# taz.de -- Begegnung mit Autoren aus Finnland: Verliebt in den Feind
       
       > 2014 wird Finnland Gastland auf der Frankfurter Buchmesse sein. Zu einem
       > Vorgeschmack darauf verhalf eine Einladung zur Buchmesse in Helsinki.
       
 (IMG) Bild: Bildausschnitt aus der Burka-Serie der finnischen Künstlerin und Autorin Rosa Liksom.
       
       „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“, diesen Satz
       des Sprachphilosophen Ludwig Wittgenstein parodiert der finnische Autor und
       Musiker M. A. Numminen in einem seiner legendären Auftritte. In Finnland
       ist der Komponist, Entertainer und Interpret des finnischen Tangos eine
       Berühmtheit. Doch wie er im Gespräch in Helsinki am Rande der Buchmesse
       durchscheinen lässt, ist ihm seine historisch zugewachsene Rolle nicht
       immer angenehm.
       
       1940 geboren, sein Alter merkt man ihm nicht an, wurde er in den 1960er und
       70er Jahren zum Enfant terrible der finnischen Kulturszene. Er mischte
       Hoch- und Populärkulturen, stand ein bisschen links und verulkte in
       finnischer Helge-Schneider-Weise die damals durchgängig prüden Sexual- und
       Moralvorstellungen des Landes. Numminen schlüpfte ins Hasenkostüm, um im
       Fernsehen Kinderlieder zu singen, begleitet von Akkordeonspieler Pedro
       Hietanen, der als Katze verkleidet auftrat.
       
       Numminen ist experimenteller Musiker, aber auch einer der größten Kenner
       und Interpreten des finnischen Tangos. Im Münchner Trikont Verlag hat er
       mehrere Alben herausgebracht. Volume 1, „Tule Tanssimaan“, ist eine
       Sammlung finnischer Tangostücke in historischen Originalaufnahmen – sehr
       extravagant und melodramatisch.
       
       Volume 2 beinhaltet seine mit eigenem Orchester und Sängerin Sanna
       Pietiäinen toll eingespielten Tangointerpretationen. Hinzu kommt ein sehr
       spezielles Album mit Heinrich-Heine-Liedinterpretationen.
       
       ## Tango hören, lesen, tanzen
       
       Mehrere seiner Bücher sind ins Deutsche übersetzt („Der Kneipenmann“,
       „Tango ist meine Leidenschaft“). An einem weiteren Werk sitzt er gerade. Es
       soll kommenden Herbst zum Finnlandauftritt auf der Frankfurter Buchmesse
       erscheinen. Wenn er rechtzeitig fertig wird, wie er lächelnd mit einem Glas
       Gin Tonic in der Hand sagt.
       
       Der unbestrittene Star der gegenwärtigen finnischen Literaturszene ist Sofi
       Oksanen. Die 1977 geborene Tochter eines finnischen Elektrikers und einer
       estnischen Ingenieurin bringt wohl alles mit, wonach die finnische
       Gesellschaft derzeit dürstet. Ein bisschen Internationalität und eine
       aufsässige Undergroundfigur, die mit ihrer femininen Außenseiterbiografie
       an einen pluralisierten gesellschaftlichen Mainstream andocken kann.
       
       ## Extrovertiert und erfolgreich: Sofi Oksanen
       
       Ihr visuelles Markenzeichen ist ein Dreadlock-Haaraufsatz, schwarz, blau,
       lila. Oksanen steht für mediale Cleverness und eine unberechenbare
       intellektuelle Extrovertiertheit. Aber vor allem verbindet sie in ihrer
       Literatur historische Themen (NS-Okkupation, Sowjetdiktatur) mit weiblichen
       Fragestellungen und denen der Migration. Mit ihren Romanen „Stalins Kühe“
       und „Fegefeuer“ hauchte sie der finnischen Gegenwartsliteratur dadurch
       neues Selbstbewusstsein ein, mit „Fegefeuer“ lancierte die estnische Finnin
       einen internationalen Erfolg.
       
       Im Finnischen Nationaltheater in Helsinki stehen derzeit die Proben zu Sofi
       Oksanens neuem Theaterstück „When The Doves Disappeared“ („Als die Tauben
       verschwanden“) auf dem Programm. Ein Team um die Regisseurin Raili
       Leppäkoski wird die Inszenierung am 27. 11. hier im ersten Theaterhaus
       Finnlands zur Uraufführung bringen. Die Finnen sind nicht nur Bibliotheks-,
       sondern auch Theaternarren. Das kleine Land mit seinen fünfeinhalb
       Millionen Einwohnern (bei einer Fläche fast von der Größe Deutschlands)
       leistet sich 47 Schauspielhäuser, 10 Tanzkompanien und eine Oper.
       
       Raili Leppäkoski hat auch Oksanens vorherige Theaterstücke inszeniert,
       beide Frauen stammen aus der mittelfinnischen Stadt Jyväskylä. Das
       Finnische Nationaltheater ist ein repräsentatives Jugendstilgebäude aus dem
       Jahre 1902 im Zentrum Helsinkis. Die große Bühne bietet Platz für 885
       Besucher.
       
       ## Besetzung Estland durch die Nazis
       
       Regisseurin Leppäkoski scheint sehr gründlich zu arbeiten. Bereits einen
       Monat vor der Premiere lässt sich ein flüssig vorgetragener einstündiger
       Akt der Oksanen-Inszenierung verfolgen. Oksanen habe, so Leppäkoski, ihr
       alle Freiheiten für die Inszenierung gelassen. Die Textfassung hatten beide
       gemeinsam erarbeitet. Oksanens „When The Doves Disappeared“ handelt von der
       Besetzung Estlands durch die deutschen Nazi-Truppen (1941–44) und
       reflektiert in der Folge die russisch-sowjetische Okkupation des baltischen
       Staates, die bis zum Ende des Sowjetimperiums 1991 fortdauerte.
       
       Finnland und Estland sind durch den schmalen finnischen Meerbusen getrennt,
       teilen in vielem die Geschichte. Hin- und hergerissen zwischen
       opportunistischen Bestrebungen und nationalen Interessen schlug man sich
       einmal auf die Seite der Deutschen/Nazis, dann wieder auf die von
       Russen/Roter Armee. Oksanen schreibt über das Schicksal einheimischer
       Frauen, die sich in deutsche Besatzer verlieben, und einheimische Männer,
       die sich abwechselnd für nationalen Widerstand, Bolschewisten oder deutsche
       Nazis engagieren.
       
       Leppäkoskis Inszenierung ist textlastig, die Kulisse auf der Drehbühne
       sparsam. Dramaturgisch wird das Geschehen durch die Klangspur eines
       Ensemble von Livemusikern gestützt, der zeitgeschichtliche Kontext wird
       durch einen Bilderloop verdeutlicht. Der Wankelmut des Individuums, die
       Rolle der Frau, die Totalitarismen, das sind auch bei diesem Oksanen-Stück
       die großen Themen. Als Roman wird „When The Doves Disappeared“ nächstes
       Jahr auf Deutsch bei Kiepenheuer & Witsch erscheinen.
       
       Auch Katja Kettus „The midwife“ („Die Hebamme“) handelt von der Zeit des
       Zweiten Weltkriegs. Kettu, 1978 geboren, ist lappländischer Abstammung und
       wie Oksanen eine von den neuen jungen wilden Autorinnen. Auch „The midwife“
       erzählt von illegitimen Beziehungen, als die finnischen Männer an der Front
       und die Frauen zu Hause alleine mit den deutschen Besatzern waren. Der Weg
       zur literarischen Beschäftigung mit dieser Geschichte scheint erst jetzt
       frei geworden zu sein.
       
       ## Die Geschichte imaginieren
       
       Auch die Künstlerin Rosa Liksom spricht in ihrem Atelier in Helsinki davon,
       wie es in Lappland gewesen sein muss, als in einer Kleinstadt mit 5.000
       Einwohnern über Jahre hinweg 20.000 junge deutsche Soldaten stationiert
       waren.
       
       Liksom stammt aus einem lappländisch-schwedisch-finnischen Dorf mit acht
       Häusern. Ihr Atelier gleicht einem Flohmarkt. Spielzeug, Bücher, Samoware,
       Möbel – dazwischen eine Staffelei. Die 1958 geborene Frau ist Autorin und
       bildende Künstlerin. Die deutsche Ausgabe ihres Buches „Abteil Nr. 6“ (DVA,
       2013) liegt auf einem Tischchen. Unlängst hat sie eine Fotoserie mit
       Burkaträgerinnen inszeniert.
       
       So einige Finnen lieben es skurril, aber auch Deutsche, wie der
       Schriftsteller David Wagner. „In diese Arme paßt viel Licht“, so ist seine
       2012 herausgegebene Anthologie neuer finnischer Lyrik getitelt. Für einen
       Euro ist sie im Verlag Sukultur erhältlich. Darin auch solche von
       Wittgenstein/Numminen nicht zu übertreffende Zeilen wie die der Lyrikerin
       Katarina Vuorinen: „Nach wem greife ich, so mit der Hüfte, nur die
       Unbekannten tönen.“ Wie hieß das noch mal: Was sich überhaupt
       interpretieren lässt, lässt sich klar interpretieren; und wovon man nicht
       reden kann, darüber muss man schweigen?
       
       29 Oct 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Andreas Fanizadeh
       
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