# taz.de -- Neues Buch von Sibylle Lewitscharoff: Die Literaturreligiöse
       
       > Am 14. April erscheint ihr neuer Roman. Aber vorher stellt sich noch eine
       > Frage: Wie halten wir es nun mit der Schriftstellerin Sibylle
       > Lewitscharoff?
       
 (IMG) Bild: Vermisst „Erlösungsenergie“: Sibylle Lewitscharoff.
       
       Als ich am vergangenen Wochenende auf einer Taufe war – „Du stellst meine
       Füße auf weiten Raum“, lautete der Taufspruch (Psalm 31, 9), es wurde
       „Weißt du, wie viel Sternlein stehen“ gesungen, und alles war sehr festlich
       und sehr fröhlich –, musste ich plötzlich an Sibylle Lewitscharoff denken.
       
       Als Agnostiker bin ich, muss ich dazusagen, religiös unmusikalisch. Aber
       eines fiel mir an diesem gelungenen Samstagnachmittag in der Tauf- und
       Traukirche des Berliner Doms eben auf: Gegen den freien Geist, der diese
       Taufe trug, wirkte der Glaube der Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff,
       wie sie ihn neulich in ihrer inzwischen berüchtigten Dresdner Rede in
       seiner ganzen fundamentalistisch-pietistischen Spielart zum Ausdruck
       gebracht hat, überaus harsch und biestig.
       
       Die nach der Rede hoch und runter zitierten Abwertungen von Menschen, die
       Familienplanung anders betreiben oder auch anders gezeugt worden sind, als
       es der Schriftstellerin gefällt, waren ja mit einem engen religiösem
       Weltbild verbunden. Hinter Invektiven, einigem Glaubenskitsch und
       intoleranten Gesellschaftsideen bleibt, wenn man die Rede nun noch einmal
       liest, ein für die Sprachfantasie dieser Autorin geradezu unglaublich
       schlichter Kernsatz übrig. Er lautet: „Ganz einfach, mein Schicksal liegt
       in Gottes Hand und nicht in meinen Händen.“
       
       Von diesem Satz leitet sich alles ab. Alles Dulden und Gottvertrauen ist im
       Text dieser Rede mit gelingendem Leben verbunden; als Paradebeispiel dient
       der Autorin der sanfte Tod ihrer gläubigen Großmutter. Alle Versuche der
       Menschen aber, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, erscheinen als
       verwerflich. Nein, nicht nur als verwerflich. Als verdammungswürdig. Egal,
       ob es sich um künstliche Befruchtung handelt oder um Designerbabys, um
       Organtransplantation, Sterbehilfe oder um Leihmutterschaft. Höchst
       fragwürdige und längst selbstverständlich gelebte soziale Praktiken, alles
       geht da wild durcheinander.
       
       ## Es gibt Klärungsbedarf
       
       Glauben ist Privatsache, aber es ist ja Sibylle Lewitscharoff selbst, die
       nicht eben dezent damit umgeht. Feststellen kann man: Bei ihrer Form des
       Glaubens würde man nicht darauf kommen, dass die Füße auf weiten Raum
       gestellt sind. Von neugierigem Gewährenlassen keine Spur. Die stattdessen
       mit ihrem Glauben verknüpfte Mischung aus strikter Empathieverweigerung und
       forcierter Abwertung von Abweichungen kann man schon länger bei ihr finden.
       
       Als sie 2011 den Kleistpreis entgegennahm, sagte sie: „Selbstmörder sind
       charakterlich zumeist eine ungute Mischung aus Weichlichkeit und Härte, die
       auf mich abstoßend wirkt. So auch der weichlich harte Mann Kleist.“ So
       etwas muss man als Preisträgerin erst einmal bringen. Kleist war übrigens
       auch jemand, der das Schicksal in die eigenen Hände nehmen wollte.
       
       Auch sonst muss man ja derzeit quasi ständig an Sibylle Lewitscharoff
       denken. Am 14. April erscheint ihr neuer Roman „Killmousky“. Aber nicht nur
       deswegen. Zwar muss man nun keineswegs finden, dass nach der Dresdner Rede
       ihr Werk neu gelesen werden muss, aber: Es gibt Klärungsbedarf. Sibylle
       Lewitscharoff ist – das kann einem auffallen, wenn man erst einmal auf der
       religiösen Spur ist – nämlich auch in einem erstaunlich ungebrochenen Sinn
       literaturreligiös.
       
       An strategischen Stellen ihrer unter dem Titel „Vom Guten, Wahren und
       Schönen“ erschienenen Poetikvorlesungen tauchen die einschlägigen Begriffe
       auf. In ihrer Ablehnung der „Leipziger Romanschule“, gemeint sind die
       Autoren, die am Leipziger Literaturinstitut studiert haben, bezieht sie
       sich auf den Begriff der Erlösung. Ausdrücklich vermisst sie die
       „Erlösungsenergie“. Und an anderer Stelle erläutert sie: „Erlösung heißt
       das Zauberwort. Der Stil muss den Gnadenschatz bergen, der Erlösung vom
       Bann des Alltäglichen verspricht, Erlösung von Schmutz und Schuld, die wir
       alle, schwache, böse, schutzbedürftige Wesen, die wir sind, unablässig in
       uns und um uns anhäufen.“
       
       ## „Herrliche Wahrheitskapseln“
       
       Der zweite religiöse Begriff, der durch diese Poetik geistert, ist der der
       Offenbarung. Die Wahrheit der Offenbarung hat sich für sie in die Literatur
       zurückgezogen. In deren kanonischen Werken liegen für sie „herrliche
       Wahrheitskapseln“ verborgen, die, „schließen wir sie auf, es vermögen, uns
       zu erheitern, uns zu beglücken, und dabei unmerklich, still und leise,
       hinterrücks an unserer Zivilisierung raspeln und feilen, deren wir immerzu
       bedürftig sind“.
       
       Diese Formulierung sollte man genau lesen. Nicht nur wird in ihr das
       menschliche Vermögen, sich Wahrheit zu erschließen, in die passive Aufnahme
       transzendenter Offenbarung zurückgebogen. Auch die Ansicht, dass für die
       Zivilisierung des Menschen eine überzeitliche Wahrheit nötig ist, ist
       enthalten. Dazu passt, dass sie an anderer Stelle „Selbstfindung“ abwertet;
       da sei „meist nicht mehr dahinter als ein unglücklicher Wettkampf
       stacheliger Individuen, die mittels Provokation, Skandal und
       Markierungsgesten um Anerkennung ringen“. Alles Variationen des Themas,
       dass es für den Menschen ungehörig ist, sein Schicksal in die eigenen Hände
       zu nehmen.
       
       Dass Literatur es vermag, die Welt zu heilen (Erlösung); dass sie einen
       privilegierten Zugang zu einer transzendenten Wahrheit bietet (Offenbarung)
       – diese beiden Grundthesen der Kulturreligion hat Sibylle Lewitscharoff
       keineswegs für sich allein. In Schwundstufen oder auch in nur
       nachgeplapperter Form findet man sie auch immer wieder in manchen
       Literaturkritiken, etwa wenn es darum geht, schwierige Lyrik anzusingen
       oder Klassiker neu zu vermarkten. Nur scheint Sibylle Lewitscharoff das
       auch theologisch ernst zu meinen.
       
       Die Wirklichkeit ist für sie tatsächlich ein Jammertal, aus dem sie nur die
       Literatur erheben kann. Nun geht das Werk von Sibylle Lewitscharoff in
       dieser religiösen Perspektive keineswegs restlos auf. In ihrem neuen Roman
       „Killmousky“ spielt sie zum Beispiel hübsch mit Film-noir-Motiven; es gibt
       Blondinen, die mittags Whiskey trinken, Männer, die die höhere
       Gerechtigkeit in die eigenen Hände nehmen, und all das; und in manchen
       Szenen hat man geradezu den Eindruck, die Autorin wolle dem eigenen Sound
       auch ein Stück weit entkommen. Aber, immerhin: Die Perspektive schließt
       doch einiges an ihren Romanen auf.
       
       Das in ihrer Prosa bis zur Aufdringlichkeit gehende Primat von Stil; ihre
       an Selbstverwirklichung immer schon gescheiterten Figuren; ihre Neigung zu
       Wortspielen, da auf der Handlungsebene sowieso nur Verhängnis droht – das
       alles passt gut zu ihren engen literaturreligiösen Grundüberzeugungen. So
       wie ihre Neigung zu starken Abwertungen. Sie macht es sich selbst einfach
       zu leicht, alles, was ihr nicht in den Kram passt, als „vulgär“ zu
       bezeichnen. Der Trick bei solchen Argumentationslinien besteht ja darin,
       dass man recht willkürlich wählen kann, wo man „Wahrheitskapseln“ entdeckt
       und was man abwertet.
       
       ## Literatur oder Selbsterkundung?
       
       Auch der bei mir jedenfalls vorhandene Eindruck, dass ihre Bücher etwas
       Rückwärtsgewandtes haben, hängt damit zusammen. Interessant ist ja gerade,
       dass ihr literaturreligiöser Rahmenversuch in eine Zeit fällt, in der man
       bei den zeitgenössischsten Büchern gar nicht so genau weiß, ob sie nun
       Literatur sind oder autobiografische Selbsterkundungen oder was sonst.
       
       Den Begriff der Erlösung lassen wir lieber gleich beiseite. Die
       zeitgenössischen Konflikte – die sozialen und zwischenmenschlichen
       Konflikte, die psychologischen Konflikte innerhalb der einzelnen
       Protagonisten – ergeben sich doch gerade erst dadurch, dass die Menschen
       längst ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen (müssen); siehe etwa Karl
       Ove Knausgards Romanserie. Und statt auf Offenbarung zu warten, gehen die
       Bücher von Katja Petrowskaja, Per Leo und auch Sasa Stanisic gerade
       recherchierend den verschlungenen und oft auch rein zufälligen Pfaden der
       kulturellen Überlieferungen nach. Mir scheint: Die Füße der Literatur sind
       auch ohne kulturreligiöse Begriffe auf weiten Raum gestellt.
       
       Sibylle Lewitscharoff dagegen scheint in dieser Situation, in der man den
       Begriff der Literatur entzaubert und etwas tiefer gehängt hat, zumindest
       Phantomschmerzen nach kulturreligiösem Trost aufrechterhalten zu wollen.
       Ist es also eine Gretchenfrage, zu fragen, wie man es mit ihr literarisch
       hält? Wenn man einen Wunsch äußern dürfte, wäre es auf jeden Fall der
       danach, dass ihre Fans und Verehrer einmal explizit erklärten, wie viel
       literaturreligiöse Grundannahmen sie heimlich in ihren Lobgesängen auf
       diese Autorin transportieren.
       
       5 Apr 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dirk Knipphals
       
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