# taz.de -- Über die Ohnmacht der Linken: Spaßbefreite Vaterfigur
       
       > Links sein bedeutete mal, an eine Zukunft zu glauben. Heute ist die linke
       > Intelligenz nur noch ein affirmatives Hintergrundrauschen. Ein Essay.
       
 (IMG) Bild: Wer Deutschlandfähnchen liebt, will nicht gleich die Ostgebiete zurückerobern
       
       Über eineinhalb Jahrhunderte hinweg bezeichnete „links“ eine Art nicht
       therapierbare Hoffnung, einen durch und durch dogmatischen Glutkern,
       resistent gegen alle Enttäuschungen.
       
       Würde man jedoch heute einen Gymnasiasten aus beispielsweise Oberhausen
       fragen, was „links“ ist, so würde er zweifellos sofort an seinen Deutsch-
       oder Geschichtslehrer denken: an einen noch jugendlich wirkenden Mann in
       seinen frühen Vierzigern, der am Wochenende in einer Punkband Musik oder in
       einer Alternativliga Fußball spielt, aber nichtsdestotrotz bereits den
       resignierten Ausdruck eines Rentners im Gesicht trägt. Denn der heutige
       Linke ist ein Mensch, der all das, woran die große Mehrheit Spaß hat, blöd
       findet und dafür seine guten Gründe hat.
       
       Links: Das ist heute ein Typ, für den die Dinge irgendwie gelaufen sind und
       der sich deshalb wünscht, dass sie wenigstens nicht noch schlimmer werden.
       Ist es beispielsweise das erklärte Ziel seiner Schüler, in möglichst kurzer
       Zeit möglichst viel Geld zu verdienen, möglichst oft und je nach Charakter
       möglichst brutalen oder möglichst romantischen Sex zu haben und in
       möglichst exotischen Ländern möglichst viele Partys zu feiern, so führt
       ihnen der linke Geschichtslehrer vor Augen, dass dies alles ziemlich unreif
       und vor allem wenig nachhaltig sei. Denn Exzess, so doziert unser linker
       Lehrer seinen Schülern, ist böse. Exzessiv sind Manager, Erdölfirmen und
       amerikanische Geheimdienste, dieses teuflische Ratpack des linken
       Lehrerzimmers.
       
       Und in einer seltsamen Beweisführung der Art „Sportwagen = Penisersatz“
       oder „Facebook = Totalüberwachung“, in der die Insignien des lockeren
       Abhängens kurioserweise als Symbole von gesellschaftlicher Impotenz oder
       gar Gewalt wieder auftauchen, versucht unser Lehrer (dessen Schüler derweil
       auf ihren iPhones islamistische Terroristen erschießen oder amerikanische
       Proletarier beim Gangbang bewundern), in eine wahlweise mit deutschem
       Diskurspop oder amerikanischem Postfolk untermalte protestantische
       Hermeneutik des Verzichts und der Sublimierung einzuführen.
       
       Irgendwie schafft es unser linker Geschichtslehrer immer, seinen Schülern
       das Gefühl zu geben, dass sie falschliegen. Das Problem dabei ist nicht,
       dass er nicht recht hätte: Wie sollten die Wunschprojektionen eines Systems
       globaler, völlig irrationaler und zweifellos dem ökologischen Untergang
       geweihter Ausbeutung etwas anderes sein als die Vorboten der Apokalypse?
       Wie könnten die Kinder dieses Systems andere Träume haben als solche, in
       denen sie als desinteressierte Folterer oder masochistische Sexobjekte
       auftreten?
       
       Nein, das Problem unseres linken Oberlehrers ist nicht, dass seine Analyse
       der gegenwärtigen Situation nicht zutreffend wäre. Sein Problem ist, dass
       er keinen besseren Vorschlag, keinen stärkeren, keinen intensiveren
       Glauben, keine Alternative anzubieten hat.
       
       ## Die Verbohrtheiten der Frankfurter Schule
       
       Die wahre Tragik der postmodernen linken Intelligenz ist genau dies: Sie
       ist zum pseudo-engagierten Hintergrundrauschen in einer Welt geworden, die
       sich die aufklärerische Logik des Kampfs um Anerkennung nur noch als
       symbolische Romanze (die Bildungsbürger-Variante) oder als natürliche
       Einstellung (das Volkswagen-Modell) vorstellen kann.
       
       Die Schüler, die ein Deutschlandfähnchen an Papas BMW hängen, haben
       keineswegs die Absicht, die Ostgebiete zurückzufordern, in
       Elsass-Lothringen einzufallen oder ihre Heimat aus der Knechtschaft des
       Euro zu lösen. Sie empfinden nicht einmal besonders viel Sympathie für
       Deutschland als politisches Gebilde (das sie sowieso bei der ersten sich
       bietenden Gelegenheit verlassen werden).
       
       Diese Schüler sind zufällig Deutsche, so wie sie blonde oder schwarze Haare
       haben. Es fühlt sich eben gut an, bei einem Fußballspiel Papas BMW mit
       einem Fähnchen zu schmücken – so wie es sich gut anfühlt, mit seinen Haaren
       irgendwas zu machen (am besten das, was die anderen auch machen). Die Idee,
       dass Flaggezeigen Teil eines Diskurses sein könnte, ja einer Auflehnung –
       z. B. gegen die Frankfurter-Schule-Verbohrtheiten ihres linken
       Geschichtslehrers –, kommt ihnen gar nicht.
       
       Eigentlich wissen diese Jungen und Mädchen, dass es mit Deutschlands
       Vergangenheit so seine Bewandtnis hat und dass die Deutschlandfahne deshalb
       als Spaß-Accessoire unbrauchbar ist. Sie wissen es genauso, wie sie
       eigentlich wissen, dass ihre Saufurlaube auf karibischen Inseln und ihre
       Manager-Vielfliegerträume direkt in die ökologische Katastrophe führen. Sie
       fühlen sich nicht deshalb gut, weil sie es wissen, sondern obwohl sie es
       wissen.
       
       Wer, bitte schön, findet heutzutage die beiden Weltkriege, wer findet den
       Holocaust schon noch toll? Sogar die Neonazis sind neuerdings Zionisten,
       sogar Putin hört Protestrock, sogar McDonald’s verarbeitet lokale Zutaten.
       
       Genau hier liegt der Witz der Situation: Denn das Wissen, dass sie am Ende
       der Welt arbeiten, muss unsere Schüler nicht beunruhigen, da die ganzen
       Side-Effects, die ökologischen und historischen Konsequenzen ihres Tuns ja
       von ihrem Geschichtslehrer verwaltet werden.
       
       ## Wie könnte man die Linke nicht verachten?
       
       Die linke Intelligenz (wie übrigens der liberaldemokratische Staat
       insgesamt) gleicht einer völlig impotenten Vaterfigur, die so tut, als
       würde sie den totalen Genuss ihrer Kinder einschränken. Tatsächlich sorgt
       sie mit ihren homöopathischen Kritik-Injektionen, Live-Aid-Hysterien,
       humanitären Interventionen und Rettungsschirmen nur dafür, dass sich
       niemand schlecht, ja nicht einmal zuständig fühlt auf der rasenden Talfahrt
       in die finale Katastrophe.
       
       Die linken Kritiker gleichen damit den während der Kreuzzüge im Tross
       mitgeführten Priestern, die den Rittern die Absolution gaben, wenn sie mal
       wieder irgendeine Stadt massakriert und niedergebrannt hatten – oder, im
       Fall von Bewegungen wie Occupy, jenen „Narren Gottes“, deren Forderungen an
       die „Mächtigen“ derart hysterisch und kindisch sind, dass sie selbst nicht
       ernsthaft mit ihrer Erfüllung rechnen. Wie könnte man diese völlig zahnlose
       Linke nicht verachten?
       
       Doch das war nicht immer so. Über ein Jahrhundert lang, seit dem
       klassischen Anarchismus, bedeutete links, gerade nicht zu Diensten zu sein.
       Es bedeutete, den revolutionären Moment nicht immer weiter aufzuschieben,
       sondern so zu tun, als wäre die utopische Zukunft zum Greifen nah.
       
       Links hieß, auch noch in meiner Kindheit, einer durchaus unversöhnlichen,
       terroristischen Ideologie der Intensität zu folgen und noch die leisesten
       egalitären Glücksversprechen in den absurdesten Ländern (Iran, Nicaragua
       und so fort) als Beweis herbeizuziehen, dass alles anders werden würde.
       Kurz: Die Linke war das mit allen möglichen ideologischen Drogen
       vollgedröhnte Groupie des Weltgeists, und es ging nicht um Realpolitik,
       sondern um exaltierte Analyse und diskursiven Exzess als Lebensform.
       
       ## Protz, Kuba und heiße Volleyball-Teams
       
       Wenn konservative Kritiker immer wieder anführten, der Kommunismus tue doch
       nur so wissenschaftlich und sei in Wahrheit eine völlig abgedrehte
       Religion, die in der Realität niemals funktionieren würde (siehe
       Sowjetunion) – so wurde pro forma widersprochen, aber insgeheim war völlig
       klar, dass diese Kritiker den Nagel auf den Kopf getroffen hatten.
       
       Was hatte der real existierende Sozialismus neben seinem würdelosen
       Protzgehabe (Raumflüge, Panzerarmeen, Staudämme, Gesamtausgaben) und seiner
       etwas sympathischeren kubanischen Freizeitvariante (Zigarren, verlotterte
       Cadillacs und sogar in der direkten Konfrontation mit dem Kapitalismus
       heiße Volleyball-Teams) schon zu bieten?
       
       Kündeten nicht alle Berichte aus der Sowjetunion von Massenarmut,
       Alkoholismus, Umweltzerstörung und Korruption? Waren Lenin, Stalin, Mao und
       Pol Pot nicht ganz gewöhnliche Massenmörder? Hatte nicht sogar Che Guevara,
       als er die gefangenen Offiziere von Batistas Armee eigenhändig erschoss,
       „kalt gegrinst“, wie der Spiegel berichtete?
       
       Aber was machte das schon aus: Links sein hieß ja gerade, von der
       Wirklichkeit mehr zu verlangen, als einfach nur nett zu sein und zu
       funktionieren. Es hieß, nicht nett, nicht realistisch, nicht verständlich
       zu sein – und wenn es nicht klappte (es klappte bekanntlich nie so
       richtig): „umso schlimmer für die Tatsachen“, wie Hegel zu sagen pflegte.
       
       24 Nov 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Milo Rau
       
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