# taz.de -- 10 Jahre EU-Osterweiterung: Polen hat nicht verloren
       
       > Früher Straßenhandel, heute Einkaufszentrum: Nur noch wenige Polen
       > bezweifeln, dass die EU-Mitgliedschaft von Vorteil ist. Gefeiert wird mit
       > den Beatles.
       
 (IMG) Bild: Graue Städte erstrahlen in frischen Farben: Straßenszene in Warschau.
       
       WARSCHAU taz | Einen Abend lang rätselten die Polen über ein seltsames
       Video auf der Internetseite ihrer Regierung: „Hey Jude, don’t make it bad“,
       singt Premier Donald Tusk gut gelaunt den berühmten Beatlessong. „Take a
       sad song and make it better!“ Dann lacht er jungenhaft, als wollte er
       sagen: „Sicher sind da ein paar falsche Töne dabei – aber ich bin ja auch
       nicht Paul McCartney.“
       
       Am nächsten Tag klärte sich alles auf: Tusk stellte den offiziellen
       Regierungs-Spot zum Jahrestag „Polen 10 Jahre in der EU“ vor – unterlegt
       mit dem Beatles-Original. „Am 1. Mai sehen wir auf zehn nicht immer leichte
       Jahre zurück“, sagt dazu der Premier, „aber heute können wir sagen, dass
       dies gute Jahre für Polen waren. Wir dürfen mit Recht stolz auf uns sein.“
       
       Die Kritik ließ nicht lange auf sich warten: Mit umgerechnet 2,5 Millionen
       Euro Produktions- und Ausstrahlungskosten sei der Spot zu teuer, hieß es.
       Zudem würden die neuen Straßen und Brücken, die modernen Sportstadien, das
       wogende Gerstenfeld und die blinkende Freilicht-Bühne mit PaulMcCartney und
       den zehntausend begeisterten Polen vor allem Werbung für Tusks
       liberalkonservative Bürgerplattform machen – und nicht für den Beitritt zur
       Union.
       
       Dabei kommt im Spot kein einziger Regierungspolitiker vor, auch der Premier
       nicht. Und mittlerweile ist die Kritik auch verstummt – und „Hej Jude“ zum
       nationalen Ohrwurm geworden. Egal, wohin man in Polen kommt: irgendwer
       summt immer „Make it better, better, better, better.“
       
       ## Aus Schlaglochpisten wurden Schnellstraßen
       
       2004 war Polen die größte Volkswirtschaft unter den zehn Beitrittsländern.
       Während Arbeitnehmer in den bisherigen EU-Mitgliedsstaaten fürchteten, dass
       Millionen Arbeitssuchende aus dem Osten ihnen die Jobs wegnehmen könnten,
       fürchteten die Polen, dass reiche Kapitalisten aus dem Westen sich billig
       Grund und Boden unter den Nagel reißen könnten.
       
       Man vereinbarte lange Übergangsfristen. Dennoch stand das Referendum zum
       EU-Beitritt lange auf Messers Schneide. Der Erfolg ließ alle aufatmen:
       Knapp 60 Prozent der Stimmberechtigten nahmen an der Abstimmung an teil, so
       viele wie noch nie wie seit dem Zusammenbruch des Kommunismus 1989. Und die
       überwältigende Mehrheit sprach sich für den Beitritt aus. Skeptisch blieben
       nur die Bauern und die Bewohner Ostpolens.
       
       Zehn Jahre später ist klar: Polen ist der große Gewinner der
       EU-Erweiterung. Der Fernsehspot mit dem Beatles-Song führt den Bürgern
       eindrücklich vor Augen, was sich alles geändert hat: Die einst grauen
       Städte und Dörfer erstrahlen in frischen Farben, aus Schlaglochpisten
       wurden Schnellstraßen und Autobahnen. Der Straßenhandel hat sich in
       Einkaufszentren verlagert. Große Sport-Events und Open-Air-Konzerte
       begeistern Jung und Alt – und ziehen mehr und mehr Touristen ins Land. Die
       Arbeitslosigkeit ist von 20 auf 13 Prozent gesunken, in den Großstädten
       sogar auf 5 bis 7 Prozent. Und auch Polens Bauern profitieren von den
       Direktbeihilfen aus Brüssel.
       
       ## 90 Prozent Zustimmung
       
       Von der EU-Skepsis ist kaum etwas geblieben. Dabei hat es in den letzten
       zehn Jahren aber auch immer wieder Rückschläge gegeben. Und auch
       verstörende Debatten über das tradierte Selbstbild der Polen als ewige
       Helden und Opfer der Geschichte. Am deren Ende aber stand der Abschied vom
       romantischen Selbstbild eines „Christus der Nationen“, der nach der
       Wiedererlangung der Freiheit auch den anderen unterdrückten Staaten die
       Freiheit bringen wird.
       
       Dieses Kapitel scheint endgültig abgeschlossen. Die neuste Umfrage des
       Meinungsforschungsinstituts CBOS weist einen neuen Rekordwert aus: Knapp 90
       Prozent der Befragten bewerten die EU-Mitgliedschaft Polens positiv –
       unabhängig von Alter und sozialer Stellung. Relativ niedrig ist die
       Zustimmung lediglich bei den ältesten und den jüngsten Befragten.
       
       Die CBOS-Analysten führen die hohe Zustimmungsrate vor allem auf die
       aktuelle Lage in der Ukraine zurück. Viele Polen vergleichen die eigene
       Situation, die wirtschaftliche Entwicklung und die politische Position
       ihres Landes in der Welt mit dem Nachbarstaat. War man 2004 nicht von einer
       ähnlichen Position aus gestartet? Die Polen mit zusammengebissenen Zähnen,
       aufgekrempelten Ärmeln und dem, unbedingten Willen zum Erfolg? Die Ukrainer
       hingegen sichtlich überfordert von den schmerzhaften Strukturreformen, die
       die Transformation vom Staatssozialismus zu Marktwirtschaft und Demokratie
       jedem einzelnen abverlangte?
       
       ## 60 Milliarden Euro Beihilfe aus Brüssel
       
       Fast alle Polen sind sich einig: Ohne die insgesamt über 60 Milliarden Euro
       Beihilfen aus Brüssel sähe ihr Land heute anders aus. Auch dank der
       politischen und institutionellen Unterstützung aus Europa konnte Polen sich
       wirtschaftlich und politisch stabilisieren.
       
       Bei den letzten Wahlen schaffte es Premier Tusk mit seiner
       liberalkonservativen Bürgerplattform, erneut als stärkste Kraft ins
       Parlament gewählt zu werden und dann auch die Regierung zu stellen. Das
       erlaubte es polnischen Politikern, sich auch auf dem internationalen
       Parkett einen Namen zu machen.
       
       Heute ist Polen ein allseits hoch geschätztes Mitglied in europäischen und
       internationalen Organisationen. Dabei ist den meisten Polen durchaus klar,
       dass noch immer einige wichtige Aufgaben vor ihnen liegen. Einer Lösung
       harren bislang die nach wie vor verbreitete Armut und die ungenügende
       Versorgung von Kranken und Behinderten.
       
       Polen muss sich neu als moderne Gesellschaft erfinden. Dieser Prozess läuft
       bereits seit einigen Jahren und führt bisweilen zu erbitterten politischen
       Auseinandersetzungen. Es ist eben nicht ganz einfach, mit der neuen Rolle
       des erfolgreichen Newcomers im Club der Reichen gelassen umzugehen.
       
       Der Beatles-Song „Hey, Jude“, der die Bilder der Transformation von einer
       sozialistischen Agrargesellschaft zu einer pluralistisch-offenen
       Zivilgesellschaft musikalisch symbolisiert, zeigt schon dieses neue
       Selbstbewusstsein. Keine polnische Folkloregruppe, sondern ein britischer
       Welthit symbolisiert Polens Wiederaufstieg zu den tonangebenden
       europäischen Demokratien.
       
       30 Apr 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gabriele Lesser
       
       ## TAGS
       
 (DIR) EU-Osterweiterung
 (DIR) Ruprecht Polenz
 (DIR) Donald Tusk
 (DIR) EU
 (DIR) Polen
 (DIR) Europäische Union
 (DIR) Tataren
 (DIR) EU
 (DIR) Papst
 (DIR) Energie
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Abhöraffäre in Polen: Premier schließt Neuwahl nicht aus
       
       Donald Tusk spricht von einer Vertrauenskrise: Die Presse lauschte beim
       Gespräch des Innenministers mit dem Notenbankchef. Das Gesagte hat es in
       sich.
       
 (DIR) Mittelpunkt der EU: Die Mitte ist am Arsch der Welt
       
       Es gibt Leben in Westerngrund, man muss es nur suchen. Die unterfränkische
       Gemeinde ist seit 2014 der geografische Mittelpunkt der EU.
       
 (DIR) Tataren in Polen: Im polnischen Orient
       
       Ihr Arabisch hat einen polnischen Akzent, das geben sie gern zu. Doch die
       5.000 Tataren im christlichen Polen sind stolze Muslime.
       
 (DIR) 10 Jahre EU-Osterweiterung: Erfolg mit Macken
       
       Zehn Jahre nach der bisher größten EU-Erweiterung fällt die Bilanz gemischt
       aus. Die Europäische Union ist heute ärmer denn je – aber auch attraktiver.
       
 (DIR) Katholizismus in Polen: Der Papst der Freiheit
       
       Polens Katholiken feiern die Heiligsprechung „ihres Papstes“ Johannes Paul
       II. – doch der Einfluss der katholischen Kirche im Land schwindet.
       
 (DIR) Vorstoß von Premier Donald Tusk: Polen fordert Energieunion
       
       Die Abhängigkeit von Moskau soll sinken – doch die EU-Mitglieder sind viel
       zu zerstritten. So wird Polen wegen seiner Kohlepolitik vielfach kritisiert