# taz.de -- Schlingensief-Schau: Am Rande der Hysterie
       
       > Ab Sonntag zeigen die Kunst-Werke eine große
       > Christoph-Schlingensief-Retrospektive. Unser Autor erinnert sich an den
       > Ausnahmekünstler.
       
 (IMG) Bild: Schlingensief-Retrospektive - hier sein Kunstwerk "Animation Edition Parispark"
       
       Zum ersten Mal hatte ich Christoph Schlingensief 1986 auf der Berlinale
       gesehen, im Delphi bei einem Gespräch mit Dietrich Kuhlbrodt und Ulrich
       Gregor über seinen Film „Menu Total“. Ich hatte ihn doof gefunden, wie man
       oft Leute aus der eigenen Generation doof findet, und irgendwie war mir
       peinlich gewesen, dass jemand mit meinem Namen auf Schlingensiefs Seite
       war. Die Bürgerschrecksnummer hatte mich genervt. Später änderte sich das,
       als ich mitbekam, dass er bei den frühen Helge-Schneider-Filmen die Kamera
       gemacht hatte. Helge Schneider fand ich ganz toll. Als er dann plötzlich an
       der Volksbühne war, ab 1993, wo er „100 Jahre CDU – Spiel ohne Grenzen“
       inszenierte, wurde ich auch so allmählich zum Fan.
       
       Mit Schlingensief war die Volksbühne zu einem extrem kommunikativen
       Kraftzentrum geworden. Während seine Filme den Neuen Deutschen Film
       dekonstruierten, exorzierten seine Inszenierungen (nicht nur „Rocky
       Dutschke“) das, was man so unter 68 verstand, die heiligen Allgemeinplätze
       der in die Jahre gekommenen neuen westdeutschen Linken. Keine Aufführung
       war wie die andere, vieles stand am Rande der Hysterie. Mit den Mitteln der
       Kunst sollte das Getto der Kunst verlassen werden. Einmal wurde ein Stück
       auch rückwärtsgespielt.
       
       Für Berichterstatter war das aufregend, aber auch nicht so einfach: Das
       Stück, über das man sich Gedanken gemacht hatte, über das man geschrieben
       hatte, war ja längst passé, verworfen und umgekrempelt worden. Und
       Schlingensief war ein bisschen enttäuscht, dass sich die Theaterkritiker
       nicht jede Aufführung anschauten. Die, die kamen, wurden oft in die
       Theaterstücke, Filme, Aktionen integriert, teils wurden sie auf der Bühne
       auch karikiert. Da ich mich selber als performativer Journalist sah und den
       Dissens ganz gut aus der taz kannte, gab es eine gewisse gefühlte
       inhaltliche Nähe.
       
       Manche Stücke schaute ich mir tatsächlich mehrmals an. Einmal nahm mich
       Dietrich Kuhlbrodt mit in die Garderobe, um Christoph zu trösten, bei
       irgendeiner grandios-chaotischen Aufführung der „Berliner Republik“. Wie
       wir ihm dann ständig versicherten, wie toll dieser Abend doch gewesen war
       und ich gar nicht verstand, wieso ihm das nicht klar war. Der Funke war
       doch so offensichtlich übergesprungen.
       
       Was bei Schlingensief zitiert, verwendet und durchgearbeitet wurde, war
       zunächst eine Westgeschichte – 68, die Situationisten, die Surrealisten,
       „100 Jahre CDU“, selbst die „Berliner Republik“ scheint rückblickend eine
       Westberliner Republik gewesen zu sein.
       
       Persönlich kennengelernt hatte ich ihn dann, glaube ich, über Klaus Beyer.
       Zusammen mit Jörg Buttgereit waren wir an einem Buch über den fünften
       Beatle („Das System Klaus Beyer“) beteiligt. Klaus war irgendwann Teil der
       Schlingensief-Familie, bei der ich dann auch manchmal zu Gast war. Im Mai
       98 im Hotel Prora zum Beispiel.
       
       Das Hotel Prora war eine Übernachtungsaktion im Rahmen des
       Chance-2000-Wahlkampfs. Man schlief in Zelten, die im Prater aufgebaut
       waren, drum herum gab es Irrsinn, Reden, Aktionen. Begeistert sang man „Wir
       wollen trauern!“ oder die Parteihymne mit den schönen Brecht-Zeilen „… der
       Blick in das Gesicht eines Menschen, dem geholfen ist, ist der Blick in
       eine schöne Gegend – Freund, Freund, Freund!“.
       
       Um die „Scheitern-als-Chance-Partei“ rückblickend zu verstehen, muss man
       sich diese Zeit ein bisschen vergegenwärtigen. Die Nachwendeeuphorie war
       längst vorüber. 98 war das Jahr, in dem Helmut Kohl abgelöst wurde. Rainald
       Goetz machte seinen Abfall-für-alle-Blog, und im Sommer hatten sich
       undogmatische 68er auf dem u. a. von Rainer Langhans veranstalteten
       „Ready-to-Ruck“-Kongress noch einmal zu Wort zu gemeldet. Das war eine
       großartig scheiternde Veranstaltung im Tempodrom, bei der die Subkulturen
       unterschiedlicher Jahrzehnte eine dissidentische Kontinuität demonstrieren
       sollten und sich auf der Bühne alle total stritten. Schlingensief war wohl
       auch dabei, aber ich erinnere mich vor allem an Axel Silber und ein
       sympathisch hilfloses Chaos.
       
       Dann gab es noch irgendeine Zusammenarbeit resp. Tolerierung zwischen Karl
       Nagels sagenumwobener APPD und Chance 2000. Und den Parteitag der APPD im
       Pfefferberg, bei dem auf der Bühne für den Frieden gefickt wurde und ein
       Funktionär irgendwann, dem Publikum zugewandt, auf die Bühne pisste und
       „Blue Velvet“ sang, und die APPD-Plakate mit dem Zusatzschild „Zweitstimme
       FDP!!!!“.
       
       Nachts im Hotel Prora also lernte ich auch Dietrich Kuhlbrodt, den
       Staatsanwalt a. D. und Chefideologen von Chance 2000 kennen. Wir fühlten
       uns verwandt miteinander, ohne je herauszukriegen, über welche Ecken. Eine
       komische Zeit – einerseits war ich Techno- und Drogenfreund und in der
       Hippieforschung tätig, andererseits (mit Rainald Goetz, Elfriede Jelinek,
       Dirk Baecker und einigen FeuilletonkollegInnen) im kurzlebigen Thinktank
       von Chance 2000. Wobei die schlingensiefsche Matrix-Metaphorik dieser Zeit
       eigentlich ganz gut zu den Technodrogen passte.
       
       Mit Dietrich hatte ich 2001 einen Stand beim Liebeskummerkongress
       „Lovepangs – Join the lovesick society“ in der Volksbühne, einer
       Gemeinschaftsproduktion mit Carmen Brucic: eine ziemlich irrsinnige
       Veranstaltung, bei der so etwa alle, die in Berlin mit Kultur zu tun
       hatten, Beratungsgespräche anboten, und auf der, in Zusammenarbeit mit
       Alexander Kluge, mit dem sich Schlingensief kurz vor der Premiere
       zerstritt, ein imaginärer Opernführer vorgestellt wurde.
       
       „Lovepangs“ wurde dann noch einmal in Frankfurt aufgeführt. Das Hotel, in
       dem wir übernachteten, hatte ein Schwimmbad. Und am Ende hat Christoph
       Schlingensief mit Dietrichs in diesem Jahr verstorbener Frau, der
       manisch-depressiven Schauspielerin Brigitte Kausch, „What Shall We Do with
       the Drunken Sailor“ gesungen.
       
       30 Nov 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Detlef Kuhlbrodt
       
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