# taz.de -- Urteile gegen Neonazis in Magdeburg: Eine „menschenverachtende Tat“
       
       > Im September 2013 wurde in Bernburg ein türkischer Imbissbesitzer fast
       > tot geschlagen. Vier Täter müssen nun in den Knast. Rassistisch war ihr
       > Angriff laut Urteil nicht.
       
 (IMG) Bild: Zwei der Angeklagten im Bernburg-Prozess vor dem Magdeburger Gericht
       
       MAGDEBURG taz | Abdurrahman E. setzt sich in die erste Zuhörerreihe des
       Saals A23 im Landgericht Magdeburg. Er trägt eine schwarze Lederjacke, die
       Locken gegelt. Als Richter Dirk Sternberg sein Urteil spricht, zeigt der
       kräftige Mann keine Regung. Nicht, als Sternburg die vier Haftstrafen und
       fünf Freisprüche verkündet. Nicht, als der Richter erklärt, ein politisches
       Motiv der Tat „sei nicht mit der erforderlichen Sicherheit festgestellt
       worden“. Dass der Freitagvormittag, das Urteil im Saal A23, ein
       Schlusspunkt seiner Leidensgeschichte sein könnte, hatte auch Abdurrahman
       E. nicht geglaubt. Zumindest aber eine Art Linderung.
       
       Es kommt anders. Seit Mitte Februar wurde in Magdeburg über den Abend
       verhandelt, der Abdurrahman E. aus dem Leben warf. Im letzten September war
       eine Clique in Bernburg, einer Stadt mit 35.000 Einwohnern südlich von
       Magdeburg, vor den Bahnhofsimbiss „Alibaba“ gezogen. Die Männer feierten
       Junggesellenabschied, trugen einen Bierkasten bei sich.
       
       Was folgte, schilderte die Freundin von Abdurrahman E. Anfang März im
       Prozess. Sie habe den Imbiss schließen wollen, sagt Anne S., eine
       27-Jährige mit schwarz-violett gefärbten Haaren. Sie knetet einen kleinen
       gelben Teddy dabei. Einer aus der Männergruppe habe sie als „Fotze“ und
       „Türkenschlampe“ angeblafft. Abdurrahman E. habe den Pöbler am Arm gefasst
       und gesagt, so rede man nicht mit einer Frau.
       
       Dann sei alles eskaliert. „Fass mich nicht an, du Scheißvieh!“, habe der
       Angreifer gerufen und ihrem Freund aus nächster Nähe eine Bierflasche ins
       Gesicht geschleudert. Dann sei die ganze Gruppe auf ihren Freund gestürzt,
       habe auf ihn eingeschlagen, ihn als „Scheißtürken“ angeschrien. Auch sie
       und ein herbeieilender Imbissgast seien getreten worden, berichtet Anne S.
       
       Auf Abdurrahman E. hätten die Neun noch „gestampft“, als dieser längst
       bewusstlos am Boden lag. „Am Ende hat er nur noch gezuckt, sein Kopf war
       ein Matsch“, sagt Anne S. Sie stockt und weint. „Ich dachte, er ist tot.“
       Die Angreifer aber nahmen ihren Bierkasten und zogen weiter. Anne S. wird
       sie später, nach deren Verhaftung, auf der Bernburger Polizeiwache
       wiedersehen. „Es hörte sich an“, sagt S., „als feierten sie noch“. Richter
       Dirk Sternberg spricht am Freitag von einer „brutalen, menschenverachtenden
       Tat“.
       
       ## „Nur noch Nebel“
       
       „Wer mit solcher Wucht auf einen wehrlos am Boden Liegenden eintritt, der
       nimmt auch dessen Tod billigend in Kauf.“ Im Krankenhaus stellten die Ärzte
       bei Abdurrahman E. eine eingetreten Schädeldecke und gebrochene
       Gesichtsknochen fest. Eine Notoperation rettet sein Leben. Zwei Wochen
       liegt der 34-Jährige im künstlichen Koma. An die Tat kann er sich heute
       nicht mehr erinnern. Da sei „nur noch Nebel“.
       
       Seine Schläfe halten Titanplatten zusammen, sie ist bis heute eingedrückt.
       Die neun Männer, die dafür verantwortlich sind, weichen im Saal A23 E.s
       Blicken aus. Kurzhaarige allesamt, 24 bis 33 Jahre alt, einige bullig, mit
       Kinnbärten und tätowierten Hälsen. Die Richter verlesen ihre Werdegänge:
       kaputte Elternhäuser, sitzengebleiben, arbeitslos, in der rechten Szene
       unterwegs. Fünf der neun werden zu jedem Prozesstag in Handschellen in den
       Saal geführt, sie sitzen bereits in Haft.
       
       Vorbestraft sind fast alle: Schlägereien, Nötigung, Volksverhetzung. Und
       nun Bernburg. Der Fall sorgte für Entsetzen. Als Abdurrahman E. noch im
       Koma lag, demonstrierten vor seinem Imbiss knapp 100 Bernburger gegen
       Rassismus. 737 Fälle rechter Gewalt zählten Opferberatungen im letzten Jahr
       in Ostdeutschland und Berlin – 116 davon in Sachsen-Anhalt.
       
       Übergriffe gab es auch im Westdeutschland: Dort allerdings fehlen die
       Netzwerke, die dies systematisch dokumentieren. Der Fall Bernburg zeige,
       sagte damals Kenan Kolat, Vorsitzender der Türkischen Gemeinde Deutschland,
       „die potenziell tödliche Dimension rassistischer Gewalt, mit der wir es Tag
       für Tag zu tun haben, auch nach dem NSU“.
       
       Es sei wichtig, dieses Motiv vor Gericht „angemessen zu würdigen“. Hier
       aber zeigt der Fall Bernburg ein zweites: Wie schwer sich Teile der Justiz
       weiter damit tun, mit rechter Gewalt umzugehen. Die Staatsanwaltschaft
       wertete den Angriff in ihrer Anklage als versuchten Totschlag, nicht als
       versuchten Mord. Für Letzteres fehle das nötige, niedere Tatmotiv:
       Rassismus etwa.
       
       ## Einsilbige Staatsanwaltschaft
       
       Tatbestimmend, so die Anklage, sei der Streit um die Freundin gewesen. Im
       Prozess stellen die beiden Staatsanwältinnen nur wenige Fragen. Warum sie
       der Polizei erst später von den fremdenfeindlichen Beleidigungen erzählt
       habe, fragen sie Anne S. Ob der Döner-Laden denn als solcher zu erkennen
       gewesen sei? Ihr Zweifel bleibt. Dass auf der Anklagebank Neonazis sitzen,
       steht auch für das Gericht außer Frage.
       
       Ein Angeklagter spaziert mit Thor Steinar-Mütze in den Saal. Einige der
       Männer sind frühere Kameradschaftsmitglieder, ihre Tattoos zeigen Runen,
       Wehrmachtssoldaten sowie ein Hakenkreuz. Einer, Francesco L., erregte schon
       einmal größere Aufmerksamkeit. 2006 malträtierte er in Pömmelte
       (Sachsen-Anhalt) mit zwei Freunden stundenlang einen 12-jährigen
       Deutschäthiopier wegen dessen Hautfarbe.
       
       Im Gericht wird die Tat nochmals verlesen: Wie das Trio den Jungen mit
       einer Gaspistole bedrohte, seinen Kopf auf eine Bank schlug, auf ihn
       urinierte, ihm eine Zigarette auf einem Augenlid ausdrückte. Auf Fragen
       musste der Junge „jawohl, mein Führer“ antworten. Im Prozess verweigert
       Francescso L. die Aussage. Wie fast alle anderen auch.
       
       Teilnahmslos blättern sie in Aktenordnern, strecken sich, grüßen ebenfalls
       kurzgeschorene Freunde im Publikum. Wenn Zeugen sprechen, schütteln einige
       den Kopf, ziehen verächtlich die Augenbrauen hoch. Ihre Verteidiger fordern
       Freispruch, allenfalls eine Verurteilung wegen Körperverletzung. Es sei ja
       alles ganz anders gewesen: Abdurrahman E. habe die Gruppe mit einem
       Dönermesser bedroht. Die Gewalt der neun: nur Notwehr.
       
       „Eine reine Schutzbehauptung“, sagt Sönke Hilbrans, Anwalt von Abdurrahman
       E. Am Tatort sei nirgends ein Messer gefunden worden. Auch E. hatte dies
       bestritten. „Die Angeklagten schlugen zu“, sagt Hilbrans, „weil mein
       Mandant als Ausländer wahrgenommen wurde.“
       
       ## Versuchter Totschlag
       
       Er beantragt eine Verurteilung wegen versuchten Mordes. Auch die
       Staatsanwältinnen fordern am Ende hohe Haftstrafen: bis zu neun Jahre und
       zwei Monate. Sie aber bleiben dabei: Es war versuchter Totschlag. Dem folgt
       auch Richter Sternburg. Dass auf der Anklagebank Neonazis sitzen sei
       „relativ eindeutig“. Deren Tat aber sei spontan gewesen. Auch sei nicht
       auszuschließen, dass Abdurrahman E. nach einer ersten Beleidigung
       tatsächlich mit einem Gegenstand gedroht habe.
       
       „Ausländerhass“ sei daher „nicht das tragende Motiv gewesen“. Sternburg
       verurteilt vier Angeklagte zu Haftstrafen zwischen fünf Jahren und acht
       Jahren und zwei Monate. Die restlichen fünf Männer kommen frei: Ihnen seien
       konkrete Tritte und Schläge nicht zweifelsfrei nachzuweisen.
       
       „Unverständlich und enttäuschend“ sei das Urteil, sagt Anwalt Hilbrans.
       Antje Arndt von der Mobilen Opferberatung spricht von „einem doppelten
       Schlag ins Gesicht der Opfer“. Sie sagt: „Das Gericht hat ihnen nicht
       geglaubt und ein rassistisches Motiv negiert.“ Man könne in Revision gehen,
       aber das würde teuer. Abdurrahman E. ist seit der Tat arbeitslos, den
       Imbiss hat er aufgegeben.
       
       Auf einem Auge hat er durch die Attacke Teile seiner Sehkraft verloren, er
       leidet unter Gedächtnisverlust und Kopfschmerzen. All das also bloß das
       Ergebnis einer ausgearteten Schlägerei? An einem Abend, an dem er nur
       seinen Laden schließen und mit Freunden nach Berlin fahren wollte?
       Abdurrahman E. versteht das Urteil nicht. Wortlos verlässt er mit seiner
       Freundin den Saal. Es ist kein guter Tag, wieder nicht.
       
       2 May 2014
       
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 (DIR) Konrad Litschko
       
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