# taz.de -- Entsolidarisierung wird konsensfähig: Helfen bedeutet also verlieren
       
       > Aus einem sozialen Wert ist ein ökonomisierbarer Wert geworden, wie
       > Spendengelder zeigen. Die „Zärtlichkeit der Völker“ wird so beschädigt.
       
 (IMG) Bild: Für Solidarität gibt es Bilder – für Entsolidarisierung nicht.
       
       Der deutsche Innenminister Hans-Peter Friedrich findet es „unbegreiflich“,
       dass Europa-Politiker von Deutschland in der Flüchtlingspolitik mehr
       Solidarität fordern.
       
       Gemeint ist nicht die Solidarität mit den Flüchtlingen, sondern mit den
       Ländern, die EU-Außengrenzen haben und in denen viele Flüchtlinge ankommen.
       Diese Länder nämlich müssen Wege finden, mit den Flüchtlingen umzugehen. Im
       Klartext heißt das: Sie wollen Wege finden, diese schnellstmöglich wieder
       loszuwerden. Und dabei sollen ihnen die anderen Länder helfen – indem sie
       etwa mehr Flüchtlinge aufnehmen oder mehr Geld geben.
       
       Mehr Flüchtlinge, weniger Flüchtlinge.
       
       Mehr Geld, weniger Geld.
       
       Mehr Solidarität, weniger Solidarität.
       
       Egal aus welchem Blickwinkel: Das Verhalten der Politiker zeigt, dass aus
       einem sozialen Wert – der Solidarität – längst ein quantifizierbarer und
       ökonomisierbarer Wert wurde.
       
       Um keiner falschen Romantik anzuhängen: Auch Spendengelder etwa, die
       gesammelt und in einen Krisenherd geschickt werden, sind ökonomisierte
       Solidarität. Jeder gibt, was er kann. „Solidarität ist die Zärtlichkeit der
       Völker“, lautet ein viel zitierter Satz von Che Guevara.
       
       Im Falle der Einlassung von Innenminister Friedrich wird jedoch nicht
       darüber verhandelt, was man tun und geben kann, sondern es geht um das
       Gegenteil: dass man nichts tun und nichts geben will und dass das zum einen
       moralisch begründbar und zum anderen mit Zahlen belegbar ist. Deutschland,
       sagt Friedrich, nehme mehr Flüchtlinge auf als jedes andere Land. (Was er
       nicht macht: diese Zahlen in Beziehung zur Einwohnerzahl oder zur
       Wirtschaftsleistung zu stellen.) Zwänge, die durch Zahlen entstehen,
       begründen, warum nicht Solidarität, sondern das Gegenteil,
       Entsolidarisierung, richtig – und damit positiv bewertet – ist.
       
       Für Solidarität gibt es Bilder: Hände, die geschüttelt, Bruderküsse, die
       getauscht, Menschenketten, die gebildet werden. Es gibt Parolen, es gibt
       Lieder. „Vorwärts, und nie vergessen / Worin unsre Stärke besteht! / Beim
       Hungern und beim Essen / Vorwärts, nicht vergessen / Die Solidarität!“
       Brecht schrieb den Text für das Solidaritätslied.
       
       ## Vowärts, nicht vergessen
       
       Für Entsolidarisierung aber gibt es keine Lieder, keine Bilder, schon gar
       keine mit Menschen. Nur ein reißendes Seil vielleicht.
       
       Im „Kompendium der Soziologie I: Grundbegriffe“ wird erklärt, warum
       Solidarität so wohlwollend aufgenommen wird, warum sich die Menschen danach
       sehnen und ihr moralisch einen hohen Wert beimessen. Es heißt: „Gerade bei
       dem Begriff der Solidarität kann man sehen, wie emotionale Haltungen und
       Bindungen zum Wert deklariert werden und umgekehrt ein Wert emotional
       aufgeladen und fundiert wird.“ Und weiter: „Dieser Wertzusammenhang
       verweist aber auf Kultur.“
       
       Wenn das stimmt, schließt sich die Frage an, wie sich unsere Kultur
       entwickelt, wenn Entsolidarisierung nunmehr werthaltig, ja offenbar bereits
       so konsensfähig ist, dass es kein Tabu mehr ist, sie einzufordern?
       Eingefordert wird Entsolidarisierung, wenn Fischer im Mittelmeer mit
       Konfiszierung ihrer Kutter und Geldstrafen rechnen müssen, wenn sie
       schiffbrüchigen Flüchtlingen helfen – so wie dies auch geschah. Helfen
       bedeutet also: verlieren.
       
       ## Bei zu viel Hilfe ist der Job weg
       
       Ein anderes Beispiel von Entsolidarisierung, das der sonntaz zugetragen
       wurde: In einem Berliner Krisenbezirk hat die Jugendamtsleiterin die
       Mitarbeiterinnen kürzlich vor eine erpresserische Wahl gestellt. Sie sagte,
       wenn die Mitarbeiterinnen zu viel Hilfe für Erziehung bewilligten, müsste
       eine Stelle gestrichen werden.
       
       Was bedeutet das? Familien können Erziehungshilfen bekommen, wie etwa
       Einzelfallhilfe oder Familienhelfer. Die solidarische Gesellschaft hat sich
       darauf geeinigt, dass das möglich sein muss. Nun aber müssen die
       Jugendamtsmitarbeiterinnen ständig befürchten, eine Kollegin existenziell
       zu schädigen, wenn sie ihren Klienten Hilfen bewilligen.
       
       Eine gesellschaftliche Vereinbarung wird so auf eine sachfremde Weise
       ökonomisiert und individualisiert. Die Mitarbeiterinnen müssen entscheiden,
       mit wem sie sich solidarisieren, mit wem entsolidarisieren – mit den
       Klienten oder den KollegInnen. Hinzu kommt, dass sie auch die Verantwortung
       tragen, wenn sie Hilfen nicht bewilligt haben, und etwa ein Kind durch
       Vernachlässigung stirbt. So wird gesellschaftliche Verantwortung
       ökonomisiert und zum Problem von Einzelnen.
       
       ## Alles, was uns fehlt
       
       Die Jugendamtsleiterin hat dies übrigens nicht aus Willkür getan, sondern
       deshalb, weil die bezirklichen Jugendämter – aufgrund der gekürzten
       Zuwendungen des Landes Berlin, das den Bezirken die finanziellen Mittel
       zuteilt – das Geld gar nicht mehr haben. Die Entsolidarisierung wurde
       politisch von oben nach unten weitergereicht.
       
       Ähnlich fatale Entsolidarisierungsspiralen entstehen übrigens auch in
       Job-Centern, wo Sanktionen gegen Arbeitslose positiv in die Statistik
       eingehen, in Braunkohletagebaugebieten, wo die Energiekonzerne
       Dorfgemeinschaften zerstören, indem sie Entschädigungen anbieten und dabei
       hoffen, dass einige Familien darauf eingehen und so das Gemeinschaftsgefüge
       brüchig wird, im Pflegebereich, wo Arbeiten am Menschen in Minuten gepresst
       werden.
       
       (Aus dem Pflegetagebuch AOK: Windeln eines Erwachsenen: vier bis sechs
       Minuten. Ankleiden, inklusive Kleidung aussuchen, aus dem Schrank holen,
       Verschlüsse öffnen, schließen, Korsetts anlegen oder Prothesen: acht bis
       zehn Minuten. Zwischenmenschliches wie ein Gespräch ist nicht vorgesehen.
       Die Pflegekraft kann es trotzdem machen – auf eigene Kosten.)
       
       Dan Ariely, Professor an der Duke University North Carolina im Fachbereich
       Verhaltensökonomie, hat untersucht, wie sich soziale Werte verändern, wenn
       sie ökonomischen Kriterien unterworfen werden. Seine Forschungen belegen,
       dass jemand, nach einem Gefallen gefragt, diesen so gut ausführt wie
       möglich. Dass aber jemand, dem dafür ein seiner Ansicht nach viel zu
       niedriges Entgelt für die Arbeit angeboten wird, sie so schlecht ausführt,
       wie er es für die schlechte Entlohnung für angemessen hält. Bei guter
       Entlohnung entspricht seine Leistungsbereitschaft etwa der, der sie auch
       entsprochen hat, als nur von einem Gefallen die Rede war.
       
       ## Sozialer und wirtschaftlicher Austausch
       
       „Wir leben in zwei Welten“, schreibt Ariely, „die eine ist durch sozialen,
       die andere durch wirtschaftlichen Austausch gekennzeichnet. Und in diesen
       zweierlei Arten von Beziehungen verwenden wir unterschiedliche Normen.“ Die
       Anwendung ökonomischer Normen auf das Geben und Nehmen, schreibt er weiter,
       führe zu einer Verletzung der sozialen Normen und einer Beschädigung der
       menschlichen Beziehungen.
       
       Ein Gefallen für Geld ist kein Gefallen mehr, sondern eine Leistung. „Wenn
       dieser Fehler einmal begangen wurde, ist es schwierig, eine soziale
       Beziehung wieder herzustellen.“ Ist genau das mit der Solidarität passiert?
       Wird sie danach bewertet, was sie dem Gebenden an Nutzen bringt und nicht
       mehr wie sie dem Nehmenden hilft?
       
       Wo der Text von Brecht für das Solidaritätslied auf eben jene setzt, sie
       heraufbeschwört, sah Rio Reiser von Ton Steine Scherben in seinem Lied
       „Solidarität“ bereits 1971 den Mangel: „Uns fehlt nicht die Hoffnung, uns
       fehlt nicht der Mut. Uns fehlt nicht die Kraft, uns fehlt nicht die Wut. …
       Alles, was uns fehlt, ist die Solidarität. Alles, was uns fehlt, ist die
       Solidarität.“
       
       Eine Gesellschaft jedoch, in der jeder sich selbst der Nächste ist – jeder
       also sein Nächster –, ist keine Gesellschaft mehr.
       
       19 Oct 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Waltraud Schwab
       
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