# taz.de -- Weihnachtsgeschichte: Das Gegenteil von Hoffnung
       
       > Eine junge Frau in einem Weihnachtsgottesdienst in Bethlehem. Zwischen
       > Freunden, Soldaten, Mauer und Besatzung.
       
 (IMG) Bild: Gut bewachtes Weihnachten.
       
       „We wish you a merry Christmas and a Happy New Year!“ Schwarz auf weiß.
       Kein Tannenzweig, nicht mal ein Stern. Das Plakat hängt festgepinnt an der
       Außenwand des Betonquaders, der ein metallenes Schrankenlabyrinth
       überdacht. Die israelische Tourismusbehörde redet von Hoffnung, ohne
       Hoffnung zu machen. Dahinter türmt sich das Grau der Mauer. Haushohe
       Betonvierecke staffeln sich entlang der Hügel. Hier, ausgerechnet, wurde
       der Hoffnungsträger einer Weltreligion geboren. Eingezäunt und abgesichert
       ist heute Bethlehem, der Ort der Orte.
       
       Lena hievt ihre Umhängetasche auf die linke Schulter. Sie weiß, zwischen
       den Koffern und Plastiktüten um sie herum verrät sie das sportliche Design
       als europäisch. An der Kontrollbox hebt die israelische Soldatin kaum den
       Kopf. Dafür wird Lena am Ende des 100 Meter langen Tunnellabyrinths mit
       Aufmerksamkeit überschüttet. Ein paar dunkelhaarige Männer in Lederjacken
       versuchen ihr Glück. „Where are you from?“ – „Merry Christmas!“
       
       Es ist Weihnachten. Die guten Wünsche werden erwidert. Dann steht sie auf
       einer Straße, und hinter ihr ist nichts. Bis auf eine Betonwand, die den
       doppelspurigen Fahrstreifen abbricht. Es nieselt. Vor ihr verliert sich
       eine Reihe von Häusern in der Dunkelheit. Der helle Kalkstein ihrer
       Fassaden konturiert die anbrechende Nacht mit Ecken und Fluchten. Endlich
       wird eine altbekannte Silhouette sichtbar. Breite Schultern mit
       eingeebneter Hüfte, ganz klar, das ist Issams Parkajacke. Er hatte sie nach
       drei Monaten Studienaufenthalt in Berlin erstanden. „Gestern Berlin, heute
       Bethlehem.“ Issam redet, als ob der letzte Abschied nicht sechs Monate
       zurückläge.
       
       Aber Lena braucht das. Seit sie vor drei Jahren mit einem der unzähligen
       Programme deutsch-israelischer Versöhnung in die Gegend kam, verdrehte sich
       ihr Leben. Seitdem hält sie über Facebook Verbindung mit Berlin, Tel Aviv
       und Bethlehem. Sie kennt die Fotos von Freunden, die hundert andere auch
       sehen. Und beim letzten Facebook „Friendrequest“, die Kontaktaufnahme eines
       jüdischen Israelis nach einer Party in Berlin, war sie gerade im grausig
       anheimelnden Austausch von neuesten Holocaustwitzen, da kam ein kurzer
       Eintrag von Issam: Wann genau kommst du? Die Frage, wartend, abgeschnitten,
       hinter der Bethlehemmauer, überführte den deutsch-israelischen Austausch
       als Jetset- und Patchworkgerede.
       
       ## Die Bewegungsfreiheit
       
       Lena mag nicht, wenn palästinensische Freunde ihre Bewegungsfreiheit
       idealisieren. Das Leben wird so nicht einfacher. Und doch, jaja, die Mauer,
       die Besatzung. Sie seufzt. Um der Hoffnung willen, die man an solchen Tagen
       auch für andere hegen soll, sagt sie mit einem Ton von Autoaggressivität:
       „Und morgen Tel Aviv!“ – „Du weißt einfach nicht, wie gut du es hast!“
       
       Genau.
       
       Issam steuert durch eine Gruppe palästinensischer Scouts. Es ist eine von
       ganzen Heerscharen, die an diesem Abend auf der Flanierstraße, unterhalb
       der Geburtskirche patrouillieren. Lena bugsiert ihre große Tasche. Um sie
       herum beginnen die rot-schwarz-karierten schottischen Röckchen und Hütchen
       zu flimmern. „Haben die Uniformen in Weihnachtsfarben?“ Aber Issam lacht
       nicht. „Das sind Sicherheitstrupps. Die sind hier wegen Abbas.“ Alle Jahre
       wieder stattet der palästinensische Ministerpräsident zum
       Weihnachtsgottesdienst der christlichen Minderheit einen Besuch ab. Lena
       bleibt stehen. Auf der anderen Straßenseite sehen die schwarzen Gewehre der
       Soldaten hochtechnisch und schwer aus. An den Patronengürteln hängen
       Schlagstöcke. „Vorsicht, die schießen auf dich, wenn du sie auch nur
       anschaust!“
       
       ## Die Kirche
       
       Issam schiebt Lena vorwärts. „Jalla, let’s go!“ Die Mitternachtsmesse
       beginnt in wenigen Minuten. „Jalla“ – „los“ – gilt der Besteigung fast
       senkrechter Straßen. Je höher, desto ungeschützter geben Häuserlücken kalte
       Winde frei. Dann braust es nur noch, ein weiterer steinerner Platz gibt dem
       Wind freies Spiel. Am Eingang der Geburtskirche drängen sich Menschen. Lena
       sieht nur Schultern und Köpfe. Ihr Blick sucht Halt an der Kirchwand. Dort
       gleitet er zwanzig Meter Felsgestein entlang und bleibt an einer Gruppe mit
       nach oben gerichteten Händen hängen. Dreißig bis vierzig Menschen, die im
       Chor murmeln. Ein Wort dringt herüber. „Rain, rain.“
       
       Der Wind zerzaust schwarze glatte Haare. Lena denkt: philippinische
       Gastarbeiter, auch woandersher, Schwerstarbeiter für Niedriglöhne. Dann
       zieht sie den Kopf vor dem niedrigen Eingangsbalken ein.
       
       Im Gedränge spürt sie den sich ausdehnenden Raum. Während sich ihre Augen
       an die Dunkelheit gewöhnen, schlängeln sie sich vorbei an Mönchen, Nonnen,
       Europäern, Palästinensern, Jungen, Alten. Ihre Bewegung stimmt sich in die
       Wogen der lateinischen Gesänge ein. Bis eine Absperrung den Zugang zum
       zentralen Schiff der Kathedrale verwehrt.
       
       Sie bleiben stehen. Vor ihnen Kaschmirmäntel, Pelze, Kostüme. VIPs und
       Jetset-Menschen sitzen entlang des einzigen leeren Gangs. Und dessen
       hinteres Ende betritt der erste einer weiß gewandeten Delegation von
       Priestern. Einer nach dem anderen trägt Maria, das Christkind, das Kreuz.
       Hostienträger. Hoffnungsträger.
       
       ## Die Oblate
       
       Lena greift instinktiv um das Absperrungsband. Sie sieht, wie
       Geistheischende vor der Delegation niederfallen. Neben ihr ist das weiße
       Gesicht eines untergewichtigen Teenagers in übergroßen Turnschuhen
       schweißüberströmt. Auch er sinkt zu Boden. Ein Sicherheitsbeamter zischt
       Lena an. Sie lässt das Band los. Mahmoud Abbas steht unter Menschen, die
       gesittet einen Kreis um den Altar bilden. Hinter der Absperrung geht jedoch
       das Gedränge los. Ein Priester hält Lena eine Oblate hin. Es braucht nur
       einen Schritt, um sie sich zum Mund führen zu lassen. Aber Lena bleibt
       stehen. Sie blickt ihm in die Augen, kann nicht mal den Kopf schütteln.
       Irgendjemand sagte mal, dass das Gegenteil von Hoffnung Gleichgültigkeit
       sei.
       
       „Über die blöde Absperrung!“ Lena läuft stampfend auf den noch regennassen
       Gassen. Issam dreht sich um: „Das ist der internationale Gottesdienst. Was
       hast du erwartet?“ Sie schlittert zwei Pflastersteine entlang. „Du magst
       doch das Internationale …!“ Issam grinst. „Nicht, wenn’s elitär ist. Ich
       mag’s nur, wenn alle gleich sind unterm Himmel.“ Aber Lena hat keine Lust,
       wieder darüber zu diskutieren. „Sag mal, was meinst du eigentlich, ist das
       Gegenteil von Hoffnung?“ Und wie davon ausgelöst, schwillt ein
       sirenenartiger Ton an. Je lauter, desto wahrnehmbarer wird aus dem Ton eine
       Stimme. Der Muezzin singt das Morgengebet.
       
       ## Die Hoffnung
       
       Und das blecherne Klagen aus den Lautsprechern schwingt in Lenas Herz.
       Endlich löst sich etwas in ihr, wenn auch nur Wut: Wie kann es sein, dass
       die Jetset-Menschen in der Geburtskirche Hoffnung haben? Lena ist nichts
       gleichgültig. Der Gesang des Muezzins scheint das Jetzt und Hier zu
       schultern, das Issam einsperrt. Er trägt es aus den Gassen in die
       Bethlehemer Berge, die graubraunen Riesenkegel weit weg am Horizont, deren
       runde Spitzen die Klage weitergeben. Jetzt läuft sie fast im Gleichschritt
       mit Issam.
       
       Sie erreichen den Eingang seines Familienhauses. Im Wohnzimmer leuchtet es
       bläulich. Der Fernseher bestrahlt die müden Gesichter von Issams Brüdern.
       Sie sind, wie das seine, durchzogen von viel zu frühen Falten. Lenas
       israelische Freunde meinen, die Alterserscheinungen kämen von der
       schlechten Ernährung unter der Besatzung. Sie wird es nie wissen. Direkt zu
       fragen wäre verletzend.
       
       Sie lässt sich auf eines der Sofa fallen. Der Fernseher zeigt Abbas vor der
       Kirche, in der Kirche. Ein Checkpoint sieht aus der Kameraperspektive dem
       in Bethlehem sehr ähnlich. Über den Eisentoren ist jedoch „Gaza“ zu lesen.
       Vorsichtig greift Lena das heiße Glas mit Tee, das Issam ihr reicht. Der
       witzelt mit seinen Brüdern über die Nachrichten vom Leben vor ihrer Haustür
       im Fernseher, dem Fenster zur Welt. Und während die süße Flüssigkeit Lena
       im Innern erwärmt, denkt sie, das ist deren Patchwork, nur ohne Illusion.
       Einer der Brüder erhebt sich vom Sofa. Gähnend sagt er in das Ende der
       Heiligen Nacht: „Salamat“ – Friede …
       
       24 Dec 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Charlotte Misselwitz
       
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