# taz.de -- Theater zu Homophobie: Das Publikum als Wegseher
       
       > Wie homophob sind wir eigentlich? Das fragt Falk Richter in „Small Town
       > Boy“, einer Recherche zu Freiheit und Sex, am Berliner Maxim Gorki
       > Theater.
       
 (IMG) Bild: Kusszene unter Putins strengen Augen. Szene aus Falk Richters "Small Town Boy".
       
       Nein, dieses Stück wurde nicht erst letzte Woche geschrieben. Und doch
       könnte man das glauben, weil „Small Town Boy“ von Falk Richter,
       uraufgeführt am Samstag im Maxim Gorki Theater Berlin, in vielen Szenen
       Überlegungen fortzusetzen scheint, die sich nach dem offenen Reden von
       Thomas Hitzlsperger über seine Homosexualität anschlossen.
       
       Auf die Frage, wie homophob sind wir eigentlich?, liefert das Stück einen
       düsteren Befund, der das Feiern der Offenheit des Fußballers als
       heuchlerische Fassade erscheinen lässt.
       
       Vier attraktive Männer und eine junge Frau performen das Szenen-Kaleidoskop
       von „Small Town Boy“. Der Titel ist einem Song von Bronski Beat entliehen,
       den Mehmet Atesci am Anfang mit Pathos singt, eine Initiation in die
       Laufbahn der Nichtzugehörigkeit und ihre romantische Überhöhung.
       
       Und es gilt für den weiteren Abend: Wann immer Atesci sich das Mikro
       schnappt, grundiert er die Stimmung sehnsuchtsvoll, einwickeln kann man
       sich in diesen Sound. Die Dialoge dagegen scheuchen einen aus dieser
       Melancholie immer wieder auf und schleudern einen auf konfliktgeladene
       Schauplätze.
       
       ## Filmszenen und biografische Splitter
       
       Es sind teils biografische Splitter, teils Überschreibungen von Filmszenen
       oder Fassbinder-Interviews, wütende Reden. Es geht um den Aufbruch aus der
       Provinz und die Flucht vor kontrollierender Mutterliebe, um die Einsamkeit
       in der Großstadt und um die Verlorenheit zwischen Internetpornos, um Sex
       als ästhetische Strategie, um die Grenzen zum Zuschauer zu durchstoßen, es
       geht um die Hürde, der eigenen Familie, zumal mit Migrationshintergrund,
       die Homosexualität offenzulegen.
       
       All diese Szenen laufen unter projizierten Titeln im Hintergrund, die auch
       Spuren zu populären Fernsehserien legen. Wie oft in einem Falk-Richter-Text
       wird so der Ort der Sprechenden verwischt; man weiß nicht mehr, ob diese
       Eifersuchtsszene sich über Klischeefiguren aus der Soap und ihre Floskeln
       lustig macht, oder ob die Figuren eines gerade gelebten Dramas darüber
       erschrecken, keine andere Sprache mehr als die vorformatierte zu finden.
       
       Besonders der Schauspieler Niels Bormann ist ein Virtuose dieses
       gedoppelten Sounds, des Misstrauens in die eigenen Sprachbilder, der
       Verzweiflung am Selbstausdruck.
       
       ## Wer Putin die Hand schüttelt
       
       Dennoch findet man in diesen Splittern noch nicht die Erzählung, warum das
       homosexuelle Leben so ein existenziell bedrohtes ist. Dafür schwenkt das
       Stück in der Szene „Frühling der Reaktionäre“ nach Russland. Statt der
       Ikonen David Bowie und Fassbinder, die zuvor auf der Bühne verteilt waren,
       sind es nun Bilder von Putin-Auftritten, mit Angela Merkel, Anna Netrebko,
       Berlusconi.
       
       Thomas Wodianka, an diesem Abend für das Aggressive zuständig, verflucht
       nicht nur Putin für seine homosexuellenfeindliche Politik, sondern alle,
       die ihm die Hand reichen. Wodianka beschreibt dabei auch drastische Bilder
       von der Folterung von Menschen, die plötzlich auf ihre als falsch markierte
       Sexualität reduziert werden, die in Russland ins Netz gestellt werden.
       
       Wodianka gibt sich alle Mühe, nicht mehr als Schauspieler vor uns zu
       stehen, sondern als Empörter, der das Publikum als Wegseher anspricht, dem
       egal ist, was in Russland läuft. Rhetorisch benutzt seine Rede einen
       eigenartigen Trick, er macht aus den Verfolgten „sein Volk“.
       
       ## Die heterosexuelle Norm der Familienpolitik
       
       Das berührt seltsam, weil es die zuvor noch in großer Diversität
       beschriebenen Wege homosexuellen Lebens unter dem Merkmal der Identität
       zusammenfasst. Von der menschenverachtenden Politik in Russland führt in
       der Rede eine direkte Verbindung zur heterosexuellen Norm der deutschen
       Familienpolitik.
       
       Diesem Aufschrei der Empörung ging eine Szene ganz anderen Kalibers voraus,
       eine Art hyperhysterisches Kabarett, das ebenfalls Angela Merkels Politik
       gilt. Unter dem Titel „Shades of Grey / Gasthaus Forstengrund / Murat und
       Angie im Kanzlerinnenschloss“ wird mit Obszönitäten geschossen.
       
       „ali bringen sie mir doch mal bitte den tee und den zweiten band Shades of
       Grey aufs zimmer und legen sie den analpropf und die handschellen bereit
       ich habe heute schon wieder zu viele entscheidungen treffen müssen im
       aufsichtsrat wir haben heute wieder panzer nach saudi-arabien verkauft die
       frau merkel und ich da fühle ich mich manchmal so mächtig.“
       
       ## Die verkokste Sexualität der mächtigsten Frau
       
       Lea Draeger lässt die schrillen Worte als Kaskade aufs Publikum prasseln,
       eine Karikatur der politisch mächtigen Frau und ihrer verkorksten
       Sexualität. Als gäbe es zwischen Berlusconi und Merkel keine Unterschiede.
       Die Unterstellung von bizarrem Sex wird hier zum Instrument der Rache.
       
       Wagt die Inszenierung damit viel? Versucht das Maxim Gorki Theater, das
       erst im November 2013 unter der neuen Leitung von Shermin Langhoff
       startete, aus einem Konsens auszuscheren, der blind macht für die Teilhabe
       an ausgrenzenden Mustern und diskriminierender Politik? Ein Ziel des
       Theaters ist das sicherlich.
       
       Dennoch wirkt „Small Town Boy“ zu sehr auf die Provokation hin kalkuliert,
       zu wenig halten die ungemütlichen Szenen und die Erzählsplitter im Diskurs
       und in der Spieltemperatur zusammen. Man tastet nach dem Gegner, aber man
       kriegt ihn noch nicht zu fassen.
       
       12 Jan 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Katrin Bettina Müller
       
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