# taz.de -- Liberalismus bei John Stuart Mill: Eine mögliche gute Regierung
       
       > Von der repräsentativen Demokratie sind heute viele Menschen
       > ausgeschlossen. John Stuart Mill erinnert daran, was Liberalismus sein
       > könnte.
       
 (IMG) Bild: Auch eine nüchterne politische Wissenschaft stellt gegenwärtig in westlichen Herrschaftssystemen eine Verschiebung zu postdemokratischen Verhältnissen fest.
       
       Der neue Heilsbringer der FDP, Christian Lindner – seine Partei notiert
       derzeit in der Wählergunst bei 3 Prozent –, gibt sich nachdenklich. In
       einem ausführlichen [1][Gespräch mit der] [2][Süddeutschen Zeitung]
       beteuert er nicht nur, dass er und seine Partei keine Kapitalisten seien,
       nein, er beschwört sogar eine der sozialliberalen Ikonen des letzten
       Jahrhunderts, den Soziologen Ralf Dahrendorf, mit dessen Parole von der
       „Bildung als Bürgerrecht“.
       
       In dem Gespräch versichert Lindner weiter, dass die Politik seiner Partei
       nicht gegen die sozial Schwächeren gerichtet sei, sondern nur einen solchen
       Eindruck erweckt habe.
       
       Indes, es existiert ein Bild von Lindner in seinem Büro, an dessen Wände
       zwei gerahmte Fotografien hängen: eine von Ralf Dahrendorf, die andere aber
       von Friedrich August von Hayek, dem ideologischen Mastermind des
       Neoliberalismus, der so weit ging, den Putsch Pinochets abzusegnen. Wenn es
       Lindner mit seinem Gesinnungswandel ernst ist, sollte er Hayeks Fotografie
       schleunigst abhängen und durch ein Bild des liberalen Theoretikers John
       Stuart Mill (1806–1873) ersetzen.
       
       Wer wissen will, warum, kann sich darüber in einer soeben erschienenen
       Neuausgabe von Mills 1861 erstmals publizierten „Betrachtungen über die
       Repräsentativregierung“ informieren, das die Politologen Hubertus Buchstein
       und Sandra Seubert mit einem informativen Nachwort neu ediert haben.
       
       ## Ansichten der Arbeiter
       
       Das in 18 detaillierte Kapitel gegliederte Buch erscheint nur auf den
       ersten Blick als intensive Institutionenkunde, entpuppt sich aber bei
       näherer Lektüre als eine präzise Studie politischer Philosophie, die nicht
       nur eine abschließende Widerlegung des totalitären Traums von der
       Philosophen- bzw. Expertenherrschaft bietet, sondern ebenso das ehrliche
       Eingeständnis, dass alle politische Demokratie die Demokratie einer
       Klassengesellschaft ist, ja sein muss.
       
       Um das näher zu verstehen, muss man sich klarmachen, dass Mill seine Studie
       in einer Zeit verfasste, als in Großbritannien weder die überwiegende
       Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung noch Frauen das Wahlrecht hatten.
       Zunächst kann die Fallhöhe von Mills Analysen zur Gegenwart gar nicht hoch
       genug sein, allerdings: Auch eine nüchterne politische Wissenschaft stellt
       gegenwärtig in westlichen Herrschaftssystemen eine Verschiebung zu
       postdemokratischen Verhältnissen fest.
       
       Zudem: Mindestens für Deutschland ist nicht zu verkennen, dass die
       [3][Armen und prekär Beschäftigten vom demokratischen Prozess
       ausgeschlossen] sind – sogar wenn es auf den ersten Blick so scheint, als
       schlössen sie sich durch Wahlabstinenz selbst vom politischen Leben aus.
       
       Für Mill war jedenfalls avant la lettre klar, dass der neoliberale, zumal
       von Hayek mit funktionalistischen Argumenten begründete Egoismus der
       Marktteilnehmer und politischen Akteure jede „gute Regierung“ unmöglich
       macht: „Wo in einem Volk die allgemeine Tendenz besteht, daß der Einzelne
       nur seine egoistischen Interessen verfolgt und seinen Anteil am
       Gesamtinteresse weder der Beachtung noch der Mühe wert findet – da ist gute
       Regierung unmöglich.“
       
       ## Kein Blatt zwischen ihm und Marx
       
       Mill, der – wie später Churchill – die repräsentative parlamentarische
       Demokratie zwar nicht für die beste, wohl aber für die unter großen
       Flächenstaaten einzig funktionierende Form demokratischer Herrschaft hielt,
       lag alles daran, dass in ihrem Rahmen die Interessen aller
       Bevölkerungsgruppen angemessen und vernehmbar politisch vertreten sind.
       
       Ohne Verschwörungstheorien zuzuneigen, war er dennoch davon überzeugt, dass
       – in dieser Analyse passt kein Blatt zwischen ihn und Marx – alle
       politische Herrschaft Klassenherrschaft ist, weshalb er fragen kann:
       „Betrachtet das Parlament oder eines seiner Mitglieder irgendein Problem
       jemals auch nun einen Augenblick lang mit den Augen eines Arbeiters? Wenn
       ein Thema zur Debatte steht, an dem die Arbeiter als solche ein Interesse
       haben – wird es je durch einen anderen Blickwinkel als den der Arbeitgeber
       gesehen?“
       
       Denn Mill, daran ist kein Zweifel möglich, war ein Sozialliberaler, ja
       geradezu ein Sozialdemokrat des 19. Jahrhunderts und kam darin mit den
       rechten Schülern Hegels in Deutschland und Österreich, namentlich mit den
       Begründern der Idee des modernen Sozialstaats, mit Lorenz von Stein und
       Ferdinand Lassalle überein. „Ich behaupte nicht“ so Mill programmatisch
       „daß die Ansichten des Arbeiters über die betreffenden Fragen im
       Allgemeinen der Wahrheit näher kommen, als die der anderen, aber sie kommen
       ihr bisweilen ebenso nah; in jedem Fall sollte man sie hören und
       respektieren, anstatt sich, wie es geschieht, von ihnen abzuwenden …“
       
       Andererseits – und das macht den Mill von 1861 tatsächlich zum
       Stichwortgeber für einen von seinen neoliberalen, hayekschen Verirrungen
       genesenen Liberalismus – war er doch ganz und gar davon überzeugt, dass nur
       individueller, auf wahrhaft eigener Leistung begründeter Erfolg ein gutes
       Leben verbürge und dass überall dort, wo dieses individuelle Streben nach
       Glück nicht möglich sei, Stagnation und, schlimmer noch, der Neid regiere.
       
       Sosehr man dies noch als diskutable Hypothese ansehen mag, so sehr
       schockiert denn doch das vorurteilsgeladene Ressentiment, mit dem sich Mill
       über Gesellschaften äußert, in denen eigene Leistung kein
       gesellschaftlicher Wert sei, vor allem „orientalische“ Gesellschaften: „Die
       neidischsten aller Menschen sind die Orientalen. […] Auf die Orientalen
       folgen, in Bezug auf den Grad des Neides wie der Passivität, einige
       südeuropäische Nationen“ – Zeilen, bei denen man sich spontan an die
       gegenwärtigen Debatten in der EU, speziell in Deutschland erinnert fühlt.
       
       ## Krise der Demokratie
       
       Wer freilich bei der Erwähnung der „Orientalen“ an die indischen Kolonien
       Großbritanniens denkt, liegt so falsch nicht. Immerhin war Mill von Jugend
       an, er war 17 Jahre alt, bis ins hohe Erwachsenenalter als Angestellter der
       East India Company tätig und in dieser Funktion ideologisch an dem
       beteiligt, was man als „liberalen Imperialismus“ bezeichnen muss. Das
       letzte Kapitel der „Betrachtungen“ widmet sich gleichsam als Summe seines
       Berufslebens dieser Problematik.
       
       Sosehr Mill einerseits von der unterschiedlichen Entwicklungshöhe
       westlicher und orientalischer Gesellschaften überzeugt war, so sehr war er
       anthropologisch von der Lernfähigkeit aller Menschen und Gesellschaften
       überzeugt, weshalb er koloniale Herrschaft, wenn überhaupt, nur als eine
       Art Erziehungsdiktatur, die auf ihre eigene Abschaffung hinarbeiten muss,
       akzeptieren wollte. Dabei offenbart sich – unter heutigen Vorzeichen
       postkolonialer Kritik – die ganze Problematik eines demokratischen
       Paternalismus, dessen Argumente jedenfalls nicht völlig übergangen werden
       können, sondern – in unserer Gegenwart – auch den ein oder anderen
       Beitrittswilligen oder Beitrittskandidaten zur EU betreffen.
       
       Lässt sich legitimerweise davon sprechen, dass unterschiedliche,
       territorial vereinheitlichte Bevölkerungen von ihren subjektiven
       Voraussetzungen zu demokratischen, repräsentativen Herrschaftssystemen
       nicht unmittelbar befähigt sind; und wenn nicht, legitimiert dies eine Art
       wohlwollenden, nur erzieherisch gemeinten Despotismus?
       
       Mill war immerhin so ehrlich, einzuräumen, dass dieses Problem vor 150
       Jahren völlig ungelöst war; dass man heute seiner Lösung auch nur einen
       Schritt näher ist, darf bezweifelt werden. Die Aufgabe jedenfalls war schon
       1861 klar: eine Herrschaft zu organisieren, die dem abhängigen Volk nicht
       schadet, sondern nützt: „Auf welche Weise aber“, so Mill, „ein
       Regierungssystem diese Aufgabe zu erfüllen vermag, darüber herrscht weit
       weniger Klarheit als über die Bedingungen eines guten Regierungssystems für
       ein Volk, das fähig ist, sich selbst zu regieren.“
       
       Auch wenn nicht all seine Fragen und vor allem alle Antworten uns heute
       noch überzeugen, ist Mill doch auch in der Gegenwart, im Zeitalter einer
       tief gehenden Krise der Demokratie, ein Zeitgenosse; ein Zeitgenosse, der
       uns daran zu erinnern vermag, was die parlamentarische repräsentative
       Demokratie als Institutionensystem in liberalem, freiheitverbürgendem Geist
       im besten Fall zu leisten vermag.
       
       Den Problemen, Schwierigkeiten, aber auch Vorzügen der repräsentativen
       Demokratie in einem Zeitalter nachzuspüren, in dem immer weniger Menschen –
       seien es Angehörige der „unten“ Ausgeschlossenen, seien es Angehörige der
       „oben“ als neue Klasse global agierenden und regierenden Klasse – von ihr
       überzeugt sind, bleibt eine zentrale Herausforderung.
       
       15 Dec 2013
       
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