# taz.de -- Gewerkschafter über den Grubenunfall: „Die sind 40 Jahre hinterher“
       
       > Tote gehörten zum Bergbau dazu – diese Auffassung herrsche in der Türkei
       > noch immer, sagt Gewerkschafter Ralf Bartels. Doch sie sei falsch.
       
 (IMG) Bild: Als die Kumpel europäische Standards verlangten, wurden sie ausgelacht.
       
       taz: Herr Bartels, wäre das Grubenunglück in Soma mit rund 300 Toten
       passiert, wenn die Türkei in der EU wäre? 
       
       Ralf Bartels: Die Zugehörigkeit zur EU befördert den Fortschritt in der
       Arbeitssicherheit, so viel steht fest. Ein Beitritt zur EU würde die Türkei
       zwingen, anständig zu prüfen, ob Gesetze eingehalten werden. Immerhin hat
       die Türkei am 30. Dezember 2012 die einschlägige EU-Richtlinie 89/391 „zur
       Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer
       bei der Arbeit“ übernommen.
       
       Und was passierte dann? 
       
       Offenbar nicht viel. Die ganze Türkei beschäftigt zur Überwachung des
       Arbeitsschutzes 1.500 Inspektoren. In Deutschland haben wir mindestens das
       Zehn- bis Zwanzigfache.
       
       Türkei und EU unterscheidet nur die Zahl der Inspektoren? 
       
       Nein. Es gab aus Soma längst Beschwerden der Gewerkschaften, die von der
       Opposition vor zwei Wochen im türkischen Parlament vehement vorgetragen
       wurden – ohne Reaktion. Das wäre so in der EU kaum vorstellbar. In der
       Türkei herrscht das Bewusstsein, dass es ohne Tote im Bergbau nicht geht.
       Damit ist man dort auf dem Stand, den wir in Deutschland bis Anfang der
       1970er Jahre hatten. Dieses Bewusstsein ist falsch in jedem Sinne. Menschen
       müssen nicht im Bergbau sterben, und mehr Sicherheit verbessert sogar die
       Produktivität. Das haben wir seit den 1980er Jahren bewiesen. Auch Polen,
       das in der EU nun den größten Steinkohlebergbau betreibt, weiß das.
       
       Warum spricht sich das nicht bei türkischen Bergbauunternehmern herum? 
       
       Vorletzte Woche gab es in der Türkei eine Tagung über Sicherheit im Bergbau
       auch mit deutschen IG-BCE-Experten. Die erzählten: Als die türkischen
       Kollegen europäische Standards verlangten, seien sie von den Unternehmern
       ausgelacht worden. Ausgelacht! Ich war in Zonguldak, wo 1992 das bisher
       schwerste Grubenunglück der Türkei mit 263 Toten passierte. Dort sind auf
       einer Marmortafel die Namen der Toten eingemeißelt wie bei
       Kriegerdenkmälern. Man behandelt diese Toten wie Gefallene. Die Idee: „Es
       gehört dazu, dass man stirbt.“ Das ist so falsch.
       
       Welche Erfindung hat hierzulande die Sicherheit unter Tage entscheidend
       verbessert? 
       
       Das war eher ein Kontinuum. Das Unglück von Lengede 1963 mit 29 Toten und
       andere Katastrophen haben aber jedes Mal große Energien zur Verbesserung
       freigesetzt: Sensoren, die immer geringere Mengen Gas erspürten, besonderer
       Brand- und Explosionsschutz. In Soma haben wir es laut Medienberichten mit
       einem in Brand geratenen Trafo zu tun. Auch Methanexplosionen haben die
       dort am laufenden Band, zuletzt im Januar 2013 mit acht Toten in Kozlu.
       Lektionen werden nicht gelernt.
       
       In Deutschland gibt es von über 180 Steinkohlezechen 1955 heute nur noch
       drei, und die sind 2018 am Ende. Da haben die feinen deutschen
       Bergbauingenieure gut reden, wird man nun in der Türkei sagen. 
       
       Kann schon sein. Das beweist nur, welchen Anpassungsprozess wir hinter uns
       haben: Der Steinkohleabbau ging Jahr für Jahr weiter unter die Erde, der
       Schacht in Ibbenbüren hinter Münster geht fast 1.600 Meter tief. Unter
       diesem Druck, bei schwindenden Subventionen immer tiefer zu graben, wurde
       die deutsche Produktivität die höchste der Welt. Die RAG Mining Solutions
       berät Unternehmen auf der ganzen Welt. Unsere Expertise ist etwas wert.
       
       Und was wird die IG BCE nun für die türkischen Kumpel tun? 
       
       Die IG BCE hat heute auf dem DGB-Bundeskongress beschlossen, nach dem
       Vorbild der Adolf-Schmitt-Stiftung hinterbliebene Kinder der getöteten
       Bergleute zu unterstützen, und hat ein Spendenkonto eingerichtet. Vor zwei
       Jahren haben die europäischen Industriegewerkschaften den Verband
       IndustriALL gegründet. Den Vorsitz hat derzeit Michael Vassiliadis, der
       auch Chef meiner Gewerkschaft ist. Wir werden jetzt den Arbeitsschutz-Kampf
       der türkischen Kollegen fachlich unterstützen. Und für diese muss nun
       gelten: keine Sicherheit, keine Arbeit.
       
       16 May 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ulrike Winkelmann
       
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