# taz.de -- 10 Jahre gegen Hartz IV: Dann bis nächsten Montag
       
       > Erst waren sie Hunderte, dann Tausende. Jetzt sind noch zwanzig übrig:
       > Seit zehn Jahren wird auf dem Alexanderplatz gegen Hartz IV demonstriert.
       
 (IMG) Bild: Da waren's einige mehr: "Herbstdemo" der Montagsdemonstranten gegen Hartz IV Mitte Oktober in Berlin.
       
       Hans-Heinrich und Klaus sind nicht da, ausgerechnet. Die elf unter der
       Weltzeituhr schauen sich fragend an. „Beide krank“, sagt einer. „Letzte
       Woche hatte ich mit Klaus noch ’n Bier getrunken.“ Hans-Heinrich und Klaus
       sollten die Transparente mitbringen und den Lautsprecher, wie immer. Was
       nun? Schulterzucken. Dann eben so.
       
       Mitten auf den Alexanderplatz haben sie sich gestellt am letzten
       Montagabend, an die Weltzeituhr, genau unter die „18“. Die Startuhrzeit
       ihrer Kundgebung, wie immer montags, wie immer gegen Hartz IV. An diesem
       Montag wieder: Dann werden es zehn Jahre Protest sein.
       
       Der Wind fegt über den Alex, zerrt an den Jacken des knappen Dutzends. Es
       ist schon dunkel, die Passanten eilen vorbei. Ein paar Touristen stellen
       sich neben die Uhr, posieren für Fotos. Dass hier gerade gegen Sozialabbau
       demonstriert wird, bemerkt niemand. Wie auch, ohne Transparente.
       
       Die elf Montagsdemonstranten beschränken sich also aufs Plaudern. Es wird
       von jüngsten Urteilen zu Hartz IV berichtet, über den „real existierenden
       Kapitalismus“ gelästert. Man kennt sich, schon lange. Viele, die nach all
       den Jahren noch hier stehen, sind von Anfang an dabei.
       
       ## „Es geht volle Kanne bergab“
       
       Ingeborg Müller aus Hellersdorf etwa, früh verrentet, seit der Wende schon.
       „Wegen einer Nervengeschichte.“ Über „Umwelt“ wollte sie heute eigentlich
       einen Redebeitrag halten. Nicht nur da, überall gehe es „volle Kanne
       bergab“, sagt die einstige Bauzeichnern, an der roten Windjacke ein
       Anti-Atom-Button. Oder Hartmuth Gerecke, der Gewerkschafter, 63 Jahre,
       schnittige Brille, gestutzter Bart, früher Schichtarbeiter in Neukölln,
       seit zwei Monaten arbeitslos. Über einen papierlosen Flüchtling wollte er
       heute berichten, dem die Abschiebung droht. Nun tauscht man sich eben so
       aus.
       
       Noch bevor die Hartz-IV-Gesetze in Kraft traten, hatten sie sich gegründet,
       am 3. November 2003: das „Berliner Bündnis gegen die Agenda 2010“. Anfangs
       vorrangig Gewerkschafter, zur ersten Demo kamen 300 Leute. Ein Jahr später
       zogen sie mit 10.000 vom Alexanderplatz. Es war die Hochphase des
       Hartz-IV-Widerstands, bundesweit wurde demonstriert. Lange her.
       
       Die elf auf dem Alexanderplatz demonstrieren noch immer. „Es ändert sich
       doch nischt“, sagt Ingeborg Müller. Deshalb müsse man weitermachen. Auch
       von den jetzigen Koalitionsverhandlungen erwarten sie hier nichts, nicht
       mit Schwarz-Rot. Mindestlohn von 8,50 Euro? „Ein Armutslohn.“ Die elf
       fordern weiter die Abschaffung der Hartz-IV-Gesetze, „ersatzlos“. „Wir
       bleiben auf der Lauer“, sagt Müller. „Wir sind das Flämmchen, bis es wieder
       explodiert.“
       
       Vor zwei Wochen war die Flamme noch einmal groß. Zur „10. Herbstdemo gegen
       die Regierung“ kamen über 1.000 Protestierer nach Berlin. „Aus 80 Städten“,
       wie sie unter der Weltzeituhr schwärmen. Drei Bundesregierungen habe man
       überlebt, verkündeten die Redner auf der Großdemo. „Und jetzt auch die
       FDP.“ Das gab Applaus.
       
       Doch die Erfolgsmomente sind rar geworden. Selten kommen mehr zwanzig auf
       den Alexanderplatz. Und vor zweieinhalb Jahren hat sich der Protest auch
       noch gespalten. Die Abtrünnigen stehen jetzt um die Ecke, unterm
       Fernsehturm: auch jeden Montag, auch um 18 Uhr. Von der MLPD unterwandert
       seien die an der Weltzeituhr, heißt es dort. Sie selbst nennen sich die
       „Unabhängige Montagsdemo“. Die Weltzeituhrler schimpfen die anderen
       „Spalter“. Natürlich sei die MLPD dabei. Wie andere auch. „Bei uns dürfen
       alle ans offene Mikro“, sagt Gerecke, „außer Faschisten.“
       
       Einer der Abtrünnigen ist Hans Haase, ein Mann mit rotem Basecape voller
       Buttons. An diesem Abend steht er mit acht Protestierern unterm
       Fernsehturm. Er erzählt, wie die Polizei der Montagsdemo in Stuttgart den
       Generator verbot, berichtet von einer neuen Protest-CD, dann ist er
       plötzlich bei der NSA. Haase redet ohne Pause, fordert die
       25-Stunden-Woche, schimpft Parteien als „Auslaufmodell“, sagt, „direkte
       Demokratie ist die Zukunft“. Die Mitdemonstranten unterbrechen ihn nicht.
       
       Hans Haase ist heute Vollzeit-Montagsdemonstrant. Mit seinem Auto bereist
       der 63-Jährige den bundesweit verbliebenen Widerstand. Früher war Haase mal
       Vertriebsingenieur, war Betriebsrat. 2005 wurde er arbeitslos, dazu kam die
       Scheidung. „Ich war völlig verzweifelt.“ Über den Protest, sagt Haase, habe
       er wieder Kraft gefunden.
       
       Es ist auch das, was den Widerstand noch zusammenhält: Man hilft sich.
       Unter der Weltzeituhr berichtet ein Zeitarbeiter aus Gropiusstadt, wo es
       kostenlose Rechtsberatung gibt. Gewerkschafter Gerecke erzählt, wie man
       sich aufs Amt begleitet. Wenn einer Geburtstag hat, singe man ein
       Ständchen. Einer der Hauptinhalte der Montagsdemo sind inzwischen
       Grußbotschaften: an die Opelaner in Bochum, an die Arbeiter in Athen. Das
       häufigste Wort, das auf dem Alex fällt, ist „Solidarität“.
       
       ## Die Politik interessiert der Protest nicht mehr
       
       Das Problem ist nur: Die Politik interessiert der Protest nicht mehr. Das
       komme wieder, sagt Hans Haase. Er verweist auf Niedriglöhne, Zeitarbeit,
       Hartz-IV-Sanktionen. „Ich verspreche euch“, sagt Haase ins Demo-Rund, „wir
       werden wieder mehr.“
       
       Gleiches sagen sie sich auch unter der Weltzeituhr. Und, betont Gerecke,
       man habe doch etwas erreicht. „Wir sind das soziale Gewissen, weshalb Hartz
       IV weiter so verhasst ist.“
       
       Nach einer Stunde verabschieden sich die Montagsdemonstranten. Einige
       laufen am Fernsehturm vorbei. Den Protestgeschwistern schenken sie keinen
       Gruß. Hans Haase redet dort noch immer, seine Mitdemonstranten werden
       ungeduldig. „Schon achte?“, bemerkt Haase irgendwann. „Ist ja irre!“ Dann
       mache man jetzt mal Schluss. „Sehen uns ja nächste Woche wieder.“
       
       4 Nov 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Konrad Litschko
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Armut
 (DIR) Schwerpunkt Stuttgart 21
 (DIR) Schwerpunkt Stuttgart 21
 (DIR) 
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Diskussion um Mindestlohn: Sie wär' gern wieder Unterschicht
       
       Union und SPD debattieren über die Höhe des Mindestlohns. Es hängt
       allerdings nicht vom Geld allein ab, wie arm sich jemand fühlt. Sondern?
       
 (DIR) Forum gegen unnütze Großprojekte: Europaweite Fusion des Protests
       
       Bürgerbewegungen gegen Großprojekte in verschiedenen Ländern haben viele
       Gemeinsamkeiten. Diese will ein Forum nutzen und die Proteste vernetzen.
       
 (DIR) Portraits von S21-Protestlern: Resignieren? Niemals!
       
       Sie diskutieren, demonstrieren und machen Politik. Drei Stuttgart-21-Gegner
       widmen ihre Freizeit seit drei Jahren dem Protest gegen den Tiefbahnhof.
       
 (DIR) Montagsdemo in Berlin: Immer wieder montags
       
       Vor knapp zwei Jahren gingen die Friedrichshagener das erste Mal gegen
       Fluglärm auf die Straße. Heute treffen sie sich wieder: zu ihrer 100.
       Montagsdemo.