# taz.de -- Hamburger Schauspielhaus: Neustart auf Nebenbühnen
       
       > Wegen eines Baustellen-Unfalls musste das Hamburger Schauspielhaus auf
       > seine Eröffnungspremiere im Großen Haus verzichten. Trotzdem begann nun
       > die Saison.
       
 (IMG) Bild: Saisonstart auf der Nebenbühne: das Flüchtlings-Stück "Nach Europa"
       
       HAMBURG taz | Der 15. November 2013 hätte für das [1][Hamburger
       Schauspielhaus] ein herausragender Tag werden sollen. Erstens, weil das
       Große Haus, das mit seinen rund 1.200 Plätzen das größte Sprechtheater der
       Republik ist, nach einer 17-monatigen Renovierung wieder eröffnet werden
       sollte. Zweitens, weil die Wiedereröffnung zugleich den Beginn der
       Intendanz von Karin Beier markiert hätte und zwar in Gestalt eines von
       Beier selbst inszenierten siebenstündigen Stückes namens „Die Rasenden“.
       Beides, die Renovierung und die neue Intendantin, sollte für die
       Theaterstadt Hamburg eine Wende bedeuten: Endlich sollte es wieder aufwärts
       gehen mit diesem Haus, das ähnlich wie der Hamburger SV in der
       Fußball-Bundesliga seit Jahren hinter den Erwartungen zurück bleibt.
       
       Aber es kam anders. Am 22. Oktober löste sich bei den Bauarbeiten im Großen
       Haus ein Gegengewicht, das eine Brandschutzwand gehalten hatte. Das
       Gegengewicht durchschlug den Bühnenboden und zerstörte damit zugleich den
       Terminplan. Die Wiedereröffnung des Großen Hauses mit den „Rasenden“ musste
       auf den 18. Januar verschoben werden. Die beiden Premieren, die neben den
       „Rasenden“ für das Eröffnungswochenende geplant waren, sollten trotzdem
       stattfinden: Sie waren von vornherein für andere Spielstätten geplant. So
       kam es, dass die Ära Karin Beier nun mit zwei Sidekicks begann: Einer
       Performance in einer ausrangierten Schule in Hamburg-Wandsbek und einer
       Zwei-Personen-Romanadaption im Malersaal – letzterer ist eine
       Nebenspielstätte im Schauspielhaus-Gebäude mit 145 Plätzen.
       
       Insbesondere der Romanadaption kam damit eine Bedeutung zu, die so nie
       geplant war. Presse, Fernsehen, Schauspieler aus dem Ensemble und aus dem
       Thalia-Theater, Ex-Intendant Frank Baumbauer und Intendantin Karin Beier,
       alle standen am Sonntagabend im Raucher-Vorraum des Malersaals und hielten
       ein Begrüßungsgetränk in der Hand, von dem sie nicht recht wussten, ob es
       feierlich gemeint war oder nicht. Im Malersaal fanden dann nicht alle einen
       Sitzplatz, manche setzten sich auf die Stufen. Eine kleine Begrüßung durch
       Karin Beier wäre passend gewesen, aber die gab es nicht. Stattdessen gab es
       ein Zwei-Personen-Stück mit den beiden Schauspielern Bettina Stucky und
       Matthias Bundschuh, die vermutlich noch nie vor einer so großen Ansammlung
       von Fachleuten gespielt haben.
       
       Das Stück heißt „Nach Europa“ und ist eine Adaption des Romans der
       Französin Marie N’Diaye. Es erzählt von der Afrikanerin Khady Demba, die
       versucht, nach Europa zu kommen, weil ihre Schwiegerfamilie sie nach dem
       Tod ihres Mannes und einem unerfüllten (Enkel-)Kinderwunsch nicht mehr
       sehen will. Khadys Schicksal wird erzählt anhand ihrer Begegnung mit drei
       Männern: einem EU-Repräsentanten, der sie verhört, einem Schleuser, der ihr
       nicht helfen kann und einem Mitflüchtling, der ihr das Geld klaut, das sie
       sich als Prostituierte für die Flucht verdient hat. Die Dialoge finden
       statt vor einer Wand aus Plexiglas, die sinnbildlich steht für den Zaun,
       den die EU um ihre Außengrenzen gezogen hat.
       
       Das Stück in der Regie von Friederike Heller ist ein kritischer Beitrag zur
       Debatte über den Umgang der EU mit Flüchtlingen. Immer wieder fallen die
       Schauspieler aus ihrer Rolle und sprechen das Publikum direkt an. Dazu gibt
       es Filmeinspielungen, die Politiker beim Unterzeichnen von Verträgen und
       Flüchtlinge beim Klettern über einen Grenzzaun zeigen. Das Stück verfehlt
       seine Wirkung nicht, ist aber in seiner künstlerischen Form uninteressant.
       Gedacht war es als Ergänzung zur Eröffnungspremiere „Die Rasenden“.
       Darüber, was die Intendanz von Beier mit sich bringen könnte, sagt es
       nichts aus.
       
       Unabhängig von anderen Stücken ist dagegen die Performance „Schwarze Augen,
       Maria“, die am Samstag in der leer stehenden Elise-Averdieck-Schule in
       Hamburg-Wandsbek Premiere hatte. Das Stück stammt von der [2][Theatergruppe
       Signa], die aus Kopenhagen stammt und das Stück im Auftrag des
       Schauspielhauses entwickelt hat. Was die 32 Schauspieler aus Österreich,
       Dänemark und Deutschland auf die Beine gestellt haben, ist sehr weit vorne.
       Wer diese Performance besucht, konsumiert keine Theaterstück, sondern macht
       eine Erfahrung.
       
       ## Tag der offenen Tür
       
       Die Performer haben das alte Schulgebäude umgebaut zu einem fiktiven Wohn
       und Pflegeheim namens „Haus Lebensbaum“. Die Zuschauer besuchen diese
       soziale Einrichtung an einem Tag der offenen Tür. Sie landen in einem
       heruntergekommenen Saal, in dem sie von Familien mit geistig behinderten
       Kinder erwartet werden. Die Krankheit der Kinder sei das
       „Teiresias“-Syndrom, teilt der Arzt mit. Das „Teiresias“-Syndrom ist wie
       alles andere in diesem Haus Fiktion. Das Verhalten der Kinder aber kennt
       man aus der wirklichen Welt. Es ist autistisch.
       
       Mit diesen Familien sollen die Zuschauer die nächsten vier Stunden
       verbringen und sich dazu frei durch das Haus bewegen, in dem sich auch die
       Wohnungen der Familien befinden. Nach der Besuchszeit ist dann noch ein
       gemeinsames Fest geplant. Für die Zuschauer ist der erste Impuls bei diesem
       Programm ein Fluchtreflex: Die Aussicht, diese beängstigenden Gestalten in
       einer maximal trostlosen Umgebung kennenlernen zu sollen, ist alles andere
       als erfreulich.
       
       ## Billiges Bier
       
       Der Fluchtreflex wird verstärkt durch die Einrichtung der Wohnungen: Sofas,
       wie es sie in den 1980er-Jahren in Billig-Möbelhäusern gegeben hat,
       Spiegelschränke, auf die das Gleiche zutrifft. Überzuckerte Bilder, sehr
       viele Puppen, sehr viel Rosa. Überall dreckige Klamotten. Uralte Technik.
       Ständig wird gegessen und gekocht, ständig soll man mitessen. Das Bier und
       der Kartoffelsalat in der billigsten Discounter-Variante. Zur Krankheit
       kommt hier das Elend hinzu.
       
       Wer sich auf diese Parallelwelt einlässt, wer sich für die Leute
       interessiert und mit ihnen spricht, wer an der „Elternschule“ oder dem
       „Kummertee“ teilnimmt, der erlebt zweierlei: Erstens gibt es die
       abgefahrene Geschichte des „Teiresias“-Syndroms zu ergründen – alle Fragen
       werden immer beantwortet. Zweitens kippt die Gefühlslage vom anfänglichen
       Unbehagen in die Freude, die es macht, handlungsentlastet Beziehungen zu
       knüpfen. Die Bewohner im Haus Lebensbaum sind bereit, viel zu geben. Sie
       haben keine Erwartungen an ihre Besucher. Nur die, dass grundsätzlich
       respektvoll miteinander umgegangen wird.
       
       Die Performance „Schwarze Augen, Maria“ ist eine soziale Utopie, zu der
       sich die Zuschauer verhalten müssen. Dass das so überzeugend klappt, liegt
       einerseits an den hervorragenden Performern. Es liegt aber auch am
       Bühnenbild, von dem man erst im Lauf der Zeit merkt, mit welcher
       Stilsicherheit und Akribie es komponiert wurde. Wenn es mit solchen
       Beiträgen weitergeht am Schauspielhaus, dann sind etwaige
       Startschwierigkeiten sehr schnell vergessen.
       
       ## nächste Aufführungen: „Nach Europa“ am 22. und 23. 11.; „Schwarze Augen,
       Maria“, 19. bis 24.11., täglich
       
       18 Nov 2013
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://www.schauspielhaus.de/
 (DIR) [2] http://signa.dk/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Klaus Irler
       
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