# taz.de -- Die Wahrheit: Der Wanderer und sein Grat
       
       > In der Politik und im Literaturbetrieb sind Gratwanderungen beliebt. Aber
       > kaum jemand kennt sich wirklich aus in dieser geheimnisvollen Bergwelt.
       
 (IMG) Bild: 2004 startete Rennfahrerin Jutta Kleinschmidt (r.) beim „Race across America“.
       
       Merkel und Steinmeier versuchen eine Gratwanderung in der Ukraine, meldeten
       die Nachrichten. In der Politik, in der Hochfinanz, im Literaturbetrieb –
       überall gibt es Grate, auf denen fleißig gewandert wird. Wenn man den
       Medien glaubt, dann wird dieser Sport immer populärer. Ich kann da nur
       warnen. Es handelt sich hier um eine höchst gefährliche Disziplin. Ich
       wandere selbst fortwährend auf einem sehr schmalen, steinigen Grat. Aber um
       mich brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, ich bin einer der letzten
       professionellen Gratwanderer.
       
       Von wo nach wo mein Grat verläuft? Das kann ich Ihnen im Moment gar nicht
       beantworten. Wissen Sie, dass ich schon so viele Jahre erfolgreich
       gratwandere, hat damit zu tun, dass ich mich voll und ganz auf den Grat an
       sich konzentriere, auf diesen wenige Zentimeter breiten Pfad. Ich schaue
       nicht zu Ihnen hinunter und auch nicht zur Seite. Die meisten Kollegen, die
       auf schmalen Graten zwischen zwischen Gut und Böse, zwischen Expansion und
       Pleite, zwischen West und Ost und zwischen Hochmut und Fall gewandert sind,
       die sind längst abgestürzt. Und todsicher immer auf die Seite von Böse,
       Pleite, Ost – oder eben Fall. Sagen wir einfach, ich wandere auf einem
       schmalen Grad zwischen den Extremen. Das akzeptiere ich. Als Extremsportler
       kann ich mit Extremen umgehen. Aber im Grunde geht es um den Grat selbst,
       der Weg ist das Ziel.
       
       Wo sonst sollte schon das Ziel liegen? Ein Ziel im Tal würde Abstieg
       bedeuten, und die Alternative wäre der Gipfel. Wir sind aber keine
       Gipfelstürmer, wir sind Gratwanderer. So ein Grat muss einen voll und ganz
       ausfüllen. Was wissen die Leute im Flachland schon von unseren Graten! Das
       drückt sich auch in ihrer fantasielosen Wortwahl aus. „Er wandert auf einem
       schmalen Grat“, sagen sie, oder „auf einem sehr schmalen Grat“, oder, wenn
       es hochkommt, „auf einem scharfen Grat“. Dass es Edelweißgrate gibt,
       Kalkstein- und Granitgrate, davon haben diese Leute doch noch nie etwas
       gehört.
       
       Als Gratwanderer muss man eben das Unverstandensein und die Einsamkeit
       aushalten können. Ich wandere ja grundsätzlich allein. Einer Gruppe von
       stolpernden, vor Angst schwitzenden Anfängern möchte ich nicht
       hinterherlaufen. Vorangehen möchte ich aber auch nicht. Hier oben braucht
       es keinen Dolchstoß – ein Klaps auf die Schulter, ein Puff in die Rippen,
       und schon haben Sie jemand zu Tal befördert. So werden Sie mich noch lange
       in luftiger Höhe auf dem Grat wandern sehen. Übrigens, es heißt „wandern“,
       nicht „wandeln“. „Er wandelt auf einem schmalen Grat zwischen Ernst und
       Satire“, solche Sprüche können mich aufregen.
       
       Wie lange ich das noch mache? Natürlich fragt man sich, welche
       Zukunftsperspektiven man als Gratwanderer hat, welche Herausforderungen es
       noch gibt. Ich würde es mir zum Beispiel reizvoll vorstellen, zwischen zwei
       Welten zu wandern. Aber wie schwer ist es heute, auch nur eine einzige Welt
       zu finden, in der es auszuhalten ist! Geschweige denn derer zwei. Dafür bin
       ich schon zu lange hier oben.
       
       24 Apr 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Rupprecht Mayer
       
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