# taz.de -- Ex-NBA-Profi über Sportler-Zivilcourage: „Die meisten Athleten tun nie etwas“
       
       > John Amaechi über seinen offenen Brief zu den Olympischen Winterspielen
       > in Sotschi, sein Outing und die Selbstbezogenheit der Sportler.
       
 (IMG) Bild: Vorbildlich: Tommie Smith bei Olympia 1968
       
       taz: Herr Amaechi, Sie haben einen offenen Brief an Athleten und Offizielle
       geschrieben und sie aufgefordert, sich eine Meinung zu den Spielen in
       Sotschi zu bilden. Was hat Sie dazu bewogen? 
       
       John Amaechi: Ich würde das gern nicht allein auf Sotschi und die
       speziellen Probleme mit Russland beziehen. Im Laufe meiner Karriere als
       Athlet und auch danach habe ich festgestellt, dass die Versprechen des
       Sports und sein Einfluss auf die Welt groß sind. Dafür liefert er aber
       dramatisch wenig. So gibt es kein führendes Vorbild aus dem Sport. Einige
       Athleten äußern sich zwar zu sportspezifischen Themen wie Doping oder
       Wettbetrug, aber keiner findet es wichtig, die großen Themen der Welt als
       Teil seiner Berufung zu sehen.
       
       Das ist die politische Neutralität, die von Athleten eingefordert wird. 
       
       Nein, im Fall der Olympischen Bewegung ist das eher ein heuchlerischer
       Verlust der Verantwortung des Sports und seiner Athleten, sich für eine
       bessere Welt einzusetzen. Wer die Olympische Charta liest, muss meinen,
       dass sich die Olympische Bewegung als überaus politisch versteht, dass sie
       die Athleten in ihrer Rolle als Paten der Menschenwürde, der Menschenrechte
       und des Fortschritts der Menschheit unterstützt. Leider ist das Gegenteil
       der Fall. Das geht sogar so weit, dass nationale Sportorganisationen
       Verträge mit Sportlern abschließen, die nichts anderes sind als
       Maulkorberlasse.
       
       Sie fordern in Ihrem Brief, dass Athleten politische und moralische
       Positionen vertreten. Ist das nicht zu viel, was Sie von diesen jungen
       Menschen verlangen? 
       
       Das könnte man so sehen, wenn die Sportler ihre überproportional große
       Macht nicht für ihre ureigenen Zwecke nutzen würden, um Sponsorendeals
       abzuschließen, ihr Branding zu optimieren, um Nebensachen aus ihrem eher
       unwichtigen Leben zu veröffentlichen. Wenn man genug Macht hat, sich selber
       zu verkaufen, und wenn man diese Macht nicht auch dazu benutzt, um anderen
       zu helfen, dann ist das zu verurteilen.
       
       Sie wollen, dass sich Sportler während ihrer aktiven Zeit einmischen. In
       den meisten Fällen geschieht dies erst nach der Karriere. 
       
       Falsch! In den meisten Fällen tun Athleten nie irgendetwas. Das ist die
       Wahrheit!
       
       Wundert Sie das? 
       
       Nein! Wenn man sich verkaufen will, ist es am besten, ein leeres Blatt zu
       sein. Wenn man banal und langweilig ist und sich beschränkt, dann kann jede
       Firma den Sportler so ausmalen, wie sie es gerade braucht. Wenn der
       Sportler aber bereits einen starken Charakter hat, dann ist die Anzahl der
       Marken, die sich mit dem Namen des Athleten schmücken können, drastisch
       reduziert.
       
       Sie haben sich auch erst nach Ihrer Karriere geoutet. 
       
       Stimmt! Aber gegenüber meinem gesamten Familien- und Freundeskreis war ich
       schon zuvor out und habe etlichen Lesbian-, Gay-, Bisexuell- und
       Trans-Organisationen Spenden zukommen lassen. Aber bitte glauben Sie nicht,
       dass das Einzige, worüber ich reden kann, die Belange von Lesben und
       Schwulen sind. Wer sich meine Karriere anschaut, sieht, dass ich mich im
       Allgemeinen für Menschenwürde einsetze, vor allem für Jugendliche.
       
       Kinder werden im Sport oft von klein auf dazu gedrillt, nur an den
       persönlichen Sieg zu denken. Wie sollen die zu mündigen Athleten werden? 
       
       Der Drill ist immer noch populär, obwohl er veraltet ist. Ein moderneres,
       mehr holistisches Training wäre sicher nicht verkehrt. Ironischerweise ist
       genau das der ganz alte Weg der olympischen Vorväter. Damals ging es nicht
       allein um die zehn Stunden Training am Tag, sondern auch um Erziehung des
       Geistes, um das Beherrschen alter Sprachen zum Beispiel. Seit so viel Geld
       im Spiel ist, wollen viele Athleten sich nur noch um den Sport selber
       kümmern. Das schadet sowohl dem Sport als auch der Gesellschaft. Es kann
       sich aber ändern.
       
       Wie denn? Was erwarten Sie von den heutigen Athleten? 
       
       Bei der Leichtathletik-WM in Moskau gab es Sportler, die ausgesprochen
       haben, dass die Art und Weise wie Lesben und Schwule in Russland behandelt
       werden, nicht menschenwürdig ist, andere haben sich ihre Fingernägel
       lackiert, in ihren Blogs geschrieben oder getweetet. Kein Sportler muss den
       Kreml stürmen. Im Zeitalter der sozialen Medien, muss man eine Sache nur
       ansprechen, und es hallt auf allen Kanälen wider.
       
       Sie erinnern in Ihrem Brief an die Black-Power-Fäuste der Sprinter John
       Carlos und Tommie Smith bei Olympia 1968. Ist es heute einfacher, ein
       derartiges Statement abzugeben? 
       
       Es wäre viel einfacher. Man denke nur daran, wie Tommie Smith von seinem
       eigenen Olympischen Komitee, seinen eigenen Kollegen ausgegrenzt und
       verleugnet wurde. Er durfte gar nicht mehr an Wettkämpfen teilnehmen. Im
       Grunde wurde er aus der Welt, die er kannte, verbannt. So etwas kann heute
       nicht mehr passieren. Die Konsequenzen wären riesig. Die Menschen würden
       ein gerechtfertigtes Anliegen erkennen und sich wundern, warum ein
       Olympisches Komitee jemanden dafür bestrafen möchte. Dennoch erwarte ich
       von niemanden, dass er in Sotschi mit der erhobenen Faust auf dem Podium
       steht. Heute gibt es so viele andere Möglichkeiten. Es reicht doch schon,
       überall über den eigenen Glauben an Menschenwürde für alle zu sprechen.
       
       Es gab auch schon Boykotts von Spielen, auch einzelne Teams wurden
       boykottiert wie zum Beispiel Israel. Darf die Politik den Sport derart
       dominieren? 
       
       Das Bild, das die Medien hier vorgaukeln, finde ich frustrierend. Jeder,
       der Sport macht, sei es als Amateur im Verein oder als Profi auf
       Elitelevel, weiß, dass der Sport von Politik durchdrungen ist. Politik war
       von Anfang an Teil des Sports. Die Olympischen Spiele der Antike waren
       politisch.
       
       Der Sport ist als Abbild der Gesellschaft politisch? 
       
       Nicht nur deswegen. Er ist auch politisch, weil er politisch sein möchte.
       Sport steht aktiv in Verbindung mit Politikern. In seinen Vorsätzen und
       Organisationsmethoden ist er politisch, und er ist eine politische
       Lobbygruppe in ihrem eigenen Namen. Auch die Selektierungsverfahren sind
       politisch. Sport kreiert Könige und Königinnen, Premierminister und
       Präsidenten, die dann die Organisationen führen.
       
       In Siegerinterviews wird oft das Hohelied auf die sportliche Kameradschaft
       gesungen, und am Ende sei es allein die Leistung, auf die es ankomme. Was
       hat das mit dem olympische Ideal zu tun? 
       
       Mitten in einem Basketballspiel oder während eines Judokampfs geht es nur
       um die Technik, darum, wer im richtigen Moment richtig reagiert. Ja klar,
       dieser Moment ist nicht politisch. Aber das macht Olympia nicht aus.
       
       Was dann? 
       
       Die Olympischen und Paralympischen Spiele sind 40 Tage Wettkampf, in dem
       Länder durch Medaillenzählen miteinander verglichen werden. Dabei treten
       Probleme zutage, die zum Beispiel mit überregionalen Wirtschaftsinteressen
       zu tun haben. Das ist ein politischer Prozess.
       
       Sollte man die Olympischen Spiele umstrukturieren, um sie weniger politisch
       zu machen? 
       
       Nein, man sollte einfach die eigenen Versprechen einhalten. Schauen Sie
       sich die Grundsätze des IOC doch an! Würde sich der Sport seinen
       Grundsätzen entsprechend verhalten, hätte ich nichts, worüber ich mich
       beschweren müsste. Sollten die Olympischen Spiele tatsächlich Menschenwürde
       als Leitmotiv haben, ich müsste mich nicht mit IOC-Präsident Thomas Bach
       streiten.
       
       Und die jungen Athleten sollen dafür sorgen. 
       
       Wenn sie so gut für sich selbst sorgen können, indem sie vor der Kamera
       stehen und sagen: „Bitte kauft diese Schuhe, sie sind super!“, oder über
       die Sonnenbrille zu tweeten, die sie gerade von wem auch immer umsonst
       gekriegt haben, dann steht man verdammt noch mal auch in der Verantwortung,
       über die Dinge zu reden, die in der eigenen Charta stehen, die über den
       eigenen Horizont hinausreichen.
       
       Vergangenes Jahr demonstrierten paralympische Athleten aus dem Kongo
       während der Spiele gegen die Behandlung von Menschen mit körperlichen
       Behinderungen in ihrem Heimatland. Ist es das, was Sie anstreben? 
       
       Das geht noch weiter. Athleten sollten nicht nur über Themen sprechen, die
       für sie eine persönliche Relevanz haben. Für sie sollten auch Themen wie
       die Menschenwürde, Fairness und Gleichberechtigung eine Relevanz haben. Der
       Sport hat mir die Möglichkeit gegeben, mitzuerleben, wie Menschen
       Hindernisse überwinden können. Auch deshalb bin ich so irritiert darüber,
       dass es nicht mehr Menschen gibt, die von Sportlern verlangen, Position zu
       beziehen. Die Olympische Charta fordert regelrecht, dass man gegen
       Diskriminierung und gegen Verletzungen der Menschenwürde eintritt.
       
       Wir sprechen immer nur von den Athleten. Gab es irgendwelche Reaktionen aus
       dem IOC auf Ihren Brief? 
       
       Nein, die reagieren nie.
       
       27 Oct 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Daniel Zylbersztajn
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Olympische Spiele 2024
 (DIR) Sotschi
 (DIR) Wettbetrug
 (DIR) Russland
 (DIR) Homosexualität
 (DIR) Sotschi
 (DIR) Internationales Olympisches Komitee
 (DIR) Moskau
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Entwurf aus dem Justizministerium: Strafen gegen Wettbetrug geplant
       
       Schon der Versuch zählt: Justizminister Maas will das Strafgesetzbuch
       ergänzen, um die „Integrität des Sports“ zu schützen.
       
 (DIR) Sotschi 2014: Olympia zum Selbermachen
       
       Wladimir Putin organisiert gerade die besten Winterspiele aller Zeiten. Das
       wollen Sie auch mal machen? Hier ein paar kreative Olympia-Ideen.
       
 (DIR) Britischer Turmspringer outet sich: „Mädchen find ich weiterhin toll“
       
       Sein Privatleben hielt der 19-jährige britische Turmspringer Tom Daley
       bisher geheim. Jetzt erzählt er in einem Video, dass er eine Beziehung mit
       einem Mann hat.
       
 (DIR) Olympia-Athleten im Papageien-Look: Eine apolitische Jacke
       
       Deutsche Olympia-Funktionäre sorgen mit einem modischen Paukenschlag für
       Begeisterung: Geistreicher Homo-Protest oder einfach nur stulle?
       
 (DIR) Kommentar IOC-Präsident Bach: Der Verhinderer
       
       Sport hat nichts mit Politik zu tun, meint der neue IOC-Chef. Thomas Bach
       ist ein Verwalter, der viel Geld organisieren kann – und wenig hinterfragt.
       
 (DIR) Medaillengewinner gegen Homogesetze: Einer bricht das Schweigen
       
       Nick Symmonds widmet seine WM-Silbermedaille seinen homosexuellen Freunden.
       Eine klare Haltung zu Russlands Homogesetzen hat der Sport aber nicht.