganzen Skulpturen? „Das
       weiß keiner“, sagt Crtalic: „Sie waren ja quasi im Besitz der Arbeiter.“
       
       ## Enormer Klientelismus
       
       Zu jugoslawischen Zeiten war die Region Sisak-Moslavina eine der reichsten
       des Landes. Heute ist sie mit über 30 Prozent Arbeitslosigkeit einer der
       drei ärmsten Landkreise, und Sisak mit heute 37.000 Einwohnern in den
       vergangenen zwanzig Jahren um 10 Prozent geschrumpft. Nicht mal 60
       Kilometer südlich der Hauptstadt Zagreb gelegen, ist aus dem
       Arbeiterparadies eine deprimierende, konturlose Stadt geworden.
       
       Seit der Unabhängigkeitserklärung 1991 wurde Sisak von der HDZ regiert, der
       rechtskonservativen Partei des Staatsgründers Franjo Tudjman, und in den
       letzen dreizehn Jahren von einem einzigen Mann, Dinko Pintaric. Dessen
       Politik führte dazu, dass Sisak nicht mehr nur mit dem Nationalfeiertag am
       22. Juni, dem „Tag des antifaschistischen Kampfs“, verbunden wird, an dem
       hier 1941 die erste Partisaneneinheit gegründet wurde.
       
       Sisak ist in den letzten Jahren in ganz Kroatien Synonym für Klientelismus,
       Korruption, den Filz der HDZ. „Die Ehefrau des Bürgermeisters bekam einen
       Job als Konzertveranstalterin, der Maler, der den Bürgermeister als Atlas
       porträtierte, erhielt ein Atelier. Ich aber wurde vom Bürgermeister wegen
       Verleumdung verklagt“, sagt Crtalic.
       
       Fragt man in der Innenstadt nach dem Weg zur Fabrik, bekommt man die
       Antwort: „Fahr mit dem Bus zum Konzum“. Konzum ist ein großer Supermarkt am
       Rande des Arbeiterviertels Caprag. Die Kaffeebar neben dem Parkplatz gehört
       Tale. Er säubert gerade die Ventilatoren und sieht aus wie eine Mischung
       aus David Bowie, Tilda Swinton und einer Kreuzberger Transe aus den späten
       80er Jahren: Mitte 50, 1,93 Meter, 63 Kilo, lange blondierte Haare,
       seitlich abrasiert, blau gefärbtes Nackenschwänzchen. In der Stadt kennt
       ihn jeder, da er bis vor ein paar Jahren eine Travestieshow hatte. „Damit
       war ich zu Militärzeiten nicht zu gebrauchen. Ich musste nicht in den
       Krieg.“
       
       ## Die Bürgermeisterin hat vorbeigeschaut
       
       Als Kind bosnischer Serben kam er mit seinen Eltern in den 60er Jahren in
       die Fabrik. Sie hatten Glück im Krieg, wurden nicht bedroht. Über 100
       kroatische und bosnische Serben wurden während des Unabhängigkeitskriegs in
       den 1990er Jahren in Sisak ermordet und in den Fluss geworfen. Bestraft
       wurde niemand. Tale lebt noch immer mit seinen Eltern in Caprag. „Ich war
       zwanzig Jahre lang Folkloretänzer und hab London, Berlin und Wien gesehen.
       Aber die Eisenfabrik hat mir ein glückliches Leben gegeben. Hier war es
       früher so lebendig wie heute in Kreuzberg.“
       
       Tale ist wie Marijan Crtalic eine Ausnahmeerscheinung in Sisak. Die meisten
       Künstler und Kulturschaffenden haben die Stadt verlassen. „Aber vielleicht
       wird das ja jetzt anders. Die neue Bürgermeisterin war schon in meinem
       Café, das heißt sie ist okay. Außerdem hat sie die Uhr wieder aufgestellt.
       Jetzt kommt hoffentlich wieder Leben in die Stadt.“ Die Uhr im heute nicht
       mehr erkennbaren Stadtzentrum war früher der zentrale Treffpunkt, erzählt
       Tale. Als es noch eine Fußgängerzone, einen „Korso“ gab, das wichtigste
       Element mediterranen Stadtlebens, verabredete sich jeder „an der Uhr“. Die
       Fußgängerzone hatte der alte Bürgermeister für den Autoverkehr öffnen und
       die stehen gebliebene Uhr zehn Jahre lang nicht reparieren lassen.
       
       Seit zwei Wochen geht sie wieder. Kristina Ikic Banicek hat sich darum
       gekümmert. Die 37-Jährige ist die erste Frau und die erste
       Sozialdemokratin, die die Stadtgeschäfte führt. Seit vier Wochen. „Wir
       werden eine transparente Politik machen und den Leuten das Gefühl geben, in
       einer Stadt zu leben, die sie mag und die sie mögen“, erzählt sie in ihrem
       Büro. „Das größtes Problem in Sisak ist die Apathie.“
       
       ## Alles lief über Beziehungen
       
       Die Uhr zurückdrehen kann Banicek nicht. Sisak ist nur ein drastisches
       Beispiele für die Krise, in der sich das ganze Land befindet. Aber so wie
       hier wurde bei den Lokalwahlen in vielen Städten Kroatiens Anfang Juni die
       alte korrupte Garde abgewählt. Die neue Bürgermeisterin will zumindest
       dafür sorgen, dass die Uhr nicht mehr stehen bleibt.
       
       Sie macht keine großen Versprechungen, weiß, dass Sisak nie wieder
       Industriemetropole wird und redet von kleineren und mittelständischen
       Betrieben, die unterstützt werden müssen. Zwanzig Jahre lang habe sich hier
       niemand ernsthaft darum bemüht, wirtschaftlich zu denken. Alles sei nur
       über Beziehungen gelaufen. „Für die Fußgängerzone hätte die EU schon längst
       Gelder bereit gestellt. Man hätte sie nur beantragen müssen.“
       
       Unaufgeregt, immer wieder kleine Spitzen gegen ihre Vorgänger austeilend,
       wirkt die Neue überzeugend realistisch in ihren Einschätzungen, wie die
       Stadt wieder lebendig werden könnte. „Bisher bestand die städtische
       Kulturleistung in Ritterspielen, Heiligenfesten, Feiern zu Ehren der Helden
       des Vaterländischen Kriegs. Und dazu gab es Gulasch. Jetzt wird es ein
       Festival mit Künstlern aus Sisak geben, die hier bislang nicht erwünscht
       waren.“ Und das Projekt „Industrielles Erbe der Eisenfabrik“ wird, so
       verspricht sie, mit demjenigen realisiert werden, der das Ganze überhaupt
       entdeckt hat, Marijan Crtalic.
       
       Ob in Sisak wirklich eine neue Zeit beginnt, wird sich zeigen. Immerhin,
       ein Fest, mit dem am Sonntag der EU-Beitritt um 0.00 Uhr begrüßt wird,
       wurde schnell noch organisiert. Auf den Plakaten, die dazu einladen, steht
       darüber „An der Uhr“.
       
       30 Jun 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Doris Akrap
       
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