# taz.de -- Essay neue TV-Serien: Immer schön unberechenbar bleiben
       
       > Früher galten sie als Trash, nun werden sie gefeiert: neue
       > Qualitätsserien. Denn sie setzen auf Entwicklung – und das Paradox.
       
 (IMG) Bild: Sidse Babett Knudsen als Ministerpräsidentin Birgitte Nyborg mit Gatte Phillip (Mikael Birkjær) in „Borgen“.
       
       Es war ein langer Weg von den „Waltons“, den „Hesselbachs“, der
       „Schwarzwaldklinik“, von „Dallas“ und „Dynasty“ zu „Homeland“, „Kommissarin
       Lund“, „Breaking Bad“ oder „Borgen“. Aber seit rund zehn Jahren ist sie da,
       die neue Fernsehunterhaltung, und sie boomt weltweit. Auf einmal ist das
       Fernsehen wieder zu einem interessanten Medium geworden, zumindest für die
       NutzerInnen von Computern oder DVD-Playern. Was ist passiert? Wie gelingt
       es den neuen Bandwurmgeschichten, einen solchen Sog zu entwickeln?
       
       Die Blaupause für den massiven Qualitätsschub im Fernsehen lieferten die
       HBO-Produktionen „Sopranos“ (1999–2007), „Six Feet Under – Gestorben wird
       immer“ (2001–2005) und „The Wire“ (2002–2008). Diese drei US-Serien nutzten
       das Format der Fortsetzungsgeschichte auf eine bis dahin ungekannte Weise.
       
       Um die Differenz plastisch zu machen, hilft ein Vergleich mit „Dallas“ (CBS
       1978–1991). Diese die Fernsehwelt der 1980er Jahre prägende Familienserie
       setzte stur auf die Wiederholung eines Konfliktmusters: J. R. Ewing ist
       immer der böse große Bruder und Bobby immer der gute kleine. Zwar altern
       die Hauptfiguren, aber sie lernen genauso wie alle anderen überhaupt nichts
       dazu. Und auch das Setting um sie herum verändert sich nur unwesentlich.
       Das gleiche gilt für Vorgänger wie „Die Hesselbachs“ (1960–1967) oder „The
       Waltons“ (CBS 1971–1981).
       
       Ganz anders die neuen Qualitätsserien: Sie nutzen das Serienformat nicht
       für das Prinzip der kostensparenden Wiederholung, sondern setzen auf den
       Prozess, die Entwicklung und das Paradox. Ihre Figuren verändern sich, sie
       werden klüger oder dümmer, machen Fehler, revidieren diese und irren sich
       aufs neue, aber an anderer Stelle.
       
       Dass sie dazulernen und trotzdem unberechenbar bleiben, ist wesentlicher
       Teil ihrer Anziehungskraft. Denn wenn ich nicht vorhersagen kann, wie sich
       meine HeldIn demnächst verhalten wird, wenn ich mich nicht auf sie oder ihn
       verlassen kann, dann muss ich mir einfach die nächste Episode ansehen und
       vielleicht sogar bis zum Schluss durchhalten.
       
       Die Attraktivität der neuen Serien basiert also weniger auf der
       Identifikation mit den Figuren, weder im psychoanalytischen Sinn der
       imaginären Verschmelzung mit einer Figur noch im alltagssprachlichen
       Verständnis der empfundenen Nähe. Sondern es geht vor allem um ein
       Nachvollziehen der Veränderung und des differenten Wahrnehmens und Erlebens
       einer Situation durch sämtliche Beteiligte.
       
       ## Multiperspektivität der Charaktere und des Charakters
       
       Multiperspektivität ist ein klassisches Merkmal der Serie, auch der Sitcom,
       wo Freunde oder Familienmitglieder einander stets die gegenteilige
       Perspektive entgegenhalten und damit für ein Spannungsfeld sorgen. Bei den
       neuen Serien aber wird dieses Prinzip auf die Spitze getrieben. Denn die
       Multiperspektivität wird nicht mehr allein durch verschiedene Charaktere
       ins Spiel gebracht, die unterschiedlicher Ansicht sind, sondern der Streit
       um die richtige Sichtweise findet auch im Inneren der Hauptfiguren statt.
       Das macht ihre Komplexität aus. Und die benötige ich als ZuschauerIn, wenn
       ich Stunden um Stunden mit ihren Geschichten zubringen soll.
       
       In der Regel dauert bei den neuen Serien eine Episode fünfzig Minuten und
       es gibt zehn bis zwölf Episoden pro Staffel. „The Wire“ brachte es auf
       ganze fünf Staffeln, die Agenten-Thriller-Serie „Homeland“ ist bislang bei
       der dritten angelangt und noch ist kein Ende in Sicht.
       
       Gerade die Hauptfiguren aus „Homeland“ sind beispielhaft für die dieser
       Tage so beliebte, radikale Unberechenbarkeit. So will die coole,
       durchsetzungsstarke, gleichzeitig psychisch labile Topagentin Cary das Gute
       für ihr Land und verliert doch ständig den Überblick über die verschiedenen
       Problemlagen. Ähnliches gilt für ihren Widersacher und Geliebten Brody.
       „Homeland“ stürzt die ZuschauerInnen in ein Wechselbad aus Identifikation
       und Ablehnung. Niemand verdiene mehr Vertrauen, so lautet die Botschaft,
       aber auch, dass nichts zerstörerischer ist für die Menschen als der seit
       9/11 grassierende Vertrauensverlust.
       
       Mit Referenz auf den Kampf gegen den Terror bearbeitet die Serie brisante,
       da auch in der Realität nicht aufgearbeitete Gegenwartsgeschichte. Sie
       lotet Subjektivitäten in einem durch und durch fragwürdigen politischen
       System aus und verbindet damit den für Serien typischen „emotionalen
       Realismus“ (Ien Ang) mit einer radikalen Kritik an gesellschaftlichen
       Institutionen, in dem Fall an der CIA.
       
       ## Dänische Machtkämpfe und Liebesbeziehungen
       
       Ähnliches gilt auch für „Borgen“. Die dänische Erfolgsserie um die erste
       Ministerpräsidentin im Königreich macht sich die für Demokratien typischen
       Aushandlungsprozesse zum Thema. Und zwar indem sie das Privatleben ihrer
       Figuren zeigt, sie aber vor allem bei der Arbeit in Institutionen
       beobachtet, welche das wackelige Fundament der Demokratie bilden.
       
       „Borgen“ leuchtet ähnlich wie „The Wire“ und auch „Homeland“ das
       Zusammenspiel von Politik, Presse und Familie aus und zeichnet darüber eine
       Art Schaltplan für zeitgenössische Mediendemokratien. Es geht nicht mehr um
       die eine Familie, den einen Freundeskreis und deren Innenleben. Es geht um
       verschiedene Gruppen aus der Bevölkerung, um ihre Machtkämpfe und
       Liebesbeziehungen. Entsprechend groß ist das gezeigte Figurenarsenal. Im
       Laufe einer Serie bekommen es die ZuschauerInnen mit einer ganzen Heerschar
       von Charakteren zu tun.
       
       Möglich ist diese Komplexität nur aufgrund der DVD beziehungsweise der
       Streams auf bestimmten Webseiten. Die neuen Speichermedien und der
       Serienboom gehören zusammen. Die TV-Ausstrahlung und damit die Abhängigkeit
       des Publikums von den Programmgestaltern der jeweiligen Kanäle ist passé.
       Die ZuschauerInnen bestimmen nun allein, wie viele Episoden sie
       hintereinander ansehen und wann sie unterbrechen. Diese Ermächtigung des
       Individuums, das sich von keinem Cliffhanger mehr irritieren lassen muss,
       entspricht dem Zeitgeist. Der Einzelne muss sich nicht mehr nach
       Sendeterminen richten, sondern kann die Serie sehen, wann immer es ihm
       passt.
       
       ## Ermächtigung und intellektuelle Herausforderung
       
       An dieser Stelle übernimmt er die Regie – und diese Möglichkeit mag den
       Kontrollverlust auf der inhaltlichen Ebene leichter konsumierbar machen. In
       jedem Fall ist die Mischung aus Ermächtigung und intellektuelle
       Herausforderung der ZuschauerInnen Teil des neuen Sogs. Aber was ist mit
       der Ästhetik, was passiert auf der visuellen Ebene? Auch hier haben die
       neuen Serien dazugelernt, und zwar vor allem vom Kino.
       
       Die herkömmliche TV-Serie wird im Studio gedreht. Billiger ist Fernsehen
       nicht zu haben: Kein Wechsel der Drehorte und womöglich unpassendes Wetter
       bringen den Spielplan durcheinander und machen zusätzliche Drehtage nötig.
       Stattdessen sorgen eine überschaubare Anzahl von SchauspielerInnen mit
       schnellen pointenreichen Dialogen auf dem immergleichen Sofa oder am
       immergleichen Küchentisch für Unterhaltung. Und da die Handlung und die
       Konflikte im Grunde auch immer dieselben sind, lassen sich alle paar
       Minuten Werbeclips einschneiden, ohne bei den ZuschauerInnen Verwirrung zu
       stiften. Die vernachlässigte Außenwelt wird nur über „Orientierungsshots“
       eingeblendet – das Panorama von New York, die Ranch, die Lindenstraße.
       
       Alle diese Elemente finden sich auch in den neuen Qualitätsserien. Sie
       werden aber nun flankiert von cineastischen Elementen: So gibt es
       Außendrehs und auch aufwendigere Kamerafahrten. Die Fabel wird nicht mehr
       im Loop und auch nicht linear erzählt, sondern zahlreiche Vor- und
       Rückblenden sorgen dafür, dass Vergangenheit und Gegenwart
       ineinandergreifen. Jene für Billigserien wie „Friends“ typische Einheit von
       Handlung, Zeit und Ort ist also aufgehoben.
       
       Gar nicht hoch genug einzuschätzen aber ist: Im Post-TV hat das Fernsehen
       die Schauspielkunst wieder entdeckt. In fast allen neuen Serien finden sich
       außergewöhnliche DarstellerInnen, und zwar in Haupt- und Nebenrollen. Man
       denke an Sidse Babett Knudsen, die die Ministerpräsidentin in „Borgen“
       spielt. Oder an James Gandolfini als Tony Soprano. Ihnen gelingt es, die
       Widersprüche in ihrem Inneren und in der Welt in ihren Gesichtern
       aufscheinen lassen, die keinen Schönheitsstandards entsprechen. So
       verbindet sich auch auf dieser Ebene die krasse Verunsicherung des
       Einzelnen mit der Feier des Individuums.
       
       12 Oct 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ines Kappert
       
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