# taz.de -- Kolumne Schlagloch: Der Wille zum Korrektiv
       
       > NSA und NSU zeigen, wie unangebracht es ist, „unserem“ Staat zu
       > vertrauen. Denn er schützt uns nicht mehr. Es gilt, auf Distanz zu gehen.
       
 (IMG) Bild: Im Schatten: All diese Beamten sind letztlich da, um die Bürger zu schützen. Aber sie schützen uns nicht – Innenminister Friedrich
       
       Nachdem ihm von den USA die Einreise verwehrt wurde, äußerte Ilja Trojanow
       in einem [1][Interview die bemerkenswerten Sätze]: „Ich möchte mit dieser
       Bundesregierung gar nichts zu tun haben. Sie ist so völlig unsensibel
       gegenüber Bürgerrechten und Freiheitsrechten. Sie vertritt mich nicht, und
       deswegen will ich sie auch zu nichts auffordern.“
       
       Das Bemerkenswerte daran ist, dass Trojanow die Bundesregierung nicht nur
       scharf kritisiert, sondern er wirft die Frage auf, ob sich unsere Regierung
       nicht vielleicht so weit davon entfernt hat, ihre Verantwortung
       wahrzunehmen, dass sie auch an Legitimation verloren hat. Zumindest laut
       diesen Sätzen ist sie gar nicht mehr seine Regierung.
       
       Ich habe in den letzten Monaten Ähnliches gedacht, aber nicht anlässlich
       des NSA-, sondern des NSU-Skandals. In den letzten zwei Jahren haben wir
       die größten Ungeheuerlichkeiten über den Umgang unseres Staates mit diesen
       rechtsextremen Mördern erlebt; im Laufe des Prozesses werden sie nochmals
       vor aller Augen aufgerollt.
       
       Wir bekommen dabei nicht nur das völlige Versagen der
       Verfassungsschutzbehörden vorgeführt, sondern auch der Kriminalpolizei, der
       Staatsanwaltschaften, der Innenministerien etlicher Länder und des Bundes.
       Der einzelne Kripobeamte hat nach Kräften Hinweise überhört und
       Zusammenhänge übersehen, so wie der Verfassungsschutzbeamte V-Leute bezahlt
       und Akten geschreddert hat. Auf jeder Ebene half jeder nach Kräften – nur
       nicht den Angehörigen der Opfer.
       
       All diese Beamten sind ja letztlich da, um uns, die Bürger, zu schützen.
       Aber sie schützen uns nicht. Dass diese Erkenntnis bei vielen im Lande
       anscheinend noch nicht mit voller Wucht angekommen ist, liegt vielleicht
       daran, dass sie sich relativ sicher fühlen: Schließlich hat die NSU nur
       „Ausländer“ umgebracht. Auch die im Dresdner Gerichtssaal erstochene Marwa
       El Sherbini war „von woanders“, und sie trug Kopftuch. Solange ich nicht
       Kopftuch trage und nicht Marwa, sondern Maria heiße, bin ich sicher – das
       scheint ein verbreiteter Umkehrschluss.
       
       Das ist erstens eine höchst egoistische Sicht auf die Sache, und zweitens
       ist sie falsch. Die Kette von NSU-Skandalen betrifft uns alle ebenso wie
       der Skandal, dass die NSA uns abhört. Denn jeder Einschnitt in die
       Freiheitsrechte muss durch ein gewaltiges Plus an Sicherheit ausgeglichen
       werden. Doch dieser Staat erlaubt nahezu alle NSA-Aktivitäten und bietet
       kaum Anti-NSU-Aktivitäten auf. Das ganze Sicherheitssystem dieses Staates
       ist völlig aus dem Gleichgewicht, der Staat hält sein Versprechen gegenüber
       uns BürgerInnen nicht.
       
       ## Auf der Liste der Verluste
       
       Man sollte sich auch erinnern, dass das Versprechen dieses Schutzes exakt
       das ist, was das staatliche Gewaltmonopol überhaupt erst begründet:
       BürgerInnen verpflichten sich, nicht selbst zur Waffe zu greifen, weil die
       Einhaltung der Gesetze von den staatlichen Justiz- und Exekutivorganen
       gewährt oder wenigstens ihre Verletzung verfolgt wird. Genau darauf können
       wir uns aber leider nicht verlassen: dass rassistisch motivierten
       Gewaltverbrechen auch nur ansatzweise unvoreingenommen, sorgfältig
       nachgegangen wird. Eher können wir uns darauf verlassen, dass die Täter als
       V-Männer durch Gelder aus einem Landeshaushalt unterstützt werden.
       
       Ein zweiter legitimatorischer Pfeiler dieser Demokratie hat übrigens
       ebenfalls an Kraft verloren: Der Sozialstaat, der einen Ausgleich für die
       Macht der Wirtschaft schaffen soll, ist der achselzuckenden Erkenntnis
       gewichen, dass sich jeder um seine Rente und die Qualität seiner
       Gesundheitsversorgung selbst kümmern muss. Zusatzversicherungen sind das
       Gebot der Stunde. Vielleicht werden bald auch Zusatzversicherungen für die
       Aufklärung von Gewaltverbrechen angeboten: „Ihr Sohn wurde erschossen, und
       die Polizei arbeitet nicht ordentlich? Wir übernehmen Ihre Detektivkosten!“
       
       Drittens: Das Wahlrecht, das im besten republikanischen Sinne gewährleisten
       soll, dass diejenigen, die von den Gesetzen regiert werden, diese auch
       mitverfassen, ist nach wie vor 6 bis 8 Prozent der hier dauerhaft
       ansässigen, aber nicht hier geborenen Menschen vorenthalten. Hier ist
       Demokratie nicht einmal im formalen Sinne voll verwirklicht (von weiteren
       Problemen wie dem Lobbyismus ganz abgesehen).
       
       ## Zwischen Anspruch und Wirklichkeit
       
       Möglicherweise werden einige Grüne nun nicken und denken: Prima, wir haben
       ja die Abschaffung des Verfassungsschutzes in unser Programm aufgenommen
       und immerhin auch das kommunale Ausländerwahlrecht. Aber es geht nicht nur
       um das, was im Programm steht; es geht auch um die Nähe oder Distanz, die
       man zu diesem Staat und seinen Institutionen annimmt.
       
       Zugegeben: Es gibt keine perfekte Demokratie; jede real existierende
       Demokratie ist nur eine Station auf der weiten Skala zwischen Anspruch und
       Wirklichkeit. Aber wenn sich die Wirklichkeit eines Staates zu weit von
       seinem Anspruch entfernt, handelt er sich Legitimationsverluste ein. Und
       die Bundesrepublik im Jahr 2013 leidet unter deutlichen
       Legitimationsdefiziten. Wie Trojanow sagt: Diese Regierung – nein,
       überhaupt viele staatliche Institutionen dürfen gar nicht mehr mit vollem
       Recht behaupten, unsere Regierungs- und Staatsorgane zu sein.
       
       Vor diesem Hintergrund sollten die Grünen aufhören, mit einer
       Regierungsbeteiligung zu liebäugeln. Es reicht nicht, sich darauf
       auszuruhen, was in den eigenen Programmen steht; sondern es geht darum, wie
       viel Vertrauen man haben darf, dass das bisherige System trotz aller Fehler
       irgendwie funktioniert. In den letzten Jahren haben sich viele Grüne und
       Alternative dem Establishment dieses Landes angenähert in der nicht
       unberechtigten Hoffnung, am Regieren teilzuhaben und auf diesem Wege etwas
       zu verändern.
       
       Meiner Meinung nach tut momentan weniger der Wunsch zum Mitmachen Not,
       sondern der Willen zum Korrektiv und eine Opposition, die diese Bezeichnung
       verdient, sind wichtig. Hinterfragen, enthüllen, herausfordern, stören: Die
       Zeit des Dazugehörens mag wiederkommen; aber erst einmal ist sie zu Ende.
       
       9 Oct 2013
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://www.zeit.de/kultur/literatur/2013-10/Trojanow-Einreise-USA-Verbot
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Hilal Sezgin
       
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