# taz.de -- Kolumne Zumutung: Leben, mit Armut möbliert
       
       > Mal Mann, mal Frau, mal Geige statt Akkordeon. Dass etwas anders ist als
       > gewohnt, merkt man erst, wenn das dünne Lächeln fehlt.
       
 (IMG) Bild: Oft hatte ich mich gefragt, wie sie das aushält, wie das überhaupt jemand aushält.
       
       Am Dienstag war sie plötzlich weg. Seit drei Jahren hatte sie dort gehockt,
       in dieser taubenverschissenen Berliner Fußgängerunterführung. Klein,
       abgerissen, dünn lächelnd. Jeden Morgen ging ich an ihr vorüber, jeden
       Morgen hörte ich schon von Weitem ihr ächzendes Akkordeon. Jeden Morgen
       dieselbe Melodie, von der im Laufe der Jahre immer weniger Töne übrig
       geblieben waren.
       
       An diesem Dienstag dann war sie plötzlich weg. Statt der kleinen Frau links
       im Gang stand nun ein geigender Mann auf der rechten Seite. Er sah
       mindestens so abgerissen aus wie seine Vorgängerin und bemühte sich, über
       die unters Kinn geklemmte Geige hinweg ein serviles Lächeln in diesen
       Berliner Businessmorgen zu schicken. Ich sah den Mann und hörte das Kratzen
       des Bogens, das einen fernen Hauch von Melodie hervorzubringen suchte. Und
       ich dachte: Was will der denn hier? Was hat der mit meiner Frau gemacht?
       
       Am Morgen dieses Murmeltierdienstags begriff ich, dass es nun, im Jahr
       2014, offenbar so weit war: Mein Alltag wurde von sichtbarer Armut
       möbliert. Eine Erkenntnis, die weiß Gott kein günstiges Licht auf mich
       warf.
       
       Ich dachte an die Akkordeonfrau. War ihr etwas zugestoßen? Bei jedem noch
       so fiesen Wetter hatte sie da unten gehockt, auf dem kalten Stein. Oft
       hatte ich mich gefragt, wie sie das aushält, hier an der zugigen Spree. Wie
       das überhaupt jemand aushält. Und wie man dabei noch dieses dünne Lächeln
       hinkriegt.
       
       ## Jetzt noch an diesem Ton vorbei
       
       Geld gegeben hatte ich ihr schon lange nicht mehr. Anfangs ja, da schien es
       mir nur logisch, dass ich alle zwei, drei Tage stehen blieb und nach einer
       Münze suchte. Aber irgendwann, vielleicht nach einem Sommerurlaub, war die
       kleine, geduckte Gestalt da links im Bild nur noch einfach da. Ich schaute
       sie kaum mehr an, es reichte, dass ich das Akkordeon schon von Weitem
       hörte, um zu wissen: Ein Arbeitstag beginnt. Jetzt noch an diesem Ton
       vorbei, dann das Fahrrad abschließen, in fünf Minuten bist du in der
       Redaktion.
       
       Es gab aber auch Tage, da sah ich sie doch. Und dachte ganz ungute
       Gedanken, die etwas mit meinem sehr schlechten Gewissen zu tun hatten. Und
       sie? Lächelte. Und nun also, an diesem Dienstag, war sie plötzlich fort.
       Eilig ging ich an dem Geigenmann vorüber und gab dem Hundepunk zehn Meter
       weiter einen Euro. Danke-bitte-schön’-Tag-noch. Als Kind hatte ich Bilder
       aus den zwanziger Jahren gesehen: Obdachlose, die vor der Volksbühne
       kampierten. Ich konnte mir damals nicht vorstellen, wie sie in dieses Elend
       geraten konnten.
       
       Heute weiß ich es. Und ich sehe es. Jeden Tag gehe ich daran vorüber, an
       einem Spalier der Armut: Jetzt noch hier vorbei, in fünf Minuten sitzt du
       am Schreibtisch. Sorge spüre ich erst in jenem Moment, in dem die Besetzung
       geändert wird. Geige statt Akkordeon. Mann statt Frau. Rechts statt links.
       
       Drei Tage später, am Freitag, war sie plötzlich wieder da. Sie kauerte da
       unten, quetschte ihr Akkordeon, sandte dieses dünne Lächeln. Ich verschwand
       in mein Wochenende. Am Montag werde ich ihr wieder was geben, dachte ich.
       Und dass mit mir und diesem Land etwas wirklich schiefläuft.
       
       31 Mar 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Anja Maier
       
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